El Siglo de Oro: Velázquez und Co. Berliner Gemäldegalerie zeigt Meisterwerke mit Blockbuster-Qualitäten ▶ Seite 12 AUSGABE BERLIN | NR. 11061 | 27. WOCHE | 38. JAHRGANG DIENSTAG, 5. JULI 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ SCHWEIZ Zentrale des Bösen: Die UEFA am Genfer See ▶ SEITE 15, 17 POLEN Nur als Opfer: Die Regierung in War schau gibt das Kriegsge denken vor ▶ SEITE 3 RUSSL AND Schatten wirtschaft: Kleinfirmen in Garagen ▶ SEITE 5 BERLIN Wie sich die Wahl in MecklenburgPommern auf die in Berlin auswirkt ▶ SEITE 21 Paris Bamako Brüssel Istanbul Dhaka Bagdad Foto oben: dpa VERBOTEN Hört, hört, meine Damen und Herren! Eine Geflügelwurst muss hauptsächlich aus Geflügelfleisch bestehen, ein Früchtetee die auf der Packung abgebildeten Früchte enthalten. Nein, nein, das ist keineswegs der Ist-Zustand, sondern das große Ziel der Reform der sogenannten Lebensmittelbuchkommission, die seit Freitag in Kraft ist. Bisher war nämlich nicht auszuschließen, dass Geflügelwurst aus Früchten und Früchtetee aus abgehangenen Hühnern bestand. Aber jetzt wird alles gut: Bald ist die CDU endlich christlich, die SPD sozial und die Grünen sind grün. Also so stimmig wie ein IRAK Der Anschlag der IS- Terroristen im Ausgehviertel von Bagdad hat über 200 Menschen das Leben gekostet ▶ SEITE 2 ENTSETZLICH Was passiert, wenn Trauer zur öffentlichen Gemeinschaftsleistung wird? ▶ SEITE 11 Paris, 13. 11. 2015: 130 Tote in einem Stadion und einem Konzertsaal. Bamako, 29. 11. 15, 20 Tote in einem Hotel. Brüssel, 22. 3. 16: 30 Tote im Flughafen. Istanbul, 28. 6. 16: 45 Tote im Flughafen. Dhaka, 2. 7. 16, 28 Tote in einem Restaurant: Trauernder bei einer Beerdigungsprozession nach dem Anschlag in Bagdad am Sonntag Foto: Haidar Hamdani/afp KOMMENTAR VON DOMINIC JOHNSON ZUM RÜCKTRITT VON UKIP-CHEF FARAGE Hundekuchen. Farage und Johnson, zwei Chaosverhinderer TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.040 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 20627 4 190254 801600 V olksabstimmungen sind toll. Mit einem einzigen Kreuz haben die britischen Wähler den EU-Austritt beschlossen, ihren Premierminister abgesetzt, dessen Hauptrivalen ins Abseits befördert, den Oppositionsführer in die Tonne getreten, die Einheit des Königreichs erschüttert – und jetzt auch noch den geistigen Urheber des Brexit ins Aus geschickt. Es ist völlig unverständlich, dass sich manche EU-Befürworter nun über Nigel Farages Rücktritt empören. Sie verwechseln den Ukip-Chef wohl mit einer bedeutenden politischen Figur. Vor welcher Rolle soll denn der Führer einer Partei, die im britischen Parlament einen einzigen Sitz hält und die in der offiziellen EU-Austrittskampagne eine marginale Rolle spielte, feige die Flucht ergriffen haben? Seine Partei wird überflüssig, seine historische Funktion ist erfüllt. Wer braucht noch einen N igel Farage, wenn die Regierung den Brexit um- setzt? Höchstens noch der rechte Rand. Gut, dass Farage sich dafür nicht hergibt. Denn der Brexit war nicht das Werk von Rechten, die auf hinterhältige Weise das Wahlvolk in die Irre geleitet hätten, wie es manche nun darzustellen versuchen. Er entspringt der Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung ganz unterschiedlicher sozialer Milieus und politischer Lager. Sie entschied sich nicht wegen, sondern trotz Farage für den EU-Austritt. Das wollen die EU-Befürworter nicht wahrhaben, weil sie ihre eigenen Fehler nicht sehen wollen. Viel einfacher ist es, alles auf den bösen Rechtspopulisten zu schieben. Die Briten wählten den Brexit nicht wegen, sondern trotz Nigel Farage Auch die Kritik an Boris Johnson, weil er nicht Premierminister werden will, entbehrt jeder Logik. Johnson zog sich aus dem Rennen