Es sollte in unserem Gespräch dabei vor allem um die Position und die Zukunft des Autoren in der narrativen Transmedialität gehen. Was passieren könnte, ist, dass wir nun, wenn sich klare Identität und Individualismus durch den Gebrauch von nichtlinearen Erzählmedien auflösen, wir weniger resilient, also weniger widerstandsfähig werden, als wir das mit einfachen, linearen Identitätsentwürfen und klaren bipolaren Weltentwürfen wären wie beispielsweise hier die Arbeiterklasse, da die Kapitalisten. Wenn wir nicht genau wissen, wer wir sind, können wir auch Unrecht, das uns getan wird, weniger präzise wahrnehmen und uns weniger gut wehren. Das spielt in Zeiten des Neoliberalismus eine essentielle Rolle, weil es es den Finanzeliten erleichtert, die gesellschaftlichen Weichen so zu stellen, wie es ihnen zum Vorteil gereicht. Wir sehen das an so etwas wie der Agenda 2010, die nur die deutsche Fortsetzung dessen war, was vorher an Neoliberalisierung im Sinne Milton Friedmans in den USA und später in Großbritannien unter Thatcher geschehen ist. So etwas wäre in einer klareren Welt mit klareren Linien, also auch ideologischen Frontlinien, sehr viel schwerer möglich gewesen. Insofern spielen nonlineare Medien und nonlineares Erzählen, in denen keine eindeutigen Weltentwürfe mehr vermittelt werden, der herrschenden Wirtschaftsform in die Hände. Andererseits: Interdependenz und Verbundenheit der Erzähleinheiten … - Bücher und Filme werden mehr aus freien, sich lose verbindenden Erzähleinheiten bestehen denn aus geschlossenen Geschichten mit übergeordneter Dramaturgie. - Es wird andere Ordnungsprinzipien geben, wie etwa die einheitliche Länge von Erzähleinheiten, die Rhythmik und Tonalität – eine Reihe von Ordnungsprinzipien, die wir in ihrer Gesamtheit ‚Gestaltzusammmenhangʼ nennen können. - Dazu gehört auch, dass die innere Bindung der Geschichten nicht durch die Handlung hergestellt wird, sondern bspw. durch die Wiederholung sprachlicher und inhaltlicher Formeln. - Diese Geschichten sind nicht an Ort und Zeit und den Ablauf einer Handlung gebunden, und man wird sich in ihnen über Assoziationsketten frei durch Raum und Zeit bewegen. - Diese Geschichten werden sozusagen zum Leben hin offen sein statt in sich abgeschlossen, und letztlich wird man sie nicht (ganz) lesen oder anschauen müssen. Dies nicht, weil sie nicht so gut wären wie heutigen klassische Geschichten, sondern weil das, womit sie das Leben anreichern, sehr viel schneller und direkter erfassbar ist als das heute der Fall ist (Beispiel David Markson ‚This is not a novel’). - Diese Geschichten stehen in einem derartigen untersuchenden und deskriptiven Verhältnis zur ‚Welt’, dass es keinen Unterschied macht, ob ich darin lese/sie anschaue oder aufschaue. Sie schulen uns als Rezipienten für eine genauere und komplexere Betrachtung der Wirklichkeit, als wir es heute gewohnt sind. - Im Zuge dieser Entwicklung wird sich unser Selbstbild als Lebewesen, unser Weltbild und unser Zeitverständnis verändern. „Wir sind Geschichten, die Geschichten erzählen“, wie der portugiesische Dichter Fernando Pessoa sagte, und das bedeutet, dass wir uns die Struktur der Geschichten, die wir erzählen und erzählt bekommen, als Blaupause zur Bildung unserer eigenen Struktur, also unserer Identität, unseres Weltbildes und unseres Zeitbegriffs verwenden. Im Augenblick ist es so, dass wir uns aufgrund der Geschichten, die wir erzählen, als von unserer Umwelt isolierte, in Konflikten befindliche, vom rasenden Verflug der Zeit betroffene Wesen empfinden (Countdown, Arena, Effizienz, Metaphysik). Das wird sich ändern, wir werden uns mehr und mehr nicht mehr als isolierte, sondern als auf vielfältige Weise mit unserer natürlichen und kulturellen und sozialen Umwelt Wesen empfinden, soweit, dass wir uns eventuell sogar wieder mehr als Gruppen denn als Individuen wahrnehmen werden. Wir werden uns in Anlehnung an die freien Erzähleinheiten der Erzählung der Zukunft als freie, assoziative und komplementäre Wesen empfinden (interdependent wie in Ökosystemen statt isoliert wie in der Moderne). Wir werden Konflikt und Wettbewerb als Problemlösungsmittel weniger hoch achten, und wir werden die Zeit nicht mehr als rasend empfinden, sondern tendenziell als etwas Statisches, in dem wir uns in alle Richtungen bewegen können. Erzählen ist immer ein Stück weit Gewaltanwendung, indem uns Erzählungen packen, fesseln, mitreißen und dergleichen mehr. Diese Art der „Unterhaltungsgewalt“ wird weniger werden und ersetzt werden durch freiere Erzählformen, in denen der Rezipient zum Konzipient wird und die Erzählung mit anordnet, indem er zum Beispiel ganz konkret die physische Gestalt der Erzählung, das physische Arrangement der Erzähleinheiten mit