Olympias Erben in Sotschi

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 9. Juli 2016 – 11.05 – 12.00 Uhr
KW 27
Sieger, Verlierer, Spielverderber Olympias Erben in Sotschi
Mit Reportagen von Mareike Aden
Redaktion und Moderation: Johanna Herzing
Musikauswahl und Regie: Keno Mescher
Ton und Technik: Eva Pöpplein und Oliver Dannert
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- unkorrigiertes Exemplar –
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Eine Tourismus-Fachfrau über große Erwartungen:
Wir wussten einfach alle: Wow, das ist ein unglaublicher Moment. Wir waren uns
sicher, dass Sotschi vollkommen umgebaut werden würde und dass das Ausmaß
kolossal sein würde. Denn ohne das geht es in Russland nicht: Wenn unser Land so
etwas ausrichtet, dann muss es alles übertreffen. Wir müssen es noch besser
machen.
Ein Sporttrainer zu den Berichten über systematisches Doping bei Olympia:
Da gibt es so viele Meinungen, wie es Leute gibt: (…). Wir befinden uns nun einmal
in einer politisch angespannten Situation zwischen Russland, der EU und Amerika,
wegen der Sanktionen. (…). Und was da genau vor sich geht, weiß ich nicht – und
ich will es auch gar nicht wissen.
Und eine Bewohnerin von Sotschi über ihren Frust:
Sport ist gut. Prestige für unser Land ist gut. Aber warum sollen die Einheimischen
darunter leiden? Was wurde für uns getan? Nichts.
„Sieger, Verlierer, Spielverderber - Olympias Erben in Sotschi“. Gesichter Europas mit
Reportagen von Mareike Aden. Am Mikrofon: Johanna Herzing.
Olympische Spiele in Russland. Nach Moskau 1980 zum zweiten Mal in der russischen
Sportgeschichte! Eine Sensation!
Winterspiele, ausgerechnet in Sotschi, der einzigen Stadt Russlands, die in den Subtropen
liegt – absoluter Größenwahn!
Als im Februar vor zwei Jahren die Spiele an der Schwarzmeerküste zu Ende gingen,
lagen die Meinungen weit auseinander. Die einen sprachen von „Gigantismus“, kritisierten
eine „olympische Truman-Show“ und „Potemkinsche Spiele“. Die anderen waren voller
Bewunderung: ein „phänomenaler Erfolg“, „perfekte Spiele“ – die olympische Prominenz
spendete Lob in Superlativen. In rund sechs Jahren hatte Russland einen Austragungsort
für Olympia quasi aus dem Boden gestampft, die beschauliche russische Riviera mit ihrem
sowjetischen Sanatoriums-Charme in eine Kultstätte des Sports verwandelt. Russland,
nach den Spielen ein strahlender Sieger. 33 Mal standen russische Athleten auf dem
Ehrentreppchen. Doch das Olympia-Podest von Sotschi wackelt inzwischen heftig. Die
Kritik – Umweltsünden, Korruption, keine Nachhaltigkeit – ist nicht verstummt. Die
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politischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen infolge des Kriegs in der
Ost-Ukraine dämpfen auch Aufschwung und Entwicklung in Sotschi. Und dann ist da noch
ein Doping-Skandal von riesigem Ausmaß. Staat und Geheimdienst sollen den
systematischen Betrug im russischen Kader organisiert haben. Der sportliche Nachwuchs
von Sotchi aber trainiert unbeirrt weiter und träumt von Olympia:
Reportage 1
Eine Gruppe Kinder schart sich ungeduldig um Trainer Aleksej Wassiljew, der am
Randeiner Eisfläche im Trainingszentrum für Eiskunstlauf in Sotschi steht. Die Jüngsten in
dieser Eiskunstlauf-Trainingsgruppe sind sechs, die ältesten 10 Jahre alt. Mehrmals die
Woche gehen sie nachmittags aufs Eis. Die acht Jahre alte Nelli sagt, ihr habe gefallen
wie die Eiskunstläufer bei Olympia gesprungen sind, das wolle sie auch können. Und der
zehn Jahre alte Edik will später selbst Olympiasieger werden. Dann geht es für die etwa
20 Kinder auf die Eisfläche: An diesem Dienstagnachmittag sind zwei Trainer mit auf dem
Eis. Hier im Olympischen Park in Sotschi stehen viele der Wettkampfstätten, in denen
2014 um Medaillen gekämpft wurde. Wo heute Kinder trainieren, haben sich während der
Olympischen Spiele die Eisschnellläufer der Disziplin Shorttrack warmgemacht. Jetzt
befindet sich hier ein Trainingszentrum für Eiskunstlauf - mit zwei Eisflächen,
Fitnessräumen und Sälen für Choreografie-Training. Der 31 Jahre alte Trainer Aleksej
Wassiljew ist aus St. Petersburg nach Sotschi gezogen.
Früher gab es hier kein Eiskunstlaufen. Das heißt: Es gab zwar die regionale
Eiskunstlauf-Föderation, aber sonst nicht viel. Man hat mir erzählt, dass Liebhaber
hier eine Eisfläche organisiert hatten - in der Halle einer ehemaligen Geflügelfabrik
haben sie eine Fläche gewässert und vereist. Da haben dann ein paar Kinder
trainiert. Als wir hier anfingen, gab es also kaum Eiskunstläufer. Und die wenigen,
die es gab, konnten wegen der schlechten Bedingungen nicht gut und regelmäßig
trainieren.
Wassiljews junge Sportler sind inzwischen warm gelaufen. Der Trainer stellt Musik an: An
einem Computer, der mit einer modernen Lautsprecheranlage verbunden ist. An Geld fehlt
es nicht - die Schule wird vom russischen Sportministerium finanziert. Das
Trainingszentrum ist nach den Eiskunstläufern Maxim Trankow und Tatjana Wolossoschar
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benannt. Die beiden haben sich nach Olympia für dessen Gründung eingesetzt, nachdem
sie in Sotschi Olympisches Gold im Paarlauf gewonnen hatten - im Gebäude nebenan, in
der Eisberg-Arena.
