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Freitag, 08.07.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Dagmar Munck
Zupackend, lasziv, kompromisslos
PROKOFIEV
WORKS FOR VIOLIN & PIANO
Franziska Pietsch, Violine
Detlev Eisinger, Klavier
audite 97.722
Klare, reine, lyrische Stimme
HUGO WOLF
Kennst du das Land?
Lieder nach Goethe, Mörike, Eichendorff
SOPHIE KARTHÄUSER, SOPRAN
EUGENE ASTI, KLAVIER
HMC 902245
Dunkler, warmer Orchesterklang
Walter Braunfels
Orchestral Songs | Volume I
Valentina Farcas, Sopran
Klaus Florian Vogt, Tenor
Michael Volle, Bariton
Staatskapelle Weimar
Hansjörg Albrecht
OEHMS OC 1846
Einfühlsam, klangsinnig, souverän
Sergei Lyapunov
Works for Piano Vol. 2
Florian Noack
Ars Produktion ARS 38209
Faszinierend fein ausbalanciert
JOHANN CASPAR KERLL
JOHANN JOSEPH FUX
REQUIEMS
VOX LUMINIS
LIONEL MEUNIER
RICERCAR RIC 368
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit einer Hugo-Wolf-Lied-Platte mit
Sophie Karthäuser, Orchesterliedern von Walter Braunfels, Klavierwerken von Sergei
Ljapunow und Requien von Kerll und Fux. Dazu begrüßt Sie Dagmar Munck.
Zu Beginn eine Aufnahme mit der Geigerin Franziska Pietsch und dem Pianisten Detlev
Eisinger. Von Sergei Prokofjews beiden Violinsonaten gibt es eigentlich genügend
Aufnahmen, aber das Wilde, Sinnliche dieser Musik hört man selten so zupackend, lasziv
und kompromisslos wie bei diesen beiden Musikern. Mitunter muss der Pianist sich
ranhalten, um mit den Ausbrüchen, dem Vorantreiben wie mit dem gedankenverlorenem
Innehalten der Geigerin mithalten zu können. Im Tempo wunderbar flexibel leuchten die
Beiden Prokofjews Welt der Extreme aus. So darf, so muss das sein!
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Hier sind die ersten beiden Sätze aus der auch als Flötensonate bekannten zweiten
Violinsonate.
Sergei Prokofjew: Sonate für Violine und Klavier Nr. 2, 1. und 2. Satz
13:35
So ein intensiver und satter Geigenton! Und was für Klangfarben, was für eine Dynamik und
welche Energie die Geigerin Franziska Pietsch hier entfaltet im erlesenen Zusammenspiel
mit dem Pianisten Detlev Eisinger! Als 11-Jährige hat Franziska Pietsch ihr Debut in der
komischen Oper in damals noch Ost-Berlin gegeben und mit Orchestern der DDR
konzertiert. Danach hat man von der inzwischen 46-Jährigen wenig gehört. Letztes Jahr
erschien eine Aufnahme der Grieg-Violinsonaten mit dem Duo Pietsch / Eisinger, die schon
aufhorchen ließ, und jetzt diese beiden Violinsonaten von Sergei Prokofjew inklusive der
„Cinq Melodies“ beim Label audite.
„Kennst du das Land“? heißt die nächste neue CD, und damit sind wir gleich bei dem
rätselhaften Mädchen aus Goethes „Wilhelm Meister“, das sich nach dem Land sehnt, in
dem die Zitronen blühen. Beethoven und Schubert haben Goethes Mignon-Gedichte vertont,
Schumann hat Mignon sogar ein Requiem gewidmet. Die Mignon-Lieder von Hugo Wolf
fangen wunderbar den Zauber der knabenhaften, zarten Mignon ein, die sich nur ganz
zögerlich öffnet, nachdem Wilhelm Meister sie aus den Torturen einer fahrenden
Gauklertruppe befreit und als Dienerin eingestellt hat.