um David Camerons Nachfolge zurück, weil er chancenlos geworden war. Trotzdem geht jetzt in Europa die Mär um, Johnson und Farage scheuten die Verantwortung für das von ihnen angerichtete Chaos. Das Gegenteil ist der Fall. Indem sie verzichten, verhindern die beiden das Chaos, das die Brexit-Gegner herbeizureden versuchen. Die EU wird sich daran gewöhnen müssen, dass die britischen Konservativen viel schneller als gedacht wieder vernünftig zusammenfinden, dass Großbritannien nicht nach rechts abdriftet und dass es auch keinen politischen und ökonomischen Zusammenbruch auf der Insel geben wird. Für die Selbstgerechtigkeit jener EU-Propagandisten, die den britischen Austrittswillen bitter bestraft sehen möchten, wird das ein Schlag sein. Aber für Europa ist es gut. Auf der Flucht UkipChef tritt zurück GROSSBRITANNIEN LONDON afp | Der Umwälzungs- prozess in der britischen Innenpolitik nach dem Brexit-Referendum geht weiter: Der Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage erklärte am Montag seinen Rücktritt als Chef der rechtspopulistischen Ukip-Partei. Mit der Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der EU habe er sein politisches Ziel erreicht, sagte Farage. Er war einer der entschiedensten Verfechter des Brexit, für den sich bei dem Referendum vor eineinhalb Wochen knapp 52 Prozent der Briten aussprachen. Während der Brexit-Kampagne habe er sein Land zurückgewollt. „Jetzt will ich mein Leben zurückhaben“, sagte der Antieuropäer. 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG Schwerpunkt DI ENSTAG, 5. JU LI 2016 IS-Terror PORTRAIT Schwerster Anschlag in Bagdad seit 13 Jahren: Von dauerhaftem Frieden ist der Irak noch weit entfernt Die Rückkehr des IS in den Irak IRAK I Nach militärischen Niederlagen in der Region ist das „Kalifat“ der sunnitischen Historische Wahl für Australien: Linda Burney Foto: dpa Erste im Parlament L inda Burney ist die Erste. Bei der Wahl am Samstag gewann mit der 59-jährigen ehemaligen Lehrerin und LaborPolitikerin erstmals eine Ureinwohnerin einen Sitz im nationalen Parlament Australiens. Sie trat für den multikulturellen Wahlkreis Barton in Sydney an. Die Wähler in Barton hätten mit ihr zusammen Geschichte geschrieben, sagte sie nach ihrem Sieg, den sie als einen „wirklich wichtigen Moment“ beschrieb. Politische Erfahrung für ihre neue Aufgabe bringt Burney zur Genüge mit. Von 2003 bis 2016 war sie bereits Abgeordnete des Parlaments von New South Wales (NSW), hatte dort mehrere Ministerposten inne und war 2008/2009 Chefin der Labor Party. Auf nationaler Ebene war sie nach der Wahlniederlage ihrer Partei 2011 mehrfach Schattenministerin und, nach dem Rücktritt von LaborChef John Robertson 2014, interimistische Oppositionsführerin. Außerdem engagierte sie sich in einer nationalen Versöhnungskommission und in Arbeitsgruppen der UNO für die Belange der stark benachteiligten Ureinwohner Australiens. Linda Burney wurde 1957 in der Kleinstadt Whitton in NSW geboren – doch ihre Familie sollte sie erst spät kennenlernen, wie sie anlässlich ihrer Wahl in das Parlament von NSW 2003 gegenüber der BBC berichtete. Ihre Herkunft als Ureinwohnerin wurde ihr zunächst verschwiegen, doch der Unterschied ihres Aussehens im Vergleich zu ihren blonden, blauäugigen Cousins und Cousinen war nicht zu übersehen. „Das hat mich eine Menge über Rassismus gelehrt, von dem ich viel abgekriegt habe“, sagte Burney. Sie war uneheliche Tochter eines Aborigine-Vaters und einer weißen Mutter. Sie wuchs bei einer Tante und einem Onkel auf, in einer Zeit, in der hellhäutige Kinder von Ureinwohnern ihren Familien weggenommen wurden, um in weißen Familien aufzuwachsen. Ihren Vater sah Burney mit 28 das erste Mal. Als Abgeordnete wird