Dieses Gebäude sollte nach den Olympischen Spielen eigentlich abgebaut werden.
Denn Sotschi ist ja nur eine kleine Stadt im Süden. Die Halle sollte woanders wieder
aufgebaut werden. Aber als unsere Eiskunstläufer so erfolgreich waren, und die
Aufmerksamkeit groß war – mit vielen Pressekonferenzen und Interviews, da
entschied man sich die Gebäude hier zu lassen, weil man ahnte, wie beliebt
Eiskunstlaufen hier werden würde.
An den Wänden hängen riesige Fotos von den Olympiasiegern: ihren Auftritten in Sotschi
und von den Siegerehrungen. Fünf Medaillen gewannen die russischen Eiskunstläufer –
darunter drei Mal Gold. Zwar werfen die inzwischen bekannt gewordenen Fälle von
Doping – allen voran bei den russischen Leichtathleten – auf die Erfolge russischer
Sportler insgesamt ein schlechtes Licht. Doch hier, in der Eishalle von Sotschi, ist all das
kein Thema. Die Olympioniken bleiben Vorbilder und Helden.
Die Geschichte von Sotschi muss man in die Zeit vor den Olympischen Spielen und
die danach einteilen. Hier wo wir jetzt stehen, war vorher Moor- und Waldgebiet.
Einheimische Taxifahrer erzählen, dass sie hier Enten gejagt haben. Niemand
konnte sich vorstellen, dass die Olympischen Spiele so ein Erfolg werden würden.
Was alles gebaut wurde! Sportstätten, Straßen, Schienen, Gasleitungen,
Elektrizitätswerke. Während der Bauarbeiten war ich einmal hier, das war ein
Schock. Damals dachte ich, alles in drei bis vier Jahren zu bauen, wäre unmöglich.
Auf dem Eis zeigt Alexej Wasiljew den Kindern jetzt neue Schrittfolgen. Im Moment
trainieren etwa 200 Kinder regelmäßig hier. Ab sechs Jahre ist das Training kostenlos,
finanziert vom russischen Staat. Sotschi soll eine Eiskunstlauf-Hochburg werden, hieß es
bei der offiziellen Eröffnung der Schule. Sportliche Erfolge wie die der Eiskunstläufer bei
Olympia seien wichtig für Russland, sagt Alexej Wassiljew. Sie machen die Russen stolz,
glaubt er, und sie würden helfen das so große, vielfältige Land zu einen.
In Russland hat der Sport eine sehr große Bedeutung – sonst würde der Staat ja
auch nicht so wahnsinnig viel Geld dafür ausgeben. Die Menschen in Russland
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lieben Sport. Und jene Athleten, die in Sotschi Olympiasieger geworden sind,
werden bestimmt noch für künftige Generationen Helden sein.
Und daran, so ist Alexej Wassiljew überzeugt, wird sich so schnell auch nichts ändern –
nicht einmal durch den Dopingskandal. Auch Wassiljew hat davon gehört, dass der
ehemalige Direktor des russischen Anti-Dopinglabors gegenüber der New York Times
zugegeben hat, im großen Stil russische Sportler gedopt zu haben – auch bei den
Olympischen Spielen. Aber darüber will sich Alexej Wassiljew nicht so viele Gedanken
machen.
Da gibt es so viele Meinungen, wie es Leute gibt: Jemand der in New York lebt, wird
den Berichten der New York Times glauben. Eine Zeitung, die ich hier in Sotschi
kaufe, wird etwas ganz anderes schreiben. Wir befinden uns nun einmal in einer
politisch angespannten Situation zwischen Russland, der EU und Amerika, wegen
der Sanktionen. Vielleicht muss man das in dem Zusammenhangsehen, aber das ist
eben Politik. Und was da genau vor sich geht, weiß ich nicht – und ich will es auch
gar nicht wissen.
Das Training ist inzwischen zu Ende. Nach etwa einer Stunde geht es vom Eis. Alexej
Wassiljew ist sicher: Unter den etwa 200 Kindern, die hier bei ihm und seinen TrainerKollegen seit fast zwei Jahren trainieren, sind künftige Weltmeister oder Olympiasieger.
Zweimal war Olympia bisher in Russland zu Gast. 1980 allerdings unter vollkommen
anderen politischen Bedingungen. Der sportliche Erfolg des Gastgebers, der UdSSR, war
aber auch damals vorrangiges Ziel. Die Sportler aus der DDR: starke, aber brüderliche
Konkurrenz.
Literatur 1:
Aber nun volle Konzentration, denn in diesem Augenblick betritt die Olympia-Mannschaft
der DDR die Arena. Vorneweg die Fahnenträgerin….
Anschlag in 54,79 – noch einmal ein fantastischer Weltrekord, ein wundervoller Lauf, eine
triumphale Zeit…
Da sind die drei glücklichen DDR-Mädchen nach der Siegerehrung, sie haben ihre
Medaillen, hier hat die Weltspitze wahrhafte Triumphe gefeiert.
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Unser Ziel bestand darin, das war das Kampfziel der Mannschaft hundert Medaillen hier zu
erkämpfen. Jetzt nach Beendigung der Wettkämpfe durch unsere Athleten können wir
feststellen 126 Medaillen wurden errungen, davon 47 goldene, ich glaube das ist eine sehr
gute Bilanz mit der wir an der Seite der Sowjetunion würdig den Sozialismus und unsere
sozialistische Heimat vertreten konnten.
Dass Russland die Latte von Anfang an hoch hängte, zeigte schon der Fackellauf. Das
olympische Feuer wanderte 2013 von Moskau nach Murmansk, per Atomeisbrecher an
den Nordpol, an Bord eines Raumschiffes zur Weltraumstation ISS. Es sank auf den
Grund des Baikalsees und wurde auf die höchsten Gipfel des Landes getragen. Olympia,
eine Großtat der gesamten Nation. Frei nach dem olympischen Motto schneller, höher,
stärker wurden Rekorde in vielerlei Hinsicht gebrochen, bei weitem nicht nur mit Blick auf
den Sport. Nie zuvor hat es etwa derart teure Winterspiele gegeben. Die Kosten lagen
letztlich bei einem Vielfachen des ursprünglich angesetzten Werts, zig Milliarden wurden
ausgegeben. Kritiker sagen, Vetternwirtschaft, Korruption und Missmanagement hätten
dabei Unsummen verschlungen. Den Löwenanteil der Kosten trägt der russische
Steuerzahler. Und viele Bürger von Sotschi kommt Olympia noch in anderer Hinsicht teuer
zu stehen. Manche haben mit ihrem Haus bezahlt - sie wurden im Zuge der Bauarbeiten
kurzerhand enteignet und umgesiedelt. Andere konnten wohnen bleiben, haben jetzt aber
mit den Folgen der gewaltigen baulichen Eingriffe zu kämpfen.