Mit Mignon-Liedern beginnt die belgische Sopranistin Sophie Karthäuser ihre CD mit
handverlesenen Hugo Wolf-Liedern. Sie öffnet ihre Welt ganz zart, eindringlich und intensiv,
sich langsam vortastend, dann die Spannungsbögen bis zum Zerreißen haltend, mit klarer,
reiner, lyrischer Stimme und warmem Timbre. Was Worte nicht sagen können, drückt
Eugene Asti am Klavier aus. Er ist mitten im Geschehen, fiebert mit, mal die feinsten
Regungen der Stimme vorausahnend, mal nachzeichnend. Mal lässt er den Klavierklang mit
der Stimme verschmelzen, mal erdet er sie, hält die Verbindung zum Boden. – „Heiß mich
nicht reden, heiß mich schweigen, denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“:
Hugo Wolf: Mignon I und II
8:25
„Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen“ und „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was
ich leide“ von Hugo Wolf alias Goethe. Die klare Stimme der in Barock und Klassik
geschulten Sophie Karthäuser entlockt den Liedern die feinsten Schattierungen, worauf sich
der Pianist Eugene Asti kongenial versteht. Eine feine Auswahl aus Hugo Wolfs
bezaubernden Miniaturdramen nach Goethe, Eichendorff und Mörike findet sich auf dieser
CD. Viele dieser Lieder decken sich mit der Auswahl des legendären Liederabends, den
Elisabeth Schwarzkopf mit Wilhelm Furtwängler am Klavier bei den Salzburger Festspielen
1953 gab. Aber ich scheue hier den Vergleich. Man fängt dann nur an zu lauschen, was der
jeweils anderen Aufnahme vielleicht fehlen könnte, und beide Aufnahmen sind in sich so
stimmig und einfach konkurrenzlos und sollen es bleiben.
Hier einfach noch drei weitere Kostproben aus der neuen CD, die die Spannbreite des Duos
zeigen: „Das verlassene Mägdelein“ und „Nixe Binsefuß“ von Eduard Mörike und Goethes
„Bekehrte“.
Hugo Wolf: „Das verlassene Mägdelein“, Nixe Binsefuß“ und „Die Bekehrte“
7:55
Sophie Karthäuser und Eugene Asti mit ausgewählten Liedern nach Texten von Goethe,
Mörike und Eichendorff von Hugo Wolf. Die CD ist bei harmonia mundi erschienen.
Die nächste Musik wird Ihnen bekannt vorkommen: Da ist Mozarts Don Juan zu Besuch mit
der Champagnerarie, die nur auf Grund eines Übersetzungsfehlers so heißt, der
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Frauenverführer hebt hier eigentlich das Weinglas . Er flirtet mit dem Gast aus dem Jenseits
und dem Abgrund: spielerisch, erotisch und dämonisch.
Walter Braunfels: „Don Juan“ op. 34, Introduktion und Thema, Variation 1und 2 10:15
Ob man das nun wirklich braucht, die etwas andere „Champagnerarie“ aus Mozarts genialem
„Don Giovanni“, die „klassisch-romantische Phatasmagorie“, wie Braunfels sie betitelt hat, ist
eine andere Frage, aber mich fasziniert, wie viele Farben, Schattierungen, wie viele
Bedeutungsebenen und was für eine Energie man dieser nicht zu übertreffenden Musik
abgewinnen kann, wenn man es kann. Und Walter Braunfels kann das! Das waren nur
Introduktion und Thema und zwei Variationen aus seinem Anfang der 1920er Jahre
komponierten „Don Juan“. Es folgen noch fünf weitere Variationen, in denen er faszinierend
klangsinnig die Figur und das Wesen des Don Juan nach der Mozartschen Oper ausleuchtet.
Der Komponist Walter Braunfels – geboren 1882, gestorben 1954 – wird seit den 90er Jahren
mehr und mehr entdeckt. Erste Opern des lange Zeit Verschmähten werden wieder
aufgeführt, Lieder und Kammermusikwerke, und jetzt beginnt mit dieser CD auch eine Reihe
mit Orchesterliedern. Der Braunfels-Kenner Hansjörg Albrecht leitet hier die Staatskapelle
Weimar. Gemeinsam mit Richard Strauss gehörte Walter Braunfels zu den meistgespielten
Opernkomponisten der 20er und 30er Jahre. Braunfels, der spätromantische-traditionelle
Fantast, galt als zukunftsweisender Vertreter der Neuen Musik, bis ihm die Nazis als
„Halbjuden“ die Aufführung seiner Werke verboten und ihn aller Ämter enthoben – er war bis
dahin gemeinsam mit Hermann Abendroth Gründer und Leiter der Kölner Musikhochschule.
Nach 1945 verstand man dann etwas anderes unter Avantgarde. Für Romantik war nach dem
Zweiten Weltkrieg kein Platz. Dabei hatte Walter Braunfels gerade die Schrecken des Ersten
Weltkrieges, den er im Finale noch an der Front erleben musste, in eindringlichster Weise in
Orchesterliedern eingefangen und verarbeitet. Mehr als ein Klavierlied es vermag, fährt uns
die Dramatik seines Orchesterklangs in die Glieder, entrückt uns das irisierende
Farbenspektrum der Instrumentierung in eine andere Welt.
