"Das bessere Leben" von Ulrich Peltzer

Am Abend schrieb er die Kontonummer bei der HSBC und das
Kennwort auf eine seiner Visitenkarten, die er in ein Kuvert
steckte, das er dann in einem zweiten Umschlag verschloss, legte
einen Zettel dazu, auf dem er sich von Elisabeth eine kurze
Nachricht erbat, dass sie den Brief erhalten habe. Er bat sie weiter, das Kuvert nicht zu öffnen, es sei denn im Notfall oder auf
sein Verlangen hin. Sie möge nicht beunruhigt sein, aber er denke
an die Zukunft, und ausschließlich darum handele es sich. Viele
liebe Grüße aus Turin, Papa. PS : War ein herrlicher Tag mit dir
heute, J.
* * *
War das richtig? Was würde ihr durch den Kopf gehen, nächste
Woche, irgendwann? Weshalb solche Umstände, Geheimniskrämerei wie im Agentenfilm? Etwa um der Frage auszuweichen,
woher das Geld stammte … und dann in Zürich, eh, Jochen, warum nicht gleich auf den Bahamas? Aber schließlich, lassen wir
die Kirche doch bitte im Dorf, war er kein Waffenhändler, sondern … hör mal, Betty, zahl die Steuern nach, wenn du deinen
Seelenfrieden gefährdet siehst. Falls sie überhaupt auf die Idee
käme … ausgemachter Unsinn, dein Vater ist ein sehr gut verdienender Manager in der Maschinenbauindustrie gewesen. Ersparnisse und günstige Kursverläufe, sicher verstaut auf einer exzellenten Bank. Dazu Zeichnungen, die schätzungsweise fast noch
einmal genauso viel wert waren. Sofern er nicht anfangen müsste
zu verkaufen. Alternativen? Hangshu Limited, wenn alle Stricke
reißen, ob du willst oder nicht. Und was spräche dagegen, bei
dem Gehalt, signing bonus, außer … dass du nicht willst. Überzeug AMRO , Geld nachzuschießen, und das Projekt atmet wieder. Glaubst du doch selber nicht dran, weißt du doch jetzt schon,
wie’s laufen wird … Exportchancen, mittelfristige Perspektiven,
Sie kennen Indonesien, Sie kennen die Menschen, worauf ihm
ein stummes Kopfnicken, ein leerer Blick antworten würde …
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Investitionsstrategen, auf Deutsch nennt man euch Großganoven. Ist das ein deutsches Wort, Ganove? Ein Fuß immer im Gerichtssaal.
Nachdem er sich lange genug hin- und hergewälzt hatte, trank
Brockmann in der Küche eine Büchse Bier (ruckzuck, knack),
rauchte ein paar Züge, klappte im Wohnzimmer an dem langen
Bauerntisch seinen Rechner auf, sah sich bei Artprice Auktionslose an, nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche Mirabellengeist, die seit Samstag, seit Agneses Besuch dort stand, neben
der ungelesenen Wochenendausgabe der Repubblica. Und noch
einen, so jung kommen wir nie mehr zusammen. Der Alkohol
machte sich bemerkbar, ihm wurde schummerig … wie nach
einer Fahrt auf dem Kettenkarussell. Er seufzte. War das ein schöner Tag heute, die Gesellschaft von Elisabeth etwas Besonderes.
Viel zu selten, warum nicht öfter, einmal im Monat gemeinsam
essen oder spazieren gehen, sich unterhalten. Ihr zuhören, wenn
sie einem in einer Ausstellung ein Bild erklärt, ein Video, all die
Bezüglichkeiten. So klug und anregend, dass man selber auf welche stößt, bestimmte Assoziationen, Orange, Agent Orange, rötlich eingefärbter Dschungel. Der kein Dschungel mehr ist, weil
entlaubt. Eine Welt im Hintergrund, hinter dem Sichtbaren, und
dennoch anwesend, beinah schon körperlich zu spüren. Als wäre
man dabei gewesen, nichts vergangen, nur an der Oberfläche,
Kostümwechsel. Obwohl man nicht derselbe bleibt, das wäre …
um Himmels willen, wäre eine schreckliche Vorstellung. Wie die,
alles würde sich wiederholen, nichts käme je an ein Ende. Weil es
dann nämlich keine Zukunft gäbe, für die es sich zu kämpfen
lohnte, rein logisch betrachtet … what the people, was stand da
auf der Wand? Anstrengungen, die man unternimmt, struggle to
make it. Brockmann entkorkte die Flasche und gestattete sich
einen dritten Schluck, was soll’s, dachte er, wen kümmert das?
