Panorama-3-2016-Sicheheitsforschung-Lernen-aus-Bergunfällen

© Georg Sojer
„Seht! den Schirm erfasst der Wind,
und der Robert fliegt geschwind
durch die Luft, so hoch und weit.
Niemand hört ihn, wenn er schreit.“
Der fliegende Robert aus dem
„Struwwelpeter“ – lehrt er uns
den guten Umgang mit Stürmen?
reichsten Autounfälle des Jahres“ durch
den ADAC.
Doch „Lernen aus Unfällen“ ist leichter
gesagt als getan. Wer könnte zum Beispiel
behaupten, durch den „Struwwelpeter“
den richtigen Umgang mit Streichhölzern,
Fremden oder Wetterstürmen gelernt zu
haben? Um aus Schaden klug zu werden,
müssen sämtliche Fakten und Einfluss­
faktoren des Unfalls bekannt sein und un­
voreingenommen analysiert werden. Eine
schwierige Voraussetzung, wie wir noch
sehen werden.
Ein Fall für Ingenieure?
Lernen aus Bergunfällen?
Wieder nichts
gelernt!
Warum Unfallanalysen zur Optimierung der eigenen Handlungen in der Praxis
weit schwieriger sind als allgemein angenommen – das analysiert der Bergführer
und Unfallforscher Walter Würtl.
W
enn etwas einmal passiert,
ist es Zufall; wenn etwas
zweimal passiert, ist es eine
Frage; und wenn etwas drei­
mal passiert, ist es die Antwort!“, hat angeb­
lich der Schauspieler und Autorennfahrer
Paul Newman gesagt.
„Aus Unfällen lernen!“ ist dementspre­
chend eine häufig gehörte Aussage in Aus­
60
DAV
3/2016
bildungen zu riskanten Tätigkeiten. Im
Bergsport ist das Interesse an Unfällen be­
sonders hoch. So gibt etwa das Österreichi­
sche Kuratorium für Alpine Sicherheit eine
eigene Zeitschrift für Alpinunfälle und Al­
pinunfallstatistik heraus (analyse:berg).
Wahrscheinlich ist keine andere Sportart so
auf Unfälle fokussiert; vergebens sucht man
zum Beispiel die Herausgabe der „Lehr­
Relativ einfach ist das noch bei techni­
schen Fehlfunktionen, Material- oder
Konstruktionsfehlern. Wenn hier wirklich
(zumindest weitgehend) alle negativen
Fak­toren – auftretende Kräfte, Winkel des
Kraft­eintrags, Verschleiß des Materials,
genaue Verwendung … – in ihrem Wir­
kungszusammenhang bekannt sind, kön­
nen Ingenieure einfach klären, warum
beispielsweise ein Karabiner an einer Zwi­
schensicherung gebrochen oder ein Klet­
tersteigset bei relativ geringer Belastung
gerissen ist. Auch versteckte Gefahren
neuer Produkte werden so entlarvt, wie
etwa beim IQ-Haken, der ein schnelles Ein­
hängen des Seiles in die Umlenkung er­
möglichte – aber auch ein genauso leichtes,
ungewolltes Aushängen …
Werden durch die Unfallanalyse solche
Gefahrenquellen am Material entdeckt, kön­
nen sie durch Normung oder Empfehlungen
künftig verhindert und aktuell von den Her­
stellern mit Rückrufen behoben werden
(was leider nicht immer geschieht …).
Bergunfälle Sicherheitsforschung
Dies ist eine gemeinsame Verantwortung
von Ausrüstungsfirmen, alpinen Verbän­
den und sonstigen Organen des Konsumen­
tenschutzes. Individualbergsteiger können
aus solchen Unfällen, etwa durch Steig­
eisenbruch, wenig lernen – sie müssen (und
dürfen normalerweise) sich darauf verlas­
sen, dass die Hersteller „sichere Produkte“
machen und dabei Normen und Standards
einhalten. Grauzonen, etwa zum Umgang
mit Sigibolts oder Bohrhaken in Meeres­
nähe, werden trotzdem bleiben.