sich Burney weiter für die Belange der Ureinwohner einsetzen. Als ehemaliger Lehrerin liegt ihr die Bildung besonders am Herzen. Im Parlament will sie sich für die Homoehe einsetzen. „Das ist unvermeidlich und muss geschehen“, kündigte sie im Mai bei ihrer Abschiedsrede in ihrem alten Wahlkreis Canterbury an. B. S. Extremisten geschrumpft. Doch Bagdad hat keine wirksame Anti-Terror-Strategie VON INGA ROGG ISTANBUL taz | Keine Stadt der Welt hat in den letzten Jahren so sehr unter dem Terror von sunnitischen Fanatikern gelitten wie die irakische Hauptstadt Bagdad. Und doch stellt der Autobombenanschlag, den Extremisten in den Nacht auf Sonntag verübten, das Grauen der Vergangenheit in den Schatten. Familien mit Kindern und Jugendliche füllten die Straßen, um die Nacht nach dem Fastenbrechen zu genießen oder das EM-Viertelfinalspiel Deutschland gegen Italien zu sehen, als ein Selbstmordattentäter seinen mit Sprengstoff bepackten Wagen im zentralen Stadtteil Karrada in die Luft sprengte. Mehrere Gebäude gingen in Flammen auf, viele Opfer verbrannten bei lebendigem Leib. Mindestens 165 Menschen starben, die Nachrichtenagentur AFP sprach am Montag von mindestens 213 Toten. Es ist auf jeden Fall der schwerste Einzelanschlag, den Terroristen in den letzten dreizehn Jahren im Irak je verübten. Der „Islamische Staat“ (IS) bekannte sich sofort zu dem Massaker. Damit wolle der IS beweisen, dass er weiterhin existiere, sagen irakische Politiker. Ähnlich tönt es von Amerikanern. Mit dem Terror – der IS hat bereits im Mai einer Serie von Bombenanschlägen verübt – wolle der IS die Gebietsverluste wettmachen. IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani formulierte es Ende Mai in einer Audiobotschaft so: „Wir werden weiter existieren, auch wenn uns nur die Wüste bleibt.“ Als die Extremisten vor zwei Jahren das Kalifat ausriefen, traten sie an, um von Mossul und Rakka aus ihre Schreckensherrschaft in der ganzen Welt zu verbreiten. Doch sie mussten seitdem Niederlage um Niederlage einstecken. Im Irak verloren sie Tikrit und inzwischen fast die gesamte Provinz Anbar. Auch im Nachbarland Syrien ist das Kalifat geschrumpft. Mit Falludscha verloren die Extremisten ihre letzte Hochburg westlich von Bagdad und zugleich die Stadt, die sie am längsten kontrolliert hatten. Damit hätten sie ihren Stützpunkt für den Bau von Autobomben verloren, sagte Ministerpräsident Haider al-Abadi Ende Juni. Damit lag Abadi ganz offensichtlich nicht nur falsch, der Terror von Karrada offenbart auch eine eklatante Schwäche des irakischen Sicherheitsap- Der Hass hat sich in den letzten zwei Jahren noch vertieft parats. Obwohl es seit mehr als sieben Jahren bekannt ist, verwenden die Sicherheitskräfte bis heute Bombendetektoren, die auf Parfüm oder Zahnfüllungen reagieren, aber nur im Glücksfall auch auf Sprengstoff. An ihnen hat sich unter anderem die Wut der Menge entladen, die Abadi während eines Besuchs am Anschlagsort attackierte. Abadi hat daraufhin angekündigt, sie aus dem Verkehr zu ziehen. Aber das wird das Prob- lem nicht lösen. Den irakischen Sicherheitskräften fehlt es an guter Geheimdienstaufklärung, die es braucht, um Bombenanschläge zu verhindern. Dazu wiederum brauchen sie Sunniten, denn nur aus ihrem Umfeld können die Informationen über die Fanatiker kommen. Doch das Innenministerium wird heute von einer mächtigen schiitischen Miliz mit engen Beziehungen zum Nachbarland Iran kontrolliert. Sie wird die gewonnene Macht nicht abgeben, auch wenn Abadi, selbst ein Schiit, das wollte. Am Montag kündigte Abadi die Hinrichtung von verurteilten IS-Terroristen an. Massenhinrichtungen waren freilich genau einer der Faktoren, die vor zwei Jahren zum Aufstieg des IS aus seiner