Bin mein eigener Herr, wo sind die Zigaretten?
Im Schein des Bildschirms und der Tastatur (sonst kein Licht,
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sowjetisch-bengalisch), zerfließenden Rauch vor Augen, tippte er
bei Google den Namen Renée Green in die Maske und das Wort
buried … achtundvierzig Millionen Treffer (so viele Leute, die
Green hießen, so viele Beerdigungen), aber auf der ersten Seite
schon mehr Hinweise zu Texten über die Künstlerin, Bildern,
Ausstellungen, als er allein in dieser Nacht würde lesen und sich
anschauen können … Räume, in denen Geschichten zusammenliefen, die von Orten und Nicht-Orten erzählten, der Gegenwart
und des Vergessens, Reisen ins Herz der Zeit, der Erinnerung, die
immer in Bewegung sei, nie bloß Privatbesitz, Psychogeographie … ihre Arbeiten, hatte jemand für eine Galerie geschrieben,
entstünden über Jahre, in denen sie Ereignisse, ein Datum, Fundsachen in Variationen umkreise, ordne und neu ordne, auf was
sie verweisen könnten, Zeichen und Spiegel, ob da ein abgeschiedener, vom Leben selbst verschütteter Sinn …
Asche fiel von seiner Zigarette ab, Brockmann pustete über die
Tasten, zog noch einmal und stupfte die Kippe dann (nichts in
Reichweite, Sauerei) am breiten Rand der Tischplatte aus. Sprühende Fünkchen, die erloschen, bevor sie die Fliesen erreichten.
Er legte den Stummel neben den Laptop, gab 4 maggio kent in
die Suchmaschine ein, fing oben an, Wikipedia, die Fakten. Siebenundsechzig Schüsse in dreizehn Sekunden, nie jemand zur
Verantwortung gezogen. Landesweit wurden Universitäten besetzt, Massenproteste, kurz danach schrieb Neil Young den Song
Ohio, der bis auf Platz 14 der Billboard Charts kletterte. Ein
Dokudrama fürs Fernsehen, jährliche Gedenkveranstaltungen,
es halten sich Gerüchte, dass Undercoveragenten an den Vorgängen beteiligt waren. Als Brockmann die Namen der Opfer las,
klickte er Jeffrey Glenn Miller an, zwei weitere Klicks, und er
landete bei dem Foto, das er in Greens Video gesehen hatte, das
Mädchen mit den ausgebreiteten Armen, schreiend, zu ihren Füßen der leblose Körper eines jungen Mannes, shot through the
mouth; killed instantly. Wie auch anders, dachte er, Gefechts202
munition, da bleibt kein Auge trocken. Dass die gezielt geschossen haben, mit den Gewehren, den Kalibern, das glaubt man ja
nicht, Vollidioten. Er ging zurück (wie auf sacht schwankendem
Grund, komm, noch einen, sowieso alles zu spät), zu der Liste
der Namen, an zweiter Stelle … tödliche Brustwunde (343 ft =
105 m), neunzehn Jahre alt, Allison B. Krause. Gegen ein Schwindelgefühl ankämpfend, starrte er auf die Buchstaben, als könnten
sie von sich aus … reden, irgendwas. B, B, B, murmelte Brockmann, heißt? Beth, ihr vollständiger Name auf der Seite, auf die
ihn die Buchstabenreihe verlinkte, Allison Beth Krause … ihre
Lebensdaten mehrmals halblaut lesend, zählte er mit den Fingern
die Tage von ihrem letzten Geburtstag am 23. April zu ihrem Tod
am 4. Mai ab, elf, neunzehn Jahre und elf Tage … was ist das,
nichts. Gar nichts, er öffnete den Mirabellengeist und trank, bis
er sich verschluckte und würgen musste. Seine Kehle, seine Augen brannten, er ächzte und wischte sich mit den Handballen
Tränen aus den Lidern. Eine Geschichte, die zu Ende war, bevor
sie wirklich begonnen hatte, rechts oben auf der Website in
einem Kästchen eine Fotografie, eine Art Passfoto, das eine aufgeweckt lächelnde junge Frau in hochgeschlossenem schwarzen
Pullover mit einer dünnen Kette über dem Kragen zeigte, ihre
dichten schulterlangen Haare brav gescheitelt und zurückgekämmt, so was, wie man es in Jahrbüchern oder Bewerbungsschreiben findet. Leicht verwaschen, wie der Abzug eines Abzugs … who cares?