Reportage 2
In ihrem überdachten Innenhof läuft Natalia Kalinnowskaja auf und ab, brät Eier mit Speck
auf einer Elektroherdplatte und redet mit ihrer alten Mutter, die auf einem Gartenstuhl im
Hof sitzt. Ihr kleines Haus steht an der Imeritinski-Bucht ganz in der Nähe des Strandes
und – seit 2014 - auch in der Nähe der Olympischen Sportstätten. Außerdem wurden
damals in der Nachbarschaft ein Vergnügungspark, die Athleten-Unterkünfte und mehrere
große Hotels gebaut. Natalia Kalinnowskaja, lacht eigentlich viel und laut. Aber wenn die
Sprache auf die Olympischen Spiele kommt, dann klingt sie bitter.
Sehr viele haben mich angerufen um zu gratulieren. „Wieso gratulieren?“, habe ich
gefragt. „Olympia wird nicht in Sotschi stattfinden, sondern auf meinem
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Kopf.“Niemand hat uns gefragt. Ich finde, es sollte an den potenziellen
Austragungsorten grundsätzlich immer erst einmal ein Referendum geben. Man hat
ja gesehen, dass die Menschen in vielen Ländern die Olympischen Spiele ablehnen,
weil sie es zu teuer finden. Und wir hier wussten nun mal, dass wir auf Moorgebiet
leben und dass alles teuer und problematisch werden würde.
Im vergangenen Sommer hatten sie Hochwasser. Natalias Mann Georgijew streicht die
Zimmer, die an den Innenhof grenzen und in denen Hochwasser stand, jetzt in sattem
Gelb. Natalia Kalinnowskaja ist überzeugt: Dass so viel Wasser so schnell kam, das liege
vor allem an all den Bauarbeiten der vergangenen Jahre. Vorher war das ganze Gebiet um
ihre Siedlung herum ein staatlicher Landwirtschafts-Großbetrieb. Auf der Sowchose
Rossija weideten schon seit Stalins Zeiten Kühe und es wurde im großen Stil Obst und
Gemüse angebaut.
Als klar war, dass Olympia kommen würde, wählten die Bewohner der Sowchose Natalia
Kalinnowskaja zur Vorsitzenden des Selbstverwaltungsrates, einer Art Ortsvorsteherin. Sie
forderte Antworten und Informationen ein und erstritt Kompensation für jene
Ortsansässigen, die umgesiedelt wurden. Aber von den Versprechen, die die Behörden
den Anwohnern machten, seien nur wenige umgesetzt worden, sagt Natalia Kalinnowskaja.
So wurden weder ihr Haus noch die ihrer Nachbarn an Gasleitungen und Kanalisation
angeschlossen.
Die Mittel dafür wurden geklaut – anders kann man das nicht sagen. Es hieß: Wir
haben das nicht mehr geschafft. Aber so eine Antwort ist nicht hinnehmbar- nach
allem was wir durchgemacht haben: Während sie hier gebaut haben, war bei uns
alles voll Staub vom Zement und Asphalt. Viele hier haben Asthma und Allergien
bekommen und Probleme mit den Augen. Drei Jahre ging das. Da wird man doch
verrückt dabei.
Außerdem, so klagt sie, sei das Leben seit Olympia teurer geworden: Kosten für
Lebensmittel, Wasser und für die Müllabfuhr seien gestiegen. Und bis heute versuchten
Behörden und Investoren gemeinsam den Menschen ihre Grundstücke wegzunehmen, um
Profit zu machen.
Kalinnowskaja geht wieder zurück in den Innenhof, in dem jetzt Mischlingshund Steven mit
einer Plastikflasche tobt. Hier trat in den Jahren vor Olympia der Oppositionspolitiker
Boris Nemzow auf – denn die Behörden hatten ihm damals verboten, eine öffentliche
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Rede in Sotschi zu halten. Immer wieder hatte Nemzow, der in Sotschi geboren wurde, die
Korruption und die Willkür rund um die Olympischen Spiele angeprangert. Im Februar
2015 wurde Nemzow in Moskau auf offener Straße ermordet. An jenen Tag, an dem Boris
Nemzow in ihrem Hof stand und den Kreml und die Olympia-Pläne kritisierte, erinnert sich
Natalija Kalinnowskaja noch gut.
Immer mehr Leute kamen und draußen an der Tür stand die Polizei und ich sagte
ihnen: Ich lass euch nicht rein, das ist mein Haus. - Genau hier stand er. Und dafür
hassen mich die örtlichen Behörden hier immer noch. „Du solltest uns den Hintern
küssen, den Mächtigen“, heißt es, „Du hast dir die falsche Seite ausgesucht“.
Opposition darf man in diesem Land nicht sein. Entweder du bist für Putin oder du
bist Opposition. Dabei steht in unserer Verfassung, dass das Volk das Land regiert –
aber so ist es nicht. Unser Land wird von einer Bande von Millionären regiert.
Mit Hund Steven und ihrem Mann Georgiew geht es mit dem Auto zum Strand – der nahe
gelegene ist ihnen allerdings zu rummelig, voll mit Cafés und Restaurant, die für die
Einheimischen zu teuer sind. Auf dem Weg zu ihrem Lieblingsstrand geht es vorbei an
einer Siedlung mit kleinen neuen Häusern, Ersatzbauten für diejenigen, deren Häuser den
Olympia-Bauten weichen mussten.