Vorgängerorganisation beitrugen. So korrupt wie das Justizsystem im Irak ist, sahen viele Sunniten darin nichts anderes als Racheakte. Und daran hat sich nichts geändert. Oft wird vergessen, dass der IS nicht erst seit 2014 existiert. Die Organisation hat im Irak Nach dem Selbstmordanschlag in Karrada am Sonntag: Sie warten auf Nachrichten über vermisste Angehörige Foto: Hadi Mizban/ap IS-Anschlag in Bangladesch ■■Nach der tödlichen Geiselnah me in der Hauptstadt Dhaka, bei der 20 Menschen ums Leben kamen, haben die Sicherheits kräfte vorerst 5 der 13 befreiten Geiseln festgehalten. Darunter ist ein Mann, der mit seiner Frau und zwei Kindern noch vor dem Polizeieinsatz von den Geisel nehmern freigelassen worden war. Zeugen sollen erklärt haben, er sei Dozent an einer Universi tät, an der einer der Angreifer studierte. Am Samstag waren schwer bewaffnete Männer in ein Lokal im Reichenviertel von Dhaka eingedrungen. Unter den 20 Getöteten waren neun Italiener, sieben Japaner und ein Inder. Zwei Polizisten sowie sechs Angreifer kamen bei dem Einsatz ebenfalls ums Leben. Zwei Tatverdächtige wurden festgenommen. (ap, taz) eine mittlerweile 13-jährige Geschichte. Mit den Bombenanschlägen kehrt der IS in gewisser Weise zu seinen Wurzeln zurück. Die Amerikaner wurden dem Terror erst Herr, indem sie im großen Stil Sunniten rekrutierten, bezahlten und den Weg für ihre Einbindung in die politische Neuordnung des Irak ebneten. Dass dies die größte Gefahr für sie ist, wissen die Fanatiker. Auch deshalb ermorden sie gezielt Sunniten, die sich auf die Seite der Schiiten oder Amerikaner schlagen. Und trotzdem ist eine Wiederauflage der amerikanischen Anti-Terror-Strategie von vor zehn Jahren heute nicht mehr möglich. Die Schiiten wollen von den Sunniten eine Antwort darauf, warum sich Sunniten auf die Seite der Terroristen geschlagen haben, warum sie keinen Widerstand geleistet haben und warum viele zu den Verbrechen des IS an schiitischen Rekruten, Soldaten und Zivilisten geschwiegen haben. Die Sunniten ihrerseits fordern Rechenschaft über die Verbrechen, die schiitische Milizen verübten. Der Hass, den der 2006 von den Amerikanern getötete Kopf der IS-Vorgängerorganisation säte, hat sich in den letzten zwei Jahren noch vertieft. Gleichzeitig drohen nach der Vertreibung des IS in den sunnitischen Gebieten Fehden zwischen Stämmen, die auf der jeweils gegnerischen Seite standen. Das alles verschafft den Extremisten den Raum und die Luft, die sie für ihr Unwesen brauchen. Der Irak ist noch lange von einem dauerhaften Frieden entfernt. Karrada, ein buntes Ausgehviertel IRAK II Der jüngste Anschlag traf das kulturelle Herz Bagdads mit seinen Geschäften, Cafés und Eisdielen ISTANBUL taz | Es gibt nicht viele Orte, an denen sich Iraks Hauptstädter nachts vergnügen können. Außer Karrada gibt es genau genommen sogar nur einen anderen Ort, das mehrheitlich sunnitische Mansur mit seinen Villen und Botschaften. Aber Karrada ist anders. Der Stadtteil im Zentrum von Bagdad ist das kulturelle Herz und Ausgehzentrum der Stadt. Die Straße, in der sich in der Nacht auf Sonntag ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte, ist zwar nicht so schön wie die Istiklal in Istanbul. Aber auch hier reihen sich Geschäfte, Cafés und Eisdielen aneinander. An der Straße kann man ablesen, ob es gerade auf- oder abwärts geht im Land. Wer an die Zukunft glaubt, investiert zuerst in Karrada, so wie der Besitzer des Hadi-Geschäftshauses, in dem viele der Opfer in der Flammenhölle starben. Gerade in den Sommernächten, wenn es in Bagdad schier unerträglich heiß ist, kommen die Bürger aus der ganzen Stadt nach Karrada, um zu bummeln, einzukaufen oder in einem der Restaurants zu speisen. Es ist