Ist Verhalten messbar?
Solche „technisch bedingten“ Unfälle
machen freilich nur einen sehr kleinen Teil
der alpinen Unfallstatistik aus; der Groß­
teil hat seine Ursachen zumeist im Verhal­
ten des bergsteigenden Individuums. Und
das ist ein Problem für die Unfallanalyse,
für die eben im Wesentlichen alle Faktoren
und Wechselwirkungen bekannt sein müs­
sen. In der Praxis sind diese aber so gut wie
nie komplett verfügbar – das beschränkt
Analysen auf die „harten Fakten“, die leicht
zugänglich und auch für Außenstehende
nachvollziehbar sind.
Wenn wir dann ein Muster hinter einem
Unfall zu erkennen glauben, urteilen wir
nicht selten mit „typisch“, als ob das Ver­
halten oder die Entscheidung mit hundert­
prozentiger Sicherheit in der Katastrophe
enden musste. Was ein Irrtum ist. Denn
die oft äußerst komplexe Fehlerkette oder
die fatale Fehlerkombination bleibt nicht
selten verborgen! Schließlich ist jeder Un­
fall anders; Verallgemeinerungen werden
der oft unterschiedlichen Unfalldynamik
nicht gerecht.
Kletterunfälle in der Halle beispielsweise
haben oft dasselbe Muster: Tubersicherung,
dünnes Seil, unerfahrener Sicherer, unvor­
hergesehener Sturz. Wenn aber alleine diese
vier Punkte ausreichen würden, gäbe es
jährlich zigtausende Abstürze in den Klet­
terhallen. Erst in der Detailanalyse werden
die Umstände des individuellen Unfalls
sichtbar. Ein Unfall ist immer nur der „worst
case“ am Ende einer Reihe von Handlungen,
Überlegungen, verdrängten Entscheidun­
gen oder unterlassenen Maßnahmen.
Ist man hinterher klüger?
„Ex post“, also aus dem Blickwinkel nach
einem Unfall, ist es relativ einfach, Ursa­
chen eines Unglücks zu benennen: Warn­
stufe 3, steiler Nordhang, tödliche Lawine.
Ob das tatsächlich zwingend kausal war,
ist nicht so einfach zu sagen. Die Entschei­
dung, den Hang zu fahren, könnte vor dem
Lawinenabgang noch nachvollziehbar ge­
wesen sein – dass sie in diesem Fall „falsch“
war, hat sich eben erst in der Retrospektive
herausgestellt.
Zeitungen, Radio und Fernsehen – oder
gar (a)soziale Netzwerke – sind dann schnell
mit Schuldzuweisungen und Vorverurtei­
lungen zur Stelle; unterschiedlich bemüht
um seriöse Information. Aus einer Bericht­
erstattung, die in erster Linie das Bedürfnis
nach Sensationen befriedigt, können fach­
lich versierte und interessierte Bergsportler
aber nichts lernen! Und für Laien bleibt nur
die bodenlos falsche Botschaft, dass Leute,
die sich freiwillig dem gefährlichen „Extrem­
sport“ Bergsteigen aussetzen, zwangsläufig
und zu Recht in dieser Gefahr umkommen
müssen.
Objektive Analysen müssen sich immer
in die Position der Betroffenen versetzen
und deren Handlungen aus dem Blickwinkel „vor dem Unfall“ betrachten – mit
möglichst allen situationsspezifischen
Umständen und gruppendynamischen
Beziehungen. Sind nicht sämtliche Infor­
mationen verfügbar, bleibt das Bild vom
Unfallgeschehen unvollständig und die Gül­
tigkeit der Unfallanalyse begrenzt. Denn
welcher Punkt letztlich den Ausschlag gab,
dass sich ein schöner Tag in den Bergen in
eine Katastrophe verwandelte, bleibt oft
verborgen.
Jedenfalls sollte man sich vor schnellen
Schlussfolgerungen hüten – und mit De­
mut akzeptieren, dass Alpinunfälle uns
manchmal die Grenzen unserer Einsicht
und Lernmöglichkeiten schmerzhaft vor
Augen führen.