Michael Volle hier mit dem bereits 1915 vertonten Hesse-Gedicht „Auf ein Soldatengrab“:
„Deine hellen Augen sind zugetan,
Dir brach die Nacht herein,
Dir brach der neue Weltengang schon an.“
Walter Braunfels: „Auf ein Soldatengrab“
4:20
Mit dieser CD beginnt beim Label OEHMS eine Reihe mit Orchesterliedern von Walter
Braunfels, auf der sich hier auch die „klassisch-romantische Phatasmagorie“ Don Juan
befindet. Die Sänger sind neben Michael Volle, den Sie mit Hesses „Auf ein Soldatengrab“
hörten, die Sopranistin Valentina Farcas und der Tenor Klaus Florian Vogt. Eine Klangwelt,
die sich zu entdecken lohnt und gespannt sein lässt auf Weiteres. Und zudem ein
fantastisches Projekt für den Dirigenten Hansjörg Albrecht und die Staatskapelle Weimar mit
ihrem traditionellen, dunklen, warmen Orchesterklang.
Auch der Komponist der nächsten neuen CD hier in SWR2 Treffpunkt Klassik dürfte Ihnen
kaum ein Begriff sein. Glücklicherweise sind genügend Musiker auf der Suche nach
vergessenen oder übersehenen Werken, so dass es immer wieder Neues zu entdecken gibt.
Das Meiste liegt seit 1800 sogar gedruckt vor, so dass man nur nach alten Notenausgaben
in den Bibliotheken suchen muss. Der inzwischen 26-jährige belgische Pianist Florian Noack
hat jetzt einen zweiten Ausflug in das Reich des russischen Pianisten und Komponisten
Sergei Ljapunow unternommen. Nach einer ersten CD, die Noack schon vor drei Jahren
aufgenommen hat, zeigte er sich zwischenzeitig auch als geschickter Bearbeiter einiger
Orchesterwerke von Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und Rachmaninov. Für diese
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Einspielung wurde er mit dem Nachwuchspreis des ECHO Klassik 2015 ausgezeichnet und
für den International Classical Music Award nominiert.
Eine Generation junger Pianisten wächst gerade heran, die nicht mehr nur nachspielende
Interpreten sind, sondern, wie die großen Virtuosen des 19. Jahrhunderts, selbst schöpfende
Musiker, was ein anderes Verständnis der Musik ermöglicht. Sergei Ljapunow war ein
solcher. 1859 geboren, eine knappe Generation nach Tschaikowsky, Rimsky-Korsakow und
Balakirew, kam er nach seinem Studium im Moskau nach Sankt Petersburg, leitete
gemeinsam mit Balakirew die Hofsängerkapelle und wurde Lehrer und Leiter von Balakirews
Musik-Freischule und später Professor für Klavier und Komposition am Petersburger
Konservatorium. Immerhin gibt es einige Aufnahmen seiner Werke, auch von seinen
Sinfonien, seinem Violin- und den Klavierkonzerten, aber drei Stücke auf der neuen CD von
Florian Noack sind erstmals zu hören. Natürlich wollte der brillante Pianist Ljapunow sich mit
seinen eigenen Klavierwerken als großer Virtuose zeigen. In jungen Jahren war das am
wichtigsten. Hier eine 1887 komponierte Etude, das Opus 1 Nr. 1 des 27-Jährigen.
Sergei Ljapunow: Etude op. 1 Nr. 1
2:35
Florian Noack perlt diese Etude von Ljapunow mit großer Leichtigkeit und Souveränität. Hier
ist Chopin zu Besuch und ein bisschen Liszt, aber von Ljapunows Begegnung mit dem
mächtigen Häuflein und der Vorliebe für die russischen Volkslieder spürt man noch nicht.
Ganz anders klingt es schon in seinen Préludes op. 6. Da hört man in den rhythmischen
Raffinessen, dem gegeneinander der Hände und in der süffigen Harmonik Rachmaninoff und
Skrjabin, die allerdings beide erst nachfolgen – sie sind 15 Jahre jünger sind als Ljapunow.
Sergei Ljapunow: Fünf Préludes aus op. 6
9:55
Manches klingelt vielleicht ein bisschen viel, aber Ljapunows Miniaturen entfalten trotzdem
die verschiedensten Seelenzustände: Verträumtes, Bedrückendes, Überschwängliches,
Sehnsucht und Ausgelassenheit und der junge Pianist Florian Noack zeigt sich als
einfühlsamer, klangsinniger und technisch absolut souveräner Interpret. Das Volume 2
dieser wachsenden Gesamtaufnahme der Klavierwerke Sergei Ljapunow ist bei Ars
Produktion erschienen.