beeinflusst. (Mafi.tv) Eine Masterstory wird es dann nicht mehr geben. Wenn Interdependenz über Isolation gestellt werden wird und Komplexität über Reduktionismus, dann wird sich auch unser Sprachgebrauch sukzessive ändern, man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass die Menschen einmal statt von Standpunkten von Standfeldern oder Standräumen sprechen werden (Hannah Kunrath). Zur Figur des Autors: Erzähler kommunizieren neben ihrem zeitgenössischen Publikum vor allem mit dem unbekannten Freund in der Zukunft und nehmen dabei teil an dem Projekt, in dem der Mensch seine Existenz auf diesem Planeten beschreibt. Es ist dieses ein Projekt, das die heutigen Erzähler und die von morgen über Tausende, ja Zehntausende von Jahren hinweg mit den Erzählern der Vergangenheit verbindet. Dieses Projekt hat etwas durchaus Wissenschaftliches, die Menschheit beobachtet und beschreibt sich hier selbst. Die Erzählung ist gleichsam die Großhirnrinde der Menschheit. Dieser wissenschaftliche, bestandsaufnehmende Aspekt des Erzählens wird stärker werden (Mafi.tv). Gleichzeitig wird das, was wir heute als Unterhaltung kennen, wegen seines Reduktionismus und seiner Unterkomplexität an Bedeutung verlieren. Warum sich die Dinge ändern? Weil neue technische Medien immer die Strukturen unserer Geschichten verändern. Wir haben im industriellen Zeitalter erlebt, wie sich die 2000 Jahre alte aristotelische Erzähllehre (Aristoteles 384 bis 322 v.Chr.) in Verbindung mit analogen Maschinen und Geräten wie der Kamera, der Filmrolle und dem Projektor in Hollywood perfektioniert hat. Die Filmrolle zwang den Erzähler, eine richtige Reihenfolge festzulegen – eine Notwendigkeit, die im Drama beispielsweise ideell, aber nicht technisch besteht. Im Buch ist es so, dass die Bindung zu einer bestimmten Reihenfolge der unbeschriebenen Blätter zwingt. Man könnte nun die Seiten willkürlich nummerieren, die 1 in die Mitte verlegen, die 152 an den Anfang, die 80 ans Ende usw. Man hat sich aber aufgrund der Gewöhnung an die Linearität der geschriebenen und in Buchstaben organisierten Sprache und der folgerichtigen Zahlenreihe 1, 2, 3 usw. für eine ebenso folgerichtige Abfolge der Erzählung auf folgerichtig abfolgenden Seiten entschieden. So ist die Folgerichtigkeit, die zunächst eine rein technische Angelegenheit ist, als dominantes zugrunde liegendes Muster in die Struktur der Erzählung übergegangen. Mit dem Computer als technischem Medium ändert sich dies. Der Computer fungiert als Bindung, bildlich gesprochen, die es ermöglicht, die Erzähleinheiten auf Karten zu schreiben, sie in die Luft zu werfen, wo sie hängen bleiben, ohne dass eine verloren geht, so dass man sich dann durch diese Wolke bewegen und die Erzähleinheiten in ihren vielfältigen Beziehungen zueinander lesen kann. Als Geschichten ohne Zentrum, passend zur Kultur ohne Zentrum (Rorty). Wahrhaftigkeit (wie sie zum Beispiel schon von Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert gefordert wird, der sagte, es kann gar nicht langweilig werden, wenn jemand ein präzises Zeugnis seiner Existenz ablegt) wird wichtiger werden als das Ausleben großliterarischer Phantasien. Und das wird speziell der deutschen Literatur sehr gut tun, die regelmäßig ihre besten Autorinnen und Autoren wie etwa die unerreicht aufrichtige frühe Silvia Szymanski vernichtet, in dem man sie drängt, die Romanform zu bedienen. Wird die Phantasie leiden? – Was ist Phantasie? Die Fähigkeit, uns in selbstgebaute, also ohne Computerhilfe, stattdessen mit Buchhilfe erzeugte virtuelle Räume zurückzuziehen. Ist es gesund, sich in virtuelle Räume zurückzuziehen? Eher nein. Rusticus, der Lehrer des römisches Kaisers Marc Aurel empfahl seinem Zögling, sich von der Poesie und der schönen Literatur fernzuhalten. Weil sie weich und schwach machen. Vielleicht ist es also gar kein Verlust, wenn kommende Generationen mehr in der Realität als in der Phantasie leben. Denn wir brauchen als Spezies dringend Menschen, die der Realität der multiplen globalen Klima-, Ressourcen- und Umweltkrise ins Auge sehen können. Wird nichtlineares Erzählen eines Tage auch kommerziell erfolgreich sein? – Das ist es schon heute. Computerspiele bringen heute schon größere Gewinne ein als Hollywoodfilme. Computerspiele sind nichts anderes als ‚Kunstwerke in Bewegung’, bei denen der Rezipient das physische Material der Erzählung mit arrangiert und damit zum Conzipient wird. Das ist eine narrative Position der Teilhabe, und was ist die politische Konsequenz? Eine neue politische Bewegung, die Piratenpartei. Keep in mind dass die Piratenpartei von Computernerds gegründet wurde. Hier haben wir den ganzen Zusammenhang in einer Nussschale vor uns.
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