Viele von denen, die umgesiedelt wurden, haben sich daran gewöhnt, sie haben sich
eingelebt. Die Möbel stehen, die Gardinen hängen. Sie winken ab, wenn man sie
nach Olympia fragt. Das ist nur noch wie ein schlechter Traum. Und das ist ja
wirklich ein Albtraum, wenn du deine Sachen packen musst, weil sie dein Haus
kaputt machen. Aber jetzt haben sie ein neues Haus, sie haben sich beruhigt und
wollen sich auch nicht erinnern.
Ihr Mann Georgiew steckt den hellgrünen Sonnenschirm zwischen die grauen Steinchen
des Strandes. Im Westen, in Sichtweise liegt das Fisht-Stadion, in dem die Eröffnungsund Abschlussfeier der Olympischen Spiele stattfanden. Es wird gerade umgebaut, zum
Fußball-Stadion für die WM-2018 – aber Natalia Kalinnowskaja freut sich nicht darüber.
Sport ist gut. Prestige für unser Land ist gut. Aber warum sollen die Einheimischen
darunter leiden? Was wurde für uns getan? Nichts.
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Großereignisse in Sotschi wie die Fußball-WM, die Formel Eins-Rennen oder auch Putins
Besuche seien für die Anwohner eher störend, sagt Natalia Kalinnowskaja. Manchmal
überlegen sie und ihr Mann wegzuziehen, zum Beispiel in die etwa 300 Kilometer
entfernte Stadt Krasnodar, in der ihre erwachsene Tochter lebt. Aber Natalia Kalinnowskaja
liebt das Schwarze Meer und die Berge des Kaukasus, die auch im Sommer
schneebedeckt sind. Sogar vom Strand aus kann man sie sehen. Und so bleiben sie in
Sotschi, auch wenn ihre Heimat nicht mehr die gleiche ist wie noch vor wenigen Jahren.
Literatur 2:
Moskau, meine Damen und Herren, tut während der Olympischen Spiele in diesen Tagen
alles, um sich von seiner besten Seite zu zeigen – nicht nur, was den Sport betrifft. Hören
Sie dazu einen Bericht von Gerd Ruge:
Zur Olympiade würden die Schaufenster vollgestopft mit Waren sein, um den Ausländern
zu imponieren, hatten die Gerüchte noch im Frühsommer verkündet. Aber sie bestätigten
sich nicht. Moskaus Geschäfte und Warenhäuser wurden nicht zu Potemkinschen
Fassaden mit Selbstbedienung umfunktioniert.
Immerhin gab es manches zu kaufen, was sonst schwer zu kriegen ist. Wahrscheinlich
hatten Ministerien und Fabriken das Gefühl, dass auch sie etwas zur Olympia-Freude der
Hauptstädter beitragen sollten: Entsafter oder elektrische Samoware, Kuchenrollen und
Werkzeug zum Ausstechen der beliebten Pelmeni, der russischen Art von Ravioli, etwa.
Ein Gerücht erzählt, im Südwesten der Stadt habe es Damenschirme für 25 Rubel
gegeben. In den Ausländer-Hotels und im Olympia-Dorf ist das Angebot weiterhin groß. In
den russischen Restaurants ist es wechselhaft wie immer. Im Slavianski Bazaar gab es
gestern keinen Weißwein, nur süßen Rotwein und halbsüßen Sekt. Dafür aber eine
Spezialität, die man sonst in Moskau fast nie findet: Räucheraal von der Ostsee. Und da
Musik und Vodka reichlich vorhanden waren, stieg die Stimmung dann trotz der Lücken
auf der Getränkekarte.
Die Boykott-Aufrufe dürften Wladimir Putin nicht überrascht haben.
Menschenrechtsverstöße, mangelnde Rechtstaatlichkeit, ein Demokratiedefizit, es gibt
viele Gründe, weshalb etliche prominente Politiker, Staats- und Regierungschefs den
Winterspielen in Sotschi fernblieben. Das sogenannte „Gesetz gegen Propaganda für nicht
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traditionelle sexuelle Beziehungen im Beisein von Minderjährigen“ hatte zuvor für
besondere Empörung gesorgt. Stellt es doch nach Ansicht von Kritikern Homosexuelle als
minderwertig und abnorm dar. Zwar kommt das Gesetz, seit 2013 in Kraft, bislang kaum
zur Anwendung. Und doch, sagen Menschenrechts-Aktivisten, fördert es Ablehnung, Hass
und Gewalt gegenüber Homosexuellen in Russland. Das Interesse westlicher
Journalisten an der Schwulen-Szene von Sotschi war während der Spiele entsprechend
groß. Eigentlich zu groß, finden heute viele aus der Community:
Reportage 3
Es ist kurz nach Mitternacht am Wochenende. Aus einem Klub im Stadtzentrum dröhnt
über einen Lautsprecher Musik nach draußen. Aber die fensterlose Tür ist geschlossen.
Eine Kamera hängt darüber. Vor der Tür steht eine Gruppe von Männern, einer drückt die
Klingel und nach einer Weile öffnet sich die Tür zum Mayak – einem von zwei
Schwulenklubs in Sotschi.
Hinter der Bühne in einem schmalen Raum mit Spiegelwand ist der 27 Jahre alte Nikita
dabei sich in Liza verwandeln – bald beginnt die Dragqueen-Show. Auch Nikita hat rund
um Olympia fast jeden Abend ein Interview gegeben. Er hatte das Gefühl, die westlichen
Journalisten zu enttäuschen.
Alle warteten darauf, dass wir ihnen schreckliche Geschichten erzählen: Dass man
uns zusammenschlägt, wir unter kriegsähnlichen Bedingungen leben und alles sehr
schwierig ist. Aber wir haben die Wahrheit erzählt: nämlich dass alles gut ist. Alles
hängt von einem selbst ab: Wenn du unbedingt willst, dass man dich beschimpft
oder zusammen schlägt, dann renn eben auf die Straße und schreie allen deine
sexuelle Orientierung entgegen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Nikita stammt aus der nordrussischen Stadt Murmansk an der Grenze zu Norwegen. Er ist
vor sieben Jahren nach Sotschi gezogen – hier steht er mehrmals in der Woche als
Dragqueen Liza auf der Bühne.