Sinnlos, dachte Brockmann, mittelprächtig betrunken jetzt,
für was? Peps hätte früher eine Antwort gewusst, nichts umsonst, der Kampf geht weiter. So ein Müll, dafür stirbt man, mir
nichts, dir nichts? Aus hundert Meter Entfernung, ohne dass jemand je … nur ein historisches Ereignis, eines von ungezählten.
Er brauchte nicht lange zu suchen, um weitere Bilder zu finden,
Allison als Schulkind mit Pferdeschwanz, dann herumalbernd,
ein paar Jahre später, die ausgestreckten Hände seitlich an den
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Kopf gelegt (du Esel, du Esel), ein drittes, das kurz vor ihrem Tod
aufgenommen worden sein musste, leicht von unten im Halbprofil, eine Studentin, die lachend auf etwas reagiert, einen Witz,
eine Geste, eine komische Szene, die sich gerade vor ihren Augen
abspielt, eine Schönheit mit hohen Wangenknochen, deren Haarschopf kaum zu bändigen ist … Staub, ein paar Knochenreste
unter der Erde, Ende der Durchsage.
Er wandte den Blick ab, sein Oberkörper vorgebeugt auf den
vor dem Rechner gekreuzten Armen. Im Dämmerlicht des Raumes schattenhaft die beiden Sitzgruppen, das Sideboard, die an
einer Wand lehnenden Wechselrahmen. Deins, das bist du, noch
lebendig. Im Unterschied zu, zu … aus den Augenwinkeln betrachtete er Allisons Gesicht, dessen Strahlen umwerfend war,
wie ein göttliches Geschenk, dachte er, gestohlen, verschwunden … mit einer jähen Handbewegung klappte Brockmann den
Bildschirm herunter, stierte ins Dunkel. Nichts, was man im
Nachhinein wieder hinbiegen könnte, einmal geschehen ist geschehen. Ohne Zweck, eine Abfolge grausiger Zufälle. Und
wenn doch nicht? Ah, was interessiert das, Gedanken, die einem
nur kommen, wenn man zu viel getrunken hat. Hast du, aber …
noch nicht genug. Er tastete nach der Flasche, ließ den Schnaps
durch seine Kehle rinnen, bis ihn ein Hustenanfall nach vorne
riss. So blieb er dann eine Zeitlang sitzen, mit hängendem Kopf,
ein stechendes Pochen in den Schläfen. Unser Geheimnis, Betty,
mach dir bloß keine Sorgen, alles geregelt. Mehr kann ich nicht
tun, und Geld … ist nicht zu verachten. Nie nicht, ein paar Euro
auf dem Konto. Wie spät? Zu spät, um morgen keine Kopfschmerzen zu haben, nicht zu ändern, auch das nicht. Brockmann stellte die Flasche, die er noch in der Hand hielt, auf den
Tisch zurück und wankte ins Schlafzimmer, gegen Möbel und
Türrahmen stoßend.
* * *
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