Zum Schluss unseres SWR2 Treffpunkt Klassik mit neuen CDs noch einmal zurück ins
17. Jahrhundert. Das belgische Ensemble Vox luminis hat die beiden Requien von Johann
Caspar Kerll und Johann Joseph Fux herausgebracht. Der Sachse Kerll, der in Wien und
München tätig war und bei Carissimi in Rom gelernt hat, ist gut 30 Jahre älter als Fux, der,
wie Kerll vor ihm, die Organistenstelle am Wiener Stephansdom inne hatte nebst
verschiedenen Stellen am Kaiserhof, bis er 1715 dort endlich zum Kapellmeister aufstieg.
Kerlls Requiem findet sich in einem Band aus dem Jahr 1689, den er Kaiser Leopold I.
gewidmet hat, das Requiem selbst ist aber, wie man seinen Worten entnehmen kann, der
wohlwollenden Gottheit gewidmet:
„Da der Name „Missa pro defunctis“ (Messe für die Verstorbenen) auf der Titelseite steht,
finde ich nichts mehr, was ich zu diesem Thema sagen könnte, es sei denn, dass ich alle für
die Musik verantwortlichen Herren (die ich voll Freundschaft umarme) inständig bitte, diese
Messe von ihren Untergebenen mit der Sequenz „Dies irae“ für die Ruhe meiner Seele
singen zu lassen und zu meinen Gunsten Trost zu verbreiten, wenn sie hören, dass der
höchste Herr des Himmels und der Erde mich aufgefordert hat, von diesem Leben ins
andere zu ziehen. Das wünschen sich alle Seelen zutiefst, die in den reinigenden Flammen
gefangen sind, und das erwarten sie auch von ihren streitbaren Brüdern in diesem Tal der
Tränen. Um die Befreiung dieser betrübten Seelen zu beschleunigen, verschenke auch ich
all die Mühe, die ich für dieses Werk aufbringe, ich erkläre und widme sie der wohlwollenden
Gottheit.“
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Kerll kannte das Elend: In seiner Wiener Zeit folgten die Katastrophen dicht aufeinander:
Pestepedemien und die zweite Türkenbelagerung. In einer Dichte und Eindringlichkeit leitet
er das Requiem aeternam ein – „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte
ihnen“. Das Ensemble Vox luminis führt es in wunderbarer Reinheit, Innigkeit und
Ausgewogenheit aus. Sie singen es auch für die Ruhe und zum Trost der lebenden Seelen.
Johann Caspar Kerll: Requiem, Introitus
5:25
Hier zum Vergleich zu Kerlls Requiems, der gleiche Anfang, der Introitus, den der Kollege
Fux 30 Jahre später für das Begräbnis der Witwe Kaiser Leopolds I. geschrieben hat. Die
Grundstimmung mit den dunklen Streichern ist gleich, aber es kommen hohe Stimmen dazu,
Soprane und Violinen. Die Sänger und Instrumente werden selbstständiger, konzertieren
individuell miteinander, die Harmonik wird dichter, die Reibungen der Vorhalte noch
eindringlicher.
Johann Joseph Fux: Kaiser-Requiem, Introitus
6:45
Die stillen Zinken und Posaunen tönen den Klang dunkel ab. Das Requiem von Fux wurde
zum Kaiser-Requiem. Über 20 Jahre erklang es immer wieder bei Trauerfeiern, zuletzt 1740
beim Begräbnis Kaiser Karls VI.
Vox luminis musiziert mit ruhigen, klaren, strömenden Stimmen. Wie ergreifend diese
Requien von Kerll und Fux sind, und wie sehr sie ihren Zweck erfüllen, die Bitte um die
ewige Ruhe, um Trost und Erlösung, erfahren wir eindringlich in dieser faszinierend fein
ausbalancierten Aufnahme. – Hier noch Sanctus, Benedictus und Hosanna aus dem KaiserRequiem.
Johann Joseph Fux: Kaiser-Requiem, Sanctus, Benedictus und Hosanna
3:35
Bei RICERCAR ist diese erlesene Aufnahme mit Requien von Johann Caspar Kerll und
Johann Joseph Fux mit dem Ensemble Vox luminis erschienen. Die Leitung hat der
französische Flötist und Trompeter Lionel Meunier, der das Ensemble 2004 gegründet hat,
als er noch Gesangsstudent am Konservatorium Den Haag war.
Das war Treffpunkt Klassik, heute mit neuen CDs. Am Mikrophon verabschiedet sich
Dagmar Munck.