Pech, Blackout oder Wissenslücke?
Eine weitere Einschränkung: Nicht aus
jedem Unfall kann man wirklich lernen. So
gibt es Fälle, wo man einfach sagen muss:
„Pech gehabt!“. Der Blitz aus heiterem Him­
mel, unerwarteter Steinschlag, der Um­
lenkhaken im ausbrechenden Felsblock …
Mit dem Restrisiko muss leben, wer sagt:
„Das ist es mir wert!“. Sich allerdings auf
Glück zu verlassen, wäre Hasardspiel.
Manche Unfälle sind alles andere als
komplex, so dass jeder einigermaßen ver­
nunftbegabte Mensch den eindeutigen Feh­
ler identifizieren und den schädlichen Aus­
gang vorhersehen kann. Beispielsweise
lenkten im vergangenen Jahr zwei Eisklette­
rer ihr Toprope-Seil über eine Reepschnur
um, die dann beim Ablassen durchschmolz
und riss. Ein absolutes Tabu, wie jeder weiß,
der einen Kurs absolviert oder einigerma­
ßen kompetente Freunde hat! Kann man
daraus lernen? Natürlich: sich gut ausbilden
zu lassen. Die betroffenen Kletterer waren
aber ausgebildet und auch sehr erfahren, es
kann sich also nur um einen „Blackout“ ge­
handelt haben. Und wer ehrlich ist, muss zu­
geben: Ein Aussetzer kann jedem passieren.
Wer mit diesem ehrlichen und bescheide­
nen Menschenbild unterwegs ist, wird zu­
mindest die Konsequenz ziehen, auf re­
dundante Methoden und externe Kontrol­
le wie den Partnercheck zu achten.
Wer lernt von wem?
Kann man dann überhaupt „aus Unfäl­
len schlauer werden“? Entwarnung: Es ist
möglich – allerdings für Einsteiger oft
schwieriger als für Könner. Denn selbst
wenn die Faktenlage von Unfällen mög­
lichst umfassend und objektiv erfasst ist,
braucht es oft tiefgehendes Verständnis,
um die Hintergründe wirklich nachvollzie­
DAV
3/2016
61
Illustration: Georg Sojer
sicherheitsforschung Bergunfälle
Unfälle im Netz
Wer versuchen möchte, doch etwas aus
Unfällen zu lernen, oder wer schlechte
eigene Erfahrungen anderen zugänglich
machen möchte, findet im Internet
Gelegenheiten dazu.
alpinesicherheit.ch
icefall-data.org
climbing.com -> News -> unbelayvable
hen zu können. Deshalb ist es primär die
Aufgabe von Ausbildungs- oder Experten­
teams, Unfälle zu analysieren oder wieder­
holte Unfallmuster in der Gesamtstatistik
zu finden. Daraus können sie Schlüsse für
Empfehlungen an „Endverbraucher“ ziehen
und falls nötig Ausbildungsinhalte oder
-schwerpunkte anpassen. Bei der Vermitt­
lung solcher Inhalte in Ausbildungskursen
können Unfallbeispiele dann als Verständ­
nishilfe dienen.
Betrachten wir das Beispiel: „Knoten im
Seilende.“ Allein in Österreichs Bergen ster­
ben jedes Jahr drei bis fünf Menschen, 10
bis 15 werden schwer verletzt, weil beim
Sichern oder Abseilen das Seilende über­
sehen wird. Die Abhilfe scheint leicht: „Seil­
ende abknoten!“.
Unfallkundlich gesehen wäre es aber
falsch zu behaupten, dass der fehlende Kno­
62
DAV
3/2016
ten im Seilende die kausale Ursache sei.
Vielleicht liegt ja eher ein Planungsfehler
vor, weil das Seil zu kurz war oder der etwas
versteckte Abseilstand übersehen wurde.
Damit es zum Absturz kam, musste zudem
auch noch Aufmerksamkeit fehlen oder eine
andere Störung im Spiel sein.