Die Stadt sei sehr tolerant, sagt Nikita. Das sogenannte „Gesetz gegen homosexuelle
Propaganda“ würden sie hier im Mayak gar nicht ernst nehmen, sagt Nikita.
Das Gesetz hat mit uns gar nichts zu tun. Da ist ausdrücklich von „Propaganda
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gegenüber Minderjährigen “ die Rede. Aber ich arbeite nicht im Kindergarten und
nicht in der Schule – und meine Arbeit, Travestiekunst, hat ja auch nichts mit
Propaganda zu tun. Wir drängen niemandem unsere sexuelle Orientierung auf. Und
mittlerweile ist doch allen im Land klar, dass solche schwachsinnigen Gesetze und
Skandale immer dann kommen, wenn etwas anderes, das der Staat tut, vertuscht
werden soll. Wahrscheinlich wollten sie damals von irgendetwas Großem ablenken.
Was das sein könnte, darüber macht Nikita sich keine Gedanken. Politik interessiert ihn
nicht.
Vor einigen Monaten ist das Mayak umgezogen – weil die Vermieter der alten Räume
Grundstück und Gebäude verkaufen wollten, sagt Roman Kotschagow, der Besitzer des
Mayak. Er sitzt in einem kleinen Büro am Rande des Klubs. Die Lage des neuen Mayaks
ist zentraler, es wurde ganz frisch renoviert. Die Kamera über der Tür sei reine
Vorsichtsmaßnahme, es hätte nie Probleme gegeben, sagt Kotschagow. Der muskulöse
Mann hat mit seinem Lebenspartner Andrei vor mehr als 11 Jahren das Mayak in Sotschi
eröffnet. Beide stammen aus Moskau. Während der Olympischen Spiele haben sie etwa
300 Interviews gegeben. Eigentlich sei das zu viel Aufmerksamkeit gewesen, aber:
Wir bereuen das nicht. So haben wir der Welt wenigstens erzählt, dass in Russland
nicht alles so schlimm ist wie alle denken. Und wir wurden bekannt – das war eine
ziemlich gute weltweite Werbung. Wir hatten viele Gäste.
Über das Mayak wurde rund um Olympia auch deshalb so viel berichtet, weil der
Bürgermeister von Sotschi auf einer öffentlichen Veranstaltung gesagt hatte, es gäbe gar
keine Schwulen und Lesben in Sotschi – eine Aussage, die er später dementierte. MayakBesitzer Roman Kotschagow sagt, er habe sich kurz vor den Olympischen Spielen am
Rande eines Treffens mit Geschäftsleuten ausführlich mit dem Bürgermeisterunterhalten.
Sie hatten falsche Informationen und dachten aus irgendeinem Grund, dass wir
Protestaktionen planen oder gar die Olympischen Spiele blockieren wollen. Aber ich
habe dem Bürgermeister erklärt, dass wir vor allem Geschäftsleute sind, dass sich
niemand für unsere Beziehungsform interessieren muss und dass wir keine
Protestaktionen planen. Ich finde ohnehin, dass die russische Gesellschaft für so
etwas noch nicht bereit ist. Das habe ich ihm alles erklärt und wir waren uns einig,
dass alles in Ordnung ist.
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Die russische Gesellschaft habe grundsätzlich ein erhebliches Toleranz-Problem – aber
nicht nur in Bezug auf sexuelle Minderheiten, meint der Klub-Besitzer. Er glaubt:
Öffentliche Proteste oder Gay Paraden in Russland würden den Interessen der Szene
letztlich nur schaden. Selbst in Großstädten wie Moskau oder St. Petersburg nehmen nur
wenige teil und oft enden sie hässlich, die Teilnehmer werden von der Polizei oder
Gegenaktivisten auseinander getrieben. Seit Jahren diskutiert die Community im Land
deshalb darüber, wie sinnvoll Paraden und Proteste unter solchen Umständen sind. So
mancher ist zu dem Schluss gekommen, dass Aufmerksamkeit eher schadet. Stattdessen
ziehen sich viele ins Private zurück. Das Mayak soll deshalb ein unpolitischer Ort sein.
Neben der Bühne hat Nikita schon sein Korsett aus Plastikbrüsten umgeschnallt, nur die
Perücke fehlt noch. Wie sein Chef glaubt auch er: die russische Gesellschaft sei noch
nicht reif für Gay Paraden und Protestaktionen.
Und er sagt, er sehne sich nicht danach, Hand in Hand mit seinem Partner durch die Stadt
zu laufen. Das gehöre sich einfach nicht, findet Nikita. Das Land zu verlassen, darüber hat
er nur aus wirtschaftlichen Gründen schon nachgedacht, nicht weil er schwul ist.
Ich bleibe Patriot meiner Heimat. Sie gibt mir trotzdem viel. Ich lebe ein vollwertiges
Leben – aller Gesetze zum Trotz. Man nimmt mir nichts weg. Zumindest derzeit nicht.
Und ich nehme meinem Land auch nichts übel. Sollen sie doch machen. Wenn das
natürlich irgendwann einmal schärfere Formen annimmt und Homosexualität wieder
strafbar wird, so wie zu Sowjetzeiten, das wäre etwas ganz anderes. Aber ich denke
so weit wird es nicht kommen.
Nikita hat jetzt keine Zeit mehr. Um kurz nach zwei Uhr nachts ist es Zeit für seinen Auftritt.
Im smaragdgrünen Abendkleid tritt Nikita alias Liza auf die Bühne, beginnt zum Playback
zu singen. Die Gäste im Mayak jubeln und Nikita strahlt. Die Politik ist in diesem Moment
ganz weit weg.
Die Olympischen Sommerspiele 1980 fanden in einer Atmosphäre statt, die politisch
aufgeheizt war. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ein halbes Jahr zuvor
befeuerte den Ost-West-Konflikt. Die Argumente von damals, sie scheinen von
erstaunlicher Langlebigkeit:
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Literatur 3
Meine Herren, Olympia-Boykott – ja oder nein? Fangen wir vielleicht bei Ihnen an, Herr
Gregorijans, sind Sie für die Austragung der olympischen Spiele respektive für einen
Boykott?