auch der Stadtteil, in dem sich junge Leute tätowieren lassen oder sich bei einer Wasserpfeife mit einer heimlichen Liebe treffen können. Wenn nicht gerade Ramadan oder ein hoher islamischer Feiertag ist, bieten Läden ganz offen Alkohol an. In den dunklen Gassen abseits der Einkaufsstraße blüht die Prostitution. Der Platz vor dem PalestineHotel, wo US-Marines im April 2003 die riesige Statue des ehemaligen Despoten Saddam Hussein vom Sockel stürzten, ist nicht weit. Gleich nebenan liegt der Alwiya-Club, der älteste Club von Bagdad. Um Mitglied in dem von Briten gegründeten Club zu werden, muss man ein kleines Vermögen von mehreren Tausend Dollar Jahresbeitrag auf den Tisch blättern. Am Südende der Halbinsel, auf der Karrada liegt, hat sich nach 2003 eine neue Elite die Nobelvillen unter den Nagel gerissen, in denen einst Saddams Verwandtschaft und hochrangiges Gefolge wohnte. Ein reicher Geschäftsmann eröffnete hier ein schickes Restaurant, ein anderer kürzlich einen vornehmen Club, in dem man die besten Musiker des Irak hören kann. Wem dafür das Geld fehlt, der kommt in die Straße, in der der Anschlag stattfand. Und weil Ramadan ist, wo viele nach dem Fastenbrechen bummeln gehen, war sie in der Nacht auf Sonntag so voll. Aber Karrada ist nicht nur das Vergnügungsviertel der Stadt. Es spiegelt auch das multi ethnische und multireligiöse Gesicht der Stadt. Zwar bilden die Schiiten nach den Vertreibungen im letzten Jahrzehnt heute die Mehrheit. Aber noch immer leben hier Christen und Sunniten – nirgendwo im Land gibt es so viele Kirchen auf einem Fleck wie in Karrada. Auch darauf zielten die Fanatiker mit INGA ROGG ihrem Anschlag. Schwerpunkt Erinnerung DI ENSTAG, 5. JU LI 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Polen nur als Opfer: So möchte die Regierung in Warschau Geschichte verstanden wissen. Doch die Fakten sind manchmal andere Legende der unbefleckten Nation GEDENKEN Zum 70. Jahrestag des Pogroms von Kielce verurteilt Staatspräsident Duda jedweden Antisemitismus. Doch polnische Bürger als Täter dieses Judenmords von 1946 kommen bei ihm nicht vor AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER Bis zum letzten Moment zweifelt der Journalist und Psychologe Bogdan Białek, ob Polens Staatspräsident Andrzej Duda tatsächlich zum 70. Jahrestag des Pogroms von Kielce kommen würde. „Ich habe ihn zur Gedenkfeier eingeladen“, sagt der 61-Jährige. „Aber es kam nicht einmal eine Antwort“, zuckt er die Schultern. „Letztlich ist ja auch die tägliche Arbeit hier vor Ort entscheidend. Wir Kielcer müssen schließlich damit klarkommen, dass wir 1946 mit dem ‚Pogrom von Kielce‘ schmachvoll in die Weltgeschichte eingingen. Das ist nicht leicht“, seufzt er. Doch dann kommt Duda doch noch, nimmt am Gebet auf dem jüdischen Friedhof teil, legt einen Kranz nieder und hält eine kurze Gedenkrede. „Es gibt keine Rechtfertigung für antisemitische Verbrechen, und es wird keine geben“, betont Duda. „Am 6. Juli 1946 verhielten sich staatliche Organe – die Armee, die Miliz und der Geheimdienst – in seltsamer, ja bestialischer Weise. Sie eröffneten als Erstes das Feuer auf die Opfer. Statt unseren Mitbürgern zu helfen und sie zu schützen, griffen sie sie an und ließen sie dann allein.“ Während die mitgereisten Staatsbeamten keine Miene verziehen, senkt Pokels orthodoxer Oberrabbiner Michael Schudrich den Blick auf den Boden. Noch sind die Schlüsselworte „Jude“ und „Pole“ nicht gefallen. Nach einem kurzen Seitenblick auf Schudrich fährt Duda fort: „Polen und Juden lebten hier tausend Jahre zusammen, schlossen Ehen und Freundschaften. Schudrich lehnt sich inzwischen an die Hauswand an. Duda fährt fort: „Ich will hier mit allem Nachdruck betonen, dass diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, sich automatisch aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen haben, aus der Republik der Freunde.