TAXONOMIESIERUNGSSTRATEGIEN F¨UR

TAXONOMIESIERUNGSSTRATEGIEN FÜR SINNESMODALITÄTEN
(GRAUSIG VEREINFACHT)
SASCHA BENJAMIN FINK
Die folgenden Seiten sollen Ihnen helfen, eine grobe Karte zu entwickeln, in dem Sie die Positionen
der in unserem Seminar besprochenen Texte einordnen können. Diese Darstellung erhebt deswegen
keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und auch nicht auf unumstößliche Gültigkeit.
1. Motivationen und Grundfragen
Warum wollen wir überhaupt wissen, wie man Sinnesmodalitäten unterscheidet, kategorisiert, individuiert?
M1 Wir wollen wissen, welche Tiere Sinne besitzen, die unseren gleichen.
(Bspw: Riecht eine Motte mit ihren Fühlern?)
M2 Wir wollen wissen, welche Tiere Sinne besitzen, die sich von unseren unterscheiden.
(Bspw: Haben Quallen mit Statocysten einen Sinn erlangt?)
M3 Wir wollen wissen, wann ein Mensch einen gewissen Sinn verloren hat. Oder welcher Sinn
verloren wurde.
(Bspw: Hat ein farbenblinder Mensch einen Sinn verloren? Ein Prosopagnostiker? Ein Blinder?)
M4 Wir wollen wissen, wann ein Mensch einen gewissen Sinn gewonnen hat, den wir nicht
besitzen.
(Bspw: Gibt der feelSpace-Gürtel einen neuen Sinn? GoogleGlasses?)
M5 Wir wollen wissen, wie man einem Organismus einen neuen Sinn geben kann.
(Bspw: Kann man durch ein neues Gerät und konstante regulative Stimulation einen Sinn
erzeugen?)
M6 Wir wollen die Sinne, die wir selbst besitzen, so taxonomisieren, dass wir sie aufzählen
können.
(Bspw: Hat Holger Lyre drei Sinnesmodalitäten oder fünf oder sieben oder einundzwanzig?)
Besonders M2–M5 motivieren Fragen wie:
Q1 Was sind die Erwerbskonditionen für eine Sinnesmodalität?
Q2 Was sind die Besitzkonditionen für eine Sinnesmodalität?
Diese können begrifflich, metaphysisch, oder empirisch ausgelegt werden. Empirisch ausgelegt motivieren sie die folgenden epistemischen Fragen:
Q3 Was sind Evidenzen für den Besitz eines Sinnes?
Q4 Was sind Evidenzen gegen den Besitz eines Sinnes?
2. Problemstellung
Egal was unsere Motivation ist: Dass es unterschiedliche Sinnesmodalitäten gibt — dass Sehen
etwas anderes ist als Hören, Riechen etwas anderes als Fühlen, Schmecken etwas anderes als Hören
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— scheint offensichtlich. Zumindest treffen wir faktisch diese Unterscheidung im Alltag, in der
Medizin, in der empirischen Wissenschaft, im Ingenieurswesen, in der Kunst, etc. Wie wir zu Unterscheidungen von Sinnesmodalitäten kommen ist aber unklar. Wir scheinen diese Unterscheidung
eher intuitiv zu treffen, anstatt anhand eines Katalogs von Kriterien.
Dann lässt sich folgendes Problem konstruieren:
P1 Wenn ein Subjekt s eine Unterscheidung zwischen Entitäten trifft, dann muss
s Kriterien dafür angeben können, was diese Entitäten unterscheidet.
P2 s unterscheidet zwischen Sinnesmodalitäten.
P3 s kann keine Kriterien dafür angeben, was Sinnesmodalitäten voneinander unterscheidet.
3. Mögliche Lösungsstrategien
Es gibt zumindest vier offensichtliche mögliche Auswege:
¬P 1a s selbst muss diese Kriterien nicht kennen, aber die Kriterien müssen kennbar
sein um zuverlässig beurteilen zu können, wann s richtig und wann falsch
kategorisiert hat.
(Abschwächung des Konsequens: “..., dann muss irgendjemand Kriterien dafür
angeben können...”)
¬P 1b Auch ohne ein Kriterium kann man Unterscheidungen vertreten.