Natürlich ich bin für die Durchführung der Spiele in Moskau wie es vorgesehen ist. Die
Spiele sind vorbereitet, wir haben uns Mühe gegeben. Ich bin dafür, weil die Olympischen
Spiele nicht jedes Mal von den vorübergehenden politischen Tagesereignissen abhängig
gemacht werden dürfen, sonst stoßen wir die Welt in ein Chaos. Gerade in den
Spannungsmomenten ist es wichtig, das Positive, das man geschaffen hat in den letzten
10 Jahren der Entspannung aufzubewahren und dazu gehören die olympischen Spiele.
Herr Long, vielleicht als der Widerpart an diesem Tisch von Herr Grigorijans heute Abend?
Ich bin für eine Verlegung der Olympischen Spiele aus Moskau weg oder wenn das nicht
geht für einen Boykott. Und aus folgendem Grund: Es geht nicht, dass die Sowjetunion
einfach in ein fremdes Land einmarschiert und wir im Westen darauf gar nicht reagieren.
Es muss schmerzlich reagiert werden, notfalls mit Militäraktion. Aber hoffentlich müssen
wir nicht mit Militär antworten, sondern friedlich und friedlich wäre ein Boykott der
Olympischen Spiele in Moskau.
Schneeleopard, Schneehase und Eisbär – gleich drei in Russland heimische Tiere dienten
den Spielen in Sotschi als Maskottchen. Doch die Tierliebe der Ausrichter beschränkte sich
im Wesentlichen auf die Plüschkameraden. Für den Umbau Sotschis in ein WintersportParadies wurde kaum Rücksicht auf ökologische Bedenken genommen. Weder in der
Gebirgsgegend um Krasnaja Poljana, wo diverse Skipisten, Sprungschanzen und die dazu
gehörige Infrastruktur gebaut wurden, noch an der Schwarzmeer-Küste, wo der
sogenannte Olympia-Park mit Eishallen und dem Olympiastadion entstand. Zwar wurde im
Vorfeld eine nachhaltige ökologische Entwicklung der Region versprochen. Doch schon
das Vorhaben Winterspiele in einer subtropischen Region auszurichten, ließ viele an
diesem Vorsatz zweifeln. Ein kaum gezügelter Bauboom setzt sich bis heute fort.
Reportage 4
Baufahrzeuge fahren hin und her, ein Kran hebt Rohre und Betonklötze. Olga Noskowez,
eine Frau mit kurzen, hellblondierten Haaren, steht am Rande eines kleinen Flusses und
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ärgert sich über die Baustelle auf der anderen Uferseite. Sie ist Umweltaktivistin und hier
in Dagomys, einem Stadtteil von Sotschi, aufgewachsen. Sie weiß genau, dass das
Grundstück Teil eines Nationalparks ist, in dem gar nicht gebaut werden dürfte. Schon gar
nicht zwei achtstöckige Hochhäuser wie geplant. Erst vor kurzem gab es hier
Überschwemmungen und auch die Gefahr von Schlammlawinen aus den nahen Bergen
sei groß, sagt Olga Noskowez. Aber in letzter Zeit sei es eben schick für Menschen aus St.
Petersburg oder Moskau, ein Apartment in Sotschi zu haben, so die Mittvierzigerin.
Für mich sind die Menschen, die in diesem Haus eine Wohnung kaufen, lebensmüde.
Hier gibt es unzählige Verstöße gegen Gesetze und Bauvorschriften. Eigentlich tun
mir diese Menschen leid, aber was soll man machen? So etwas passiert, weil die
Nachfrage so groß ist. Dieses ungesund große Interesse an unserer Stadt fördert
gigantische Bauvorhaben an Orten, wo es sie nicht geben dürfte.
Neben Olga Noskowez steht Marina - die beiden kennen sich aus einer kleinen
Bürgerinitiative, die versucht gegen illegale Bauvorhaben in Dagomys vorzugehen – aber
ihre Briefe an Behörden helfen nicht. Olga Noskowez überrascht das nicht. Solche
Projekte würden gebilligt und sogar gefördert, sagt sie. Sie ist Mitglied der
Naturschutzorganisation Ökowacht des Nordkaukasus – und seit Bauarbeiten für die
Olympischen Spiele wundert sie sich nur noch über wenig. Mit etwa einem Dutzend
anderer Aktivisten kämpfte sie damals um Naturschutzgebiete oder einzelne Bäume.
Jetzt ist es noch schwieriger geworden solche Informationen öffentlich zu
verbreiten und auf offene Ohren zu stoßen. Damals, rund um die Olympischen
Spiele, waren wenigstens Journalisten da, denen wir etwas zeigen konnten – zum
Beispiel illegale Müllhalden. Aber jetzt können wir nur Informationen sammeln. Und
ich hoffe, dass sich eines Tages neue Behörden dafür interessieren und unsere
Hinweise nutzen, um die zu bestrafen, die all diese Verbrechen begangen haben.
Schon während Olympia schreckte Olga Noskowez nicht davor zurück die Behörden und
die Mächtigen zu kritisieren. Sie gehört nicht nur der Ökowacht an, sie ist auch Mitglied
der kleinen liberalen Oppositionspartei Jabloko, die jedoch seit den neunziger Jahren an
Bedeutung verloren hat. Während Olympia wurde Olga Noskowez sogar kurz
festgenommen – und mehrmals gewarnt: Ihr Name stünde auf einer Liste von Menschen,
die die Sicherheitsbehörden besonders im Auge hätten. Immerhin, die Umweltaktivisten
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waren damals eine eingeschworene Gemeinschaft. Aber jetzt haben sie nur noch selten
zueinander Kontakt, sagt Noskowez. Jeder engagiere sich nur noch so wie sie lokal in
seinem Stadtteil – wenn überhaupt.