“ Während die Beamten zustimmend nicken, sackt Schudrich immer mehr in sich zusammen. Es ist nun klar, dass der Präsident nur den kommunistischen Staatsapparat für die Verbrechen verantwortlich machen will. „Polen“ kann er unter den Tätern nicht erkennen. Vor wenigen Monaten hatte der Warschauer Sozialpsychologe Michał Bilewicz darauf aufmerksam gemacht, dass die regierende rechtsnationale Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine ganz spezifische Ethnisierung der Täter vornimmt. In der neuen Geschichtspolitik Polens tauchen katholische Polen immer nur als Helden und Opfer auf. Sollten sie doch einmal zu Tätern geworden sein, sind sie automatisch keine Polen mehr, sondern nur noch „Verbrecher“, „Menschen“ oder „Kommunisten“. Vor wenigen Tagen erinnerte der PiS-Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński in Białystok an das Verbrechen einer berüchtigten Polizeieinheit aus Hamburg. Am 27. Juni 1941 hatte sie 2.000 Juden ermordet und die große Synagoge von Białystok in Brand gesteckt. Kaczyński sagte vor dem Denkmal: „Der Holocaust ist die Schuld des deutschen Staates und des deutschen Volkes, das Hitler bis zum Ende unterstützte. Die deutsche Armee hat monströse Verbrechen begangen. Wir müssen heute daran erinnern, in hundert Jahren, zweihundert, fünfhundert und sogar in tausend Jahren.“ Die PiS will per Gesetz verbieten lassen, dass künftig Journa- Präsident Duda am Montag in Kielce: „Kein Platz für irgendeine Form von Vorurteilen“ Foto: Czarek Sokolowski/ap listen, Historiker oder Politiker über die Beteiligung von Polen an Pogromen und anderen Judenmorden sprechen oder forschen. „Wir müssen auch deshalb darüber sprechen“, so Kaczyński in Białystok“, weil die Verantwortung nicht geteilt werden darf, wie dies in letz- ter Zeit versucht wird.“ Selbst wenn sich Polen gegen Juden vergangen hätten, sei dies allein auf die vorherigen Verbrechen der Deutschen zurückzuführen. „Die Schuld ist ganz klar“, so Kaczyński, und auch im Falle des Pogroms von Jedwabne dürfe sie nicht dadurch In der Geschichts politik tauchen katholische Polen immer nur als Hel den und Opfer auf verdeckt werden, dass man am Ende ein Verbrechen völlig losgelöst von seinem eigentlichen Verlauf darstelle. Das Pogrom von Jedwabne fand am 10. Juli 1941 statt, kurz nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjet union. SS-Männer hatten in den seit 1939 sowjetisch besetzten Gebieten Polens zu Pogromen angestiftet. Die katholischen Bauern könnten in den nächsten Tagen selbst ihre jüdischen Nachbarn umbringen oder aber das Morden den Einsatzgruppen überlassen, hieß es. Der polnisch-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross löste mit seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Buch „Nachbarn“ die heftigste und längste Geschichtsdebatte in Polen aus. Viele hörten von diesem Pogrom zum ersten Mal. Das Entsetzen wurde immer größer, als die Zahl der Pogrome mit der weiteren Forschung immer weiter stieg. Viele weigerten sich, ihr bisher von der kommunistischen Zensur geschütztes Geschichtsbild als „Helden und Opfer der Geschichte“ aufzugeben. So auch Kaczyński und viele seiner Anhänger. „Wir haben wie jedes Jahr ein paar Busse gechartert“, erklärt Lesław Piszewski, der Vorsitzende des Jüdischen Gemeindebundes in Polen. „Wir werden der Toten von Jedwabne gedenken, aber auch in einige andere Pogrom-Orte in der Umgebung fahren, die weniger bekannt sind.“ Ob Polens Präsident Andrzej Duda am kommenden Sonntag am 75. Jahrestag des Pogroms teilnehmen werde, wisse er nicht. „Wir haben angefragt“, sagt er und zuckt die Achseln. „Von dieser neuen Politikern an der Macht kriegen wir fast nie eine Antwort.