Ist die (Kletter-)Regel „Kein freies Seil­
ende“ also übertrieben? Tatsächlich kritisie­
ren manche Experten, dass Knoten im Seil­
ende sich am Fels verhängen können und
die Seilschaft dann blockiert ist. Hier kann
die Unfallanalyse helfen, die Diskussion auf
den Boden der Tatsachen zurückzuholen,
indem sie die negativen und positiven As­
pekte des Knotens im Seilende vergleicht.
Rund 30 Tote und 100 Schwerstverletzte
(mit bleibenden Schäden) in den letzten
zehn Jahren stehen hier einer Handvoll Rettungsaktionen ohne dramatische Fol­­gen
gegenüber. Es ist also klar, welches Grund­
muster die Unfallforscher den Berg­sportlern
empfehlen – was man dann tut, entscheidet
natürlich jeder eigenverantwortlich je nach
Situation.
Auch bei neuartigen Unfallmustern ha­
ben die Unsicherheitsforscher eine wichti­
ge Funktion als Sammler und Verbreiter
von Information. Wenn sie berichten, dass
jemand zum Seilabziehen ein Stück über
den Standplatz hinausgestiegen und dabei
gestolpert ist, dann durch Riss der Selbst­
sicherungs-Bandschlinge tödlich abstürz­
te, kann sich jeder denken: „Hoi, das habe
ich auch schon gemacht. Gut dass ich jetzt
weiß, wie gefährlich es ist.“
Die eigene Nase packen?
Ohnehin lernt man am besten aus eige­
nen Unfällen – vor allem wenn es hinrei­
chend schmerzhaft war! Aber auch aus
Beinaheunfällen (das Wumm-Geräusch
im Hang, der abendmüde Stolperer) kann
man nützliche Lehren ziehen. Denn wer
selber betroffen ist, vielleicht sogar in ver­
antwortlicher Position, kennt am besten
die Faktoren und Bedingungen, die sich
letztlich zum Unglück wendeten. Aus de­
ren Analyse können jene wertvollen Erfah­
rungen erwachsen, die uns kompetenter
werden lassen.
Dazu braucht es aber eine ehrliche und
selbstkritische Auseinandersetzung. Und
die ist alles andere als einfach. Nicht nur
weil manche Bergsportler geradezu syste­
matisch Glück mit Können verwechseln.
Sich einen Fehler einzugestehen, ist beson­
ders schwierig in einer Gesellschaft, die
Perfektion idealisiert.
„Aus Schaden klug“ zu werden, gelingt
am ehesten, wenn der Unfall tatsächlich ei­
nen persönlichen finanziellen, körperli­
chen oder „sozialen“ Schaden erzeugt hat.
Wenn der Schaden aber ausbleibt, können
wir getrost davon ausgehen, dass wir ihn
bei nächster Gelegenheit wiederholen. Aus
Fehlern lernen, deren Konsequenzen nicht
wirklich drastisch waren: Das ist eine
Kunst, die nur sehr wenige, äußerst reflek­
tierte Menschen beherrschen. Wer sie ler­
nen will, kann Hilfe bei guten Freunden
und fachlich versierten Kollegen suchen.
Etwa durch eine regelmäßige „Manöverkri­
tik“ nach jeder Tour, die auch „gerade noch
mal gutgegangene“ Schwächen und „kriti­
sche Situationen“ diskutiert – und vielleicht
sogar alternative Szenarien durchspielt,
nach denen man künftig handeln könnte.
Am schmerzlosesten lernt man aus frem­
den Fehlern; nachdrücklicher aus eigenen.
Dass Schäden aus eigenen Fehlern nicht
bleibend sein mögen, dass sie vielleicht so­
gar zum positiven Wendepunkt des eige­
nen Risikohandelns werden, wäre uns al­
len zu wünschen. Denn im Berg­sport, wo
der erste Fehler gleichzeitig der letzte sein
kann, haben wir nicht unendlich viele
Lernchancen!
–
Walter Würtl hat Alpinwissenschaften studiert, ist
Sachverständiger für Alpinunfälle und über 20 Jahre
Bergführer; Chefredakteur
von analyse:berg und Redakteur bei bergundsteigen.