(Ablehnung der abgeschwächten Form)
¬P 2 s’s Unterscheidung von Sinnesmodalitäten ist sinnlos.
¬P 3 s kann Kriterien dafür angeben, was Sinnesmodalitäten voneinander unterscheidet.
¬P 1a scheint gangbarer: Nicht alle Kriterien von sinnvollen Unterscheidungen müssen mir bekannt sein. Ich mag nicht wissen, was genau Americium von Darmstadtium unterscheidet, oder
Feldmäuse von Spitzmäusen, oder AfD und NPD, und trotzdem kann der Unterschied sinnvoll sein.
Wir könnten sagen, daßes Kriterien gibt, diese aber nicht jedem Subjekt bekannt sein müssen. Dies
würde beispielsweise für wissenschaftliche Kriterien gelten. Hier würden wir vor allem Kriterien
aus der Perspektiven eines äußeren Beobachters nennen. Wenn keines der Kriterien dem Subjekt
bekannt sein muss, dann gibt man jedoch auf, daßs eine kompetente Kategorisiererin sein muß.
Für Sinnesmodalitäten kann dies heißen: s könnte sich stets irren ob es gesehen oder gehört oder
gerochen hat, selbst wenn ihm sein mentaler Zustand vollständig gewahr ist.
¬P 1b scheint nicht haltbar: Zum einen könnten wir beliebig viele Unterscheidungen als sinnvoll erachten ohne Kriterien anzugeben — neben Riechen und Hören gibt es auch Schlipfen und
Makrösen, etc. Zum anderen könnten wir nie sagen, wann eine Kategorisierung richtig oder falsch
war, gerechtfertigt oder nicht. Wir könnten weder Wahrheits- noch Gebrauchsbedingungen für die
Begriffe angeben — wüssten also nicht, wann sie jemand korrekt verwendet. Und: wir könnten keine
Evidenzen für das Vorliegen einer Sinnesmodalität finden, da diese wiederum als Kriterien gedeutet
werden können. Diese Position käme also einer Bankrotterklärung gleich, da Q1–Q4 nicht mehr
beantwortbar sind.
¬P 2 kann zwei Lesarten haben: Entweder unterscheidet s nicht zwischen Sinnesmodalitäten, oder
s’s Unterscheidung ist sinnlos. Die erste Option scheint falsch: Wir glauben zumindest, zwischen
Sinnesmodalitäten zu unterscheiden. Die zweite Option ist radikal: Die Unterscheidung ist sinnlos.
Dies kann zwei Bedeutungen haben: (1) Wahrnehmung ist unimodal, oder (2) es gibt keine Sinne.
Klarerweise versuchen wir aber zu unterscheiden. Sinnesmodalitäten-Eliminativismus müsste also,
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erstens, eine Theorie darüber liefern, was wir tun, wenn wir meinen zwischen Sehen und Hören
unterscheiden zu können, und, zweitens, wie es dazu kommt, dass wir meinen zwischen Sehen und
Hören unterscheiden zu können. Nur dann wäre ¬P 2 sinnvoll akzeptierbar.
¬P 3 setzt uns vor folgende Herausforderung: Welche Kriterien sind es, und woher kennen wir
sie? Da die Unterscheidung von Sinnesmodalitäten der empirischen Wissenschaft vorausgeht, so
müssten die Kriterien hier wohl dem Subjekt im Erleben oder in der Reflektion gegeben sein. Hier
würden wir vor allem Kriterien aus der Perspektive des erlebenden Subjekts zulassen.
4. Entscheidungsbaum: Wie unterscheiden sich Sinnesmodalitäten?
Wenn wir die nicht gangbare Position ¬P 1a und die radikale Position ¬P 2 ablehnen, so können
wir uns anhand des folgenden Entscheidungsbaumes für grob orientieren:
Q1 Sind die Kriterien dem Organismus externe?
Wenn ja, welche? Wenn nicht:
Q2 Sind die Kriterien dem Organismus interne?
Wenn nein, dann siehe Q3. Wenn ja:
Q2’ Sind die internen Kriterien so, daßsie einer Person zugesprochen werden müssen?