Die Leute sind einfach erschöpft – moralisch und körperlich. Manche haben eine
Pause gemacht, um wieder Kraft zu schöpfen oder wieder gesund zu werden. Denn
der Druck von den Behörden auf uns war so groß, das hat auch psychisch an den
Kräften gezehrt. Wenn es ein großes allgemeines Problem gibt, dann vereinen wir
unsere Kräfte und unsere Erfahrung. Aber wir sind ja alle nur Menschen und der
Druck auf uns von Seiten unseres Polizeistaates wird immer größer.
Olga Noskowez und Marina, die ihren vollen Namen aus Angst vor den Behörden nicht
nennen will, machen sich auf den Weg nach Hause. All die Probleme in Sotschi, so glaubt
jedoch Marina, seien lediglich auf die örtlichen Behörden zurückzuführen – und nicht auf
Wladimir Putin:
Mir gefällt die Politik unseres Präsidenten, ich vertraue ihm – deshalb haben wir
Beschwerden über die illegalen Bauvorhaben an die Präsidenten-Administration
geschrieben. Mir gefällt, wie unser Präsident sich verhält: Er beleidigt niemanden,
tut niemandem etwas Böses und ist offen für Zusammenarbeit. Ich kann nicht
glauben, dass unser Präsident etwas gegen seine Bürger und die Umwelt hat. Das
glaube ich einfach nicht.
Olga Noskowez kann über solche Äußerungen nur lächeln, aber sie hat längst aufgehört
mit Marina und den anderen aus der Bürgerinitiative, die ähnlich denken, über die
Mächtigen in Moskau zu streiten.
Für mich sind das alles Verbrecher. Es ist das ewige russische Problem, dass die
Menschen denken: Der Zar ist gut, aber alle anderen sind schlecht. Ich kämpfe
schon seit rund 20 Jahren und es wird immer schlimmer. Ich habe meine
Erfahrungen mit solchen Briefen und Petitionen gemacht. So etwas sollte durch das
Gesetz und die Verfassung geregelt werden und nicht vom Willen eines einzigen
Mannes abhängen.
In ihrem Reihenhaus hat Olga Noskowez sich eine kleine Oase geschaffen: Innen ist alles
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mit ökologischen Materialen und nach Fengshui-Regeln eingerichtet. Sie weiß, dass längst
nicht alle ihrer Freunde und Verwandten ihre politische Meinung teilen, deshalb hat sie ein
Schild aufgehängt: Nicht über Politik sprechen, steht da.
Man muss doch auch mal über den Alltag sprechen, über die Familie. Am
Küchentisch muss man nicht die geopolitischen Probleme dieser Welt lösen. Das
führt nur zu Streit und Rechthaberei. Wenn meine Familie zusammen sitzt, dann
möchte ich gern, dass wir über erfreuliche Dinge und über die Familie sprechen
anstatt das Schicksal des ganzen Volkes in die Hand nehmen zu wollen. Das ist mir
wichtig.
Auch an Wahlen zum Lokalparlament im Herbst wird Olga Noskowez nicht teilnehmen. In
den Jahren vor Olympia hat sie einmal kandidiert– ohne Erfolg - aber das, sagt sie, waren
ganz andere Zeiten: Für Andersdenkende wie sie sei es enger geworden in Russland. Sie
weiß, viele sehen sie als Verräterin. Olga Noskowez aber sieht sich als Patriotin. Ob sie je
wieder zu einer Wahl antritt, das hat sie noch nicht entschieden.
Wladimir Putin habe den Geist der Olympischen Spiele verraten, hieß es im Nachhinein oft.
Gemeint ist damit seine Rolle in der Ukraine-Krise, die sich parallel zu Olympia weiter
zuspitzte. Lange stritt der Präsident ab, mit der Entwicklung dort und auf der ukrainischen
Halbinsel Krim irgendetwas zu tun zu haben. Von den sogenannten „grünen Männchen“,
den Kämpfern, die im Februar 2014 ohne Hoheitszeichen auf der Krim aufgetaucht waren,
distanzierte er sich – zunächst jedenfalls. Kurze Zeit nach dem Ende der Spiele in Sotschi
trat er jedoch stolz im Staatsfernsehen auf. Den Befehl zur Annexion der Krim, so Putin,
habe er in der Nacht vor der Abschlussfeier in Sotschi gegeben. Was folgte, ist bekannt.
Auch wenn an den Sanktionen des Westens gegen Russland inzwischen wieder gerüttelt
wird, noch sind sie voll wirksam. Das macht sich auch in Sotschi bemerkbar.
Reportage 5
Im Erdgeschoss eines Hochhauses im Stadtzentrum liegen die Büroräume des
Reisebüros Nowij Sotschi – übersetzt „Neues Sotschi“: Eine der Frauen die hier per
Telefon und Email Buchungen entgegennehmen, ist Irina Suchtschowa. Seit mehr als 15
Jahren arbeitet sie im örtlichen Tourismus-Sektor. Der 4. Juli 2007, sagt sie, der Tag, an
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dem die Olympia-Entscheidung für Sotschi fiel, änderte alles für die Branche. Am Morgen
danach kam jeder einzelne der Mitarbeiter mit einer Flasche Sekt ins Büro – ohne dass sie
sich abgesprochen hätten.
Wir wussten einfach alle: Wow, das ist ein unglaublicher Moment. Wir wussten nicht
was da genau kommen würde. Aber wir waren uns sicher, dass Sotschi vollkommen
umgebaut werden würde und dass das Ausmaß kolossal sein würde. Denn ohne das
geht es in Russland nicht: Wenn unser Land so etwas ausrichtet, dann muss es
alles übertreffen -Peking, und alle anderen Städte, in denen Olympische Spiele
stattgefunden haben. Wir müssen es noch besser machen.
Irina Suchtschowa findet, das ist gelungen. Die Spiele waren ein Erfolg auf ganzer Linie,
so die Tourismus-Fachfrau. Am Nachmittag hat sie Termine außerhalb: Regelmäßig
besucht sie die Sehenswürdigkeiten und Restaurants, die sie ihren Kunden empfiehlt, um
nach dem Rechten zu sehen und Absprachen zu treffen.