“ Pogrome , Ritualmordlegenden und ein Massenexodus WARSCHAU taz | Während Ausch- witz weltweit als Symbol für den vor allem von Deutschen begangenen Holocaust gilt, steht Kielce für den Nachkriegs-Antisemitismus in Polen. Der Mord an mehr als 40 Überlebenden des Holocaust und SowjetunionHeimkehrer läutete den Massenexodus der polnischen Juden ein. In Panik vor dem Hass der Nachbarn packten Zehntausende ihre Koffer und verließen das Land. Die Täter des Pogroms aber waren polnische Arbeiter, Hausfrauen, Passanten, Milizionäre, Soldaten und Agenten des Geheimdienstes. Dabei hatten die überlebenden Warschauer Juden – wenige tausend von einst 350.000 – noch am 19. April 1946, dem drit- Vor 70 Jahren ermordete ein wütender Mob im polnischen Kielce mehr als 40 HolocaustÜberlebende. Fast alle Juden verließen danach ihre Heimat GESCHICHTE ten Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes, ein kleines Denkmal für die von den Nazis ermordeten Juden eingeweiht und dabei Antwort auf die Frage gegeben: „Wie soll es nun weitergehen?“ Neben Palmund Ölzweig, den Symbolen für Frieden und Neuanfang nach der Sintflut, steht dort der erste Buchstabe der hebräischen Bibel – „bet“. Die Überlebenden der einst 3,5 Millionen Juden in Polen wollten von vorne anfangen: „Bereschit … Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“. Doch nur drei Monate später, als ein Gerücht über einen Ritualmord an einem katholischen Kind das Pogrom von Kielce auslöste, war für viele polnische Juden klar, dass es in ihrer alten Heimat keine Zukunft mehr geben würde. Trotz Bitten an die katholische Kirche, die Gläubigen darüber aufzuklären, dass Juden kein Blut von Christenkindern für die Produktion von Matzebrot aus Mehl und Wasser brauchten, schwiegen fast alle Bischöfe. So löste die Ritu- almordlegende in mehreren polnischen Städten weitere Pogrome aus, wie in Krakau und Rzeszów. Anderswo, so in Lublin, Włocławek und Tschenstochau, konnten Morde nur in letzter Minute verhindert werden. In mehreren großen Emigrationswellen verließen die rund 300.000 überlebenden polnischen Juden ihre einstige Heimat. Heute leben in Polen noch schätzungsweise 30.000 Juden. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 2011 gaben 8.000 Menschen an, Juden zu sein. Rund 1.500 gehören als gläubige Juden den orthodoxen und liberalen Gemeinden Polens an. In diesem Monat steht noch ein zweiter schwieriger Jahrestag an: Am Sonntag, dem 10. Juli, jährt sich zum 75. Mal das Pogrom von Jedwabne. Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion und damit auch in die bis dahin sowjetisch besetzten Territorien Polens stellten SS-Männer die Einwohner von Jedwabne vor die Wahl, entweder selbst ihre jüdischen Nachbarn zu ermorden und dann deren Eigentum unter sich aufzuteilen oder auf die Ankunft der neuen Besatzungs- 2011 gab es in Polen 8.000 Juden. 1.500 gehören als Gläubige jüdischen Gemeinden an macht zu warten, die dann die Juden ermorden würde. Nicht alle, aber viele Jedwabner nahmen den Mord an ihren jüdischen Nachbarn in die eigenen Hände. Mit Äxten, Sicheln und Mistgabeln gingen sie auf jüdische Frauen, Kinder und Männer los. Die meisten Juden aus Jedwabne verbrannten bei lebendigem Leib in einer alten Scheune am Ortsrand. Wie viele Opfer es gab, ist bis heute nicht geklärt. Die Zahlen schwanken von 400 bis 1.600. Ähnliche Kriegspogrome – mit und ohne Anstiftung der Deutschen – gab es in über 70 Städten Polens. Der Historiker Jan Tomasz Gross hat das Pogrom von Jedwabnwe mit „Nachbarn“ weltweit bekannt GABRIELE LESSER gemacht.
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