Wenn nein, dann sind sie subpersonal oder weiter mit Q2”:
Q2’a Sind die internen Kriterien physiologisch und dem Individuum unter Umständen
nicht bewusst?
Wenn ja, welche? Wenn nicht:
Q2’b Sind die internen Kriterien mentale Repräsentationen und dem Individuum unter
Umständen nicht bewusst?
Wenn ja, welche? Wenn nicht, dann Q3:
Wenn ja zu Q2’, dann sind sie personal oder weiter mit Q2”:
Q2’c Sind die internen Kriterien personal und dem Individuum unbewusst?
Wenn ja, welche? Wenn nicht:
Q2’d Sind die internen Kriterien personal und dem Individuum bewusst?
Wenn ja, welche? Wenn nicht, dann Q3:
Q2” Ist es eine Mischung interner subpersonaler und personaler Kriterien?
Wenn ja, welche? Wenn nicht:
Q3 Ist es eine Mischung interner und externer Kriterien?
Wenn ja, welche? Wenn nicht, siehe ¬P 2.
5. Annäherung an eine Kriterien-Taxonomie
Je nachdem, welche Frage wie beantwortet wird, gäbe es folgende grobe Positionen. (Diese
Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig, und eine vollständige Aufzählung ist auch nicht zu
erwarten.)
Sinnesmodalitäten unterscheiden sich (vor allem)...
5.1. Ja zu Q1: Externe Faktoren.
• ...dadurch welche Eigenschaften der Welt wahrgenommen werden.
Wir nehmen die Farbe von Objekten durch Sehen war, den Ton von Objekten durch Hören,
den Geschmack durch Schmecken, ...
(angesprochen von H. P. Grice (1962), Some Remarks about the Senses, vermutlich vertreten
durch Aristoteles in De Anima )
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• ...dadurch wie die Welt wo auf uns wirkt
Wenn etwas Hochtemperiertes auf unsere Augen wirkt, so sehen wir (Röte), wenn es auf
unsere Haut wirkt, so fühlen wir es (Hitze)
(vermutlich Aristoteles, De Anima )
5.2. Ja zu Q2: Interne Faktoren.
• Nein zu Q2’: ...dadurch was subpersonal ist:
– Ja zu Q2’a: ...durch unterliegende physiologische Zustände, die dem Subjekt nicht
bewusst sein muss:
∗ ... durch die Art der Sinneszellen:
Sehen bedient sich der Retina-Zellen, Hören der Cochlea-Zellen, etc.
∗ ...durch das neuronale Areal. Sehen wird im visuellen Cortex verarbeitet, Hören
im auditorischen, Riechen im olfaktorischen, etc.
∗ ...durch die Verknüpfung der Sinneszellen mit einem bestimmten neuronalen Areal.
Sehen ist genau dann, wenn Retina-Aktivität durch den visuellen Cortex verarbeitet wird, etc.
(Müller (1838), Handbuch der Physiologie des Menschen zugesprochen)
∗ ...durch die Art der Verknüpfung von Sinneszellen zu Verhalten (sensory-motor
coupling)
Sehen ist, wenn die Retina aktiviert wird und man sich auf eine bestimmte Art
bewegt.
(Kann behavioristisch oder funktional interpretiert werden, oder nach der sensorymotor-contingency- Theorie (siehe Clark (2006) Vision as Dance? ))
– Ja zu Q2’b: ...durch intentionale Zustände oder Prozesse, die dem Subjekt nicht bewusst sein müssen:
∗ ...durch eine bestimmte Art der Repräsentation.
Beispiel: Wir sehen, wenn wir eine Szenerie und die Veränderung dieser Szenerie
durch unsere möglichen Augenbewegungen repräsentieren.
(andere Interpretation der sensory-motor-contingency-Theorie (siehe Clark 2006))
– Ja zu Q2’c: ...durch personale Zustände oder Prozesse, die dem Subjekt nicht bewusst
sein müssen.
∗ ...durch einen bestimmten Glauben.
Beispiel: Wir sehen, wenn wir glauben, dass p und denken, dass dieser Glauben
durch Aktivierung der Retina verursacht ist.