Erste Station an diesem Nachmittag ist die Datscha von Stalin, ein grünes Gebäude, in
den Hügeln von Sotschi, mit einem üppigen Garten voller Palmen. Stalins Datscha ist nicht
dauerhaft öffentlich zugänglich – sie gehört zu einem Hotelkomplex. Umso wichtiger, dass
Irina Suchtschowa engen Kontakt zu Anna Rudolfowowna pflegt, die hier ein strenges
Regiment führt. Gerade ist sie mit einer Gruppe von Chinesen unterwegs. Irina
Suchtschowa muss warten.
Seit den Olympischen Spielen sind sehr viele Chinesen hier. Wir haben schon
mehrmals große Gruppen von dort betreut. Am liebsten besuchen die Chinesen
Stalins Datscha. Hier gibt es nämlich ein Geschenk, das Mao Stalin gemacht ein: Ein
silbernes Schreibset. Alle Chinesen stehen Schlange, um sich davor fotografieren
zu lassen.
Stalins Datscha, in der vor allem seine Kinder viel Zeit verbrachten, sei ein Muss für jeden
Sotschi-Besucher, findet Irina Suchtschowa. Denn es sei ja Stalins Entscheidung gewesen,
Sotschi zu einem Kurbad ausbauen zu lassen. Heilbäder in den
schwefelwasserstoffhaltigen Quellen hatten seine Arthritis-Schmerzen gelindert. Auf sein
Geheiß wurden in Sotschi pompös aussehende Sanatorien errichtet, in denen auch
Arbeiter ihren Urlaub verbringen und sich erholen sollten. Doch später wurde der Stadt
dieses staatlich organisierte Urlaubssystem zum Verhängnis, erzählt Irina Suchtschowa.
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Es gab eine Zeit in den 1990er Jahren als kaum Touristen in Sotschi waren. Fast alle
Sanatorien gehören nämlich einer Behörde, einem Ministerium oder einem Werk
und früher haben Menschen von ihrem Arbeitgeber oder der Gewerkschaft
Urlaubsreisen zugeteilt bekommen. Als dann in den 90ern die ganze Wirtschaft
zusammenbrach, hatte der Staat kein Geld mehr für Sanatorien, die Fabriken hatten
keins und die Menschen auch nicht.
Putins Entscheidung für Olympia in Sotschi, sei ein Segen gewesen, sagt Irina
Suchtschowa, die schon wieder auf dem Weg zum nächsten Termin ist. Viele der in den
Neunzigern verfallenen Sanatorien sind inzwischen saniert und in Luxushotels verwandelt
worden. Das mit Abstand günstigste Zimmer kostet dort umgerechnet rund 500 Euro.
In den Bergen, umgeben von viel Grün, liegt das Restaurant Kawkaskij Aul – übersetzt
„Kaukasisches Gebirgsdorf“. Irina Suchtschowa kommt oft mit Reisegruppen hierher. Hier
werden Schaschlik und andere Spezialitäten aus dem Kaukasus serviert. Oft gibt es
Livemusik. Zu Sowjetzeiten war das Restaurant Kulisse für mehrere bekannte Filme. Doch
dann verfiel es und wurde erst 2010 wieder restauriert. Die Küche sei hervorragend, sagt
Irina Suchtschowa. Sie ist überzeugt, dass es hier auch westlichen Touristen gefallen
würde.
Wir dachten, dass nach den Olympischen Spielen Besucher aus allen
Teilnehmerländern kommen würden. Denn die Journalisten aus der ganzen Welt
waren sehr positiv überrascht von unserer Stadt und unserem Land. Ihnen hat es
sehr gefallen. Wir waren überzeugt, dass sich das positiv auf den Tourismus
auswirkt. Aber all diese politischen Probleme verhindern nun, dass mehr Leute aus
dem Westen hierher reisen. Jetzt hoffen wir auf die Fußball-WM 2018, dass dann
endlich alle zu uns kommen.
Zurück im Büro macht die junge Frau noch einige Anrufe… Sie und ihre Kollegen betreuen
hier auch Einheimische, die von der Region Sotschi aus ins Ausland fahren wollen. In die
EU aber reisen jetzt etwa 50 Prozent weniger ihrer Kunden als noch vor einigen Jahren,
sagt Irina Suchtschowa. Das liege am schwachen Rubelkurs, daran dass es für Russen
aufwändiger geworden sei ein EU-Visum zu beantragen, aber auch an der antiwestlichen
Stimmung im Land. Die habe durch die Ukraine-Krise ihren Höhepunkt erreicht.
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Russen sind sehr anfällig dafür, alles, was unsere Staatsmedien sagen, für bare
Münze zu nehmen. Und viele sagen sich: Wenn uns der Westen nicht mag, dann
fahren wir da eben nicht mehr hin. Wer beim russischen Staat beschäftigt ist, darf ja
sowieso nicht mehr ins Ausland fahren. Ihnen wurde offiziell empfohlen das zu
lassen, nachdem es Provokationen gegen Russen im Ausland gegeben hat. Diese
Menschen kommen jetzt eben zu uns nach Sotschi.
Tatsächlich sollen russische Staatsangestellte, darunter Polizisten, Richter,
Geheimdienstmitarbeiter oder Militärs seit der Ukraine-Krise nur noch in Notfällen und mit
Genehmigung des Arbeitsgebers ins Ausland fahren. Der russische Staat betont, es
handle sich um eine Empfehlung – vor allem um Staatsgeheimnisse zu schützen.
Doch trotz der vielen russischen Besucher bleibt es der große Traum von Irina
Suchtschowa, dass doch noch mehr ausländische Gäste aus dem Westen kommen.
Gäste, die Sotschi nicht nur mit Wladimir Putin und dem Beginn der Ukraine-Krise
verbinden, sondern stattdessen an das Meer, die Sonne und die Berge denken. Sie findet:
Sotschi habe doch so viel mehr zu bieten als Politik.
„Sieger, Verlierer, Spielverderber - Olympias Erben in Sotschi“. Das waren Gesichter
Europas mit Reportagen von Mareike Aden. Musik und Regie: Keno Mescher. Ton und
Technik: Eva Pöpplein und Oliver Dannert. Am Mikrofon war: Johanna Herzing.
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