(u.U. Nelkin (1990), Categorising the Senses)
∗ ...durch bestimmte Arten von Verhaltens-Dispositionen
(G. Evans (1985), Molyneux’s Question, Ryle (1949) The Concept of Mind )
– Ja zu Q2’d: ...durch personale Zustände oder Prozesse, die dem Subjekt bewusst sind.
∗ ...durch eine bestimmte Art Erfahrung
Sehen hat einen anderen phänomenalen Charakter als Hören. (Leon (1988), Characterising the Senses)
5.3. Ja zu Q3: Mischung externer und interner Faktoren.
• Zu dieser Position hatten wir keinen Text. Es ist aber zu überlegen, ob diese Position
wirklich hilfreich ist, da sie vermutlich die Nachteile unterschiedlicher Theorien vereinigt:
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(GRAUSIG VEREINFACHT)
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– Sind die Kriterien extern oder intern-subpersonal, so können Subjekte selbst nicht
mehr aufgrund bewusstem Zugang oder Reflektion unsere Intuition rechtfertigen, dass
ein bestimmtes Wahrnehmungsereignis in einer bestimmten Sinnesmodalität war: Rein
aus der Ersten-Person-Perspektive sind die Kriterien nicht zugänglich, ob ich gerade
sah oder hörte.
– Sind die Kriterien personal und unbewussst, so können wir als externe Beobachter
(bspw. als Wissenschaftler) aufgrund der Unschärfe von mentalen Zuschreibungen nicht
mehr zweifelsfrei rechtfertigen, daßein bestimmtes Wahrnehmungsereignis in einer bestimmten Sinnesmodalität war: Rein aus der Dritten-Person-Perspektive sind die Kriterien nicht zugänglich, ob Holger Lyre gerade sah oder hörte, weil wir nicht eindeutig
sagen können, welchen Glauben HL gerade hat.
– Sind die Kriterien personal, so können wir als externe Beobachter (bspw. als Wissenschaftler) nicht mehr aufgrund der Privatheit des Erlebens nicht mehr rechtfertigen,
daßein bestimmtes Wahrnehmungsereignis in einer bestimmten Sinnesmodalität war:
Rein aus der Dritten-Person-Perspektive sind die Kriterien nicht zugänglich, ob Holger
Lyre gerade sah oder hörte, weil wir zu dem Erleben von HL keinen direkten Zugang
haben, außer über Verhalten und Physiologie.
• Bei einem Misch-Account wären in den meisten Fällen weder einem externen Beobachter
noch dem wahrnehmenden Subjekt alle Kriterien zugänglich um die Kategorisierung eines
Wahrnehmungsereignissen zu einer Sinnesmodalität zu rechtfertigen.
6. Nachwort: Vom Kriterium zur Evidenz und wieder zurück
Wir können diese Fragen nach Kriterien jedoch abschwächen, und nach Evidenzen fragen: Was
sollte einen rationalen Menschen (mehr oder weniger) davon überzeugen, dass p (und nicht ¬p) der
Fall ist. Also: Was sind Evidenzen dafür, dass ein Wahrnehmungsereignis in einer Sinnesmodalität
war? Dass ein Organismus über 3 statt 4 Sinne verfügt? Dass der feelSpace-belt einen neuen Sinn
schafft?
Evidenzen sind nicht notwendig, im Gegensatz zu Kriterien: Es ist kein Kriterium für VerheiratetSein, dass man einen Ring am Finger hat; aber ein Ring am Finger ist eine Evidenz dafür, dass
jemand verheiratet ist.
Dennoch vertagen wir mit diesem übergang nur das Problem: Evidenzen machen nur dann Sinn,
wenn es Kriterien für das gibt, was sie unterstützen wollen. Der Ring ist nur dann eine Evidenz für
Verheiratet-Sein, wenn es auch ein Kriterium dafür gibt, wann jemand verheiratet ist. Wenn wir
nach Evidenzen suchen, so nehmen wir bereits an, dass es Kriterien gibt, die eine Unterscheidung
motivieren, bspw. zwischen verheiratet und unverheiratet sein. Wenn wir nach Evidenzen fr Sinne
suchen, so lehnen wir also ¬P 2 ab.
Wenn wir mit Kriterien beginnen, so schränken wir also den Raum möglicher Evidenzen ein —
und wenn wir mit Evidenzen beginnen, den Raum möglicher Kriterien.