SWR2 Forum Buch vom 30.11.2014

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Mit neuen Büchern von: Christina Nichol, Castle Freeman,
Stewart O'Nan, Peter Carey, John Irving
Sendung: Sonntag, 03. Juli 2016
Redaktion: Carsten Otte
Produktion: SWR 2016
Christina Nichol: Im Himmel gibt es Coca-Cola
Aus dem Englischen von Rainer Schmidt
Mare Verlag, Roman, 448 Seiten, 22 Euro
Gespräch mit Gespräch mit Birgit Koß
Castle Freeman: Männer mit Erfahrung
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Nagel & Kimche, Roman, 176 Seiten, 18,90 Euro
Rezension von Marcela Drumm
Stewart O'Nan: Westlich des Sunset
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag, Roman, 416 Seiten, 19,95 Euro
Gespräch mit Eberhard Falcke
Peter Carey: Amnesie
Aus dem Englischen von Anette Grube
S. Fischer Verlag, Roman, 464 Seiten, 24,99 Euro
Rezension von Zoe Beck
John Irving, Die Straße der Wunder
Aus dem Englischen von Hans M. Herzog
Diogenes Verlag, Roman, 784 Seiten, 26 Euro
Rezension von Johannes Kaiser
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Castle Freeman: Männer mit Erfahrung
Von Marcela Drumm
Atmo: Western, dörflich, Hund jault in der Ferne.
Autorin:
Ein Tag im Hochsommer im amerikanischen Vermont.
In einem kleinen Kaff, geprägt von Arbeitslosigkeit und Langeweile.
Musik (Richmoind Fontaine, instrumental, dezent )
Sprecher: Ausschnitt' Männer mit Erfahrung' S.
Die Stunden strecken sich. Sie dehnen sich und nehmen alles auf, was man in
sie hineinsteckt; sie nehmen alles, was man hat: Geschäftigkeit,
Untätigkeit, gute Ideen, schlechte Ideen, Gespräche, Liebe, Ärger, Lügen jeder Art – alles.
Auch Arbeit? Nein. Niemand arbeitet mehr.
Autorin:
Wie in Zeitlupe beginnt Castle Freemanns Roman, der vom Verlag als Thriller beworben
wird. Man sieht sie förmlich vor sich: eine vor Hitze flirrende, staubige Westernkulisse, in
der vor dem inneren Auge,- wie im Klischee, Gestrüppballen, durch einsame Gassen
kugeln. Die wenigen Menschen, die sich darin bewegen haben es nicht eilig. Wie Sheriff
Ripley Wingate. Bei seinem morgendlichen Streifzug entdeckt er eine junge Frau namens
Lilian in ihrem Auto. Bewaffnet mit einem kleinen Obstmesser, mit dem sie sich zu
verteidigen gedenkt. Gegen einen Typ namens Blackfield. Der Typ soll am Vorabend ihre
Katze ermordet haben, und die junge Frau fürchtet nun sein nächstes Opfer zu werden.
Schnell wird ihr vom trägen Sheriff klargemacht, dass er ihr nicht helfen wird. Zumindest,
solange keine Beweise gegen Blackfield vorliegen. Auch wenn er Blackway kennt und ihr
durchaus glaubt, dass sie in Gefahr ist. Lilian ist außer sich.
Ausschnitt aus 'Männer mit Erfahrung' S. 13
Sprecherin: Sie sagen, ich muss warten, bis er irgendwas tut, bis er mich kriegt und mich
umbringt, bevor Sie irgendwas tun können.»
Sprecher alias Sheriff: «So könnte man es ausdrücken»
Sprecherin: «Wie würden Sie es denn ausdrücken?»
Sprecher: «Genau so.»
Autorin:
Stattdessen rät der Sheriff der erst kürzlich zugezogenen Frau einfach wegzuziehen. Oder
sich hilfesuchend an eine Gruppe älterer Männer zu wenden, die regelmäßig vor der alten
Stuhlfabrik abhängen. Männer, die, wie Lilian schnell feststellen muss, ziemlich kauzig
sind, und die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun haben,
2
als zu saufen und über's Leben zu philosophieren. Zwei davon werden über Lilians Kopf
hinweg für den Job auserkoren, ihr zu helfen: Lester und Nate. Typen, die Lilian nicht sehr
vertrauenswürdig erscheinen.
Sprecherin:
„Es geht mir nicht nur um mich, sondern auch um die beiden. Die verspeist Blackway zum
Frühstück.“
Autorin
Doch was soll sie machen? Zähneknirschend macht sie sich auf den Weg, mit zwei
komischen Typen im Schlepptau, denen sie wahrscheinlich nicht mal ihre Katze anvertraut
hätte.
Atmo:Auto fährt an
Autorin:
Viel erfährt man nicht, über das seltsame Trio, das sich nun im Laufe des Romans in
einem kleinen Escord auf die Suche nach dem ominösen Blackway macht.
Da ist Lilian, die alleinstehende junge Frau mit den langen Haaren,- die einst der Liebe
wegen in den gottverlassenen Ort kam, mittlerweile aber von ihrem Freund verlassen und
jetzt von Blackway bedroht wird. Mehr erfährt man nicht von ihr. Und dann sind da die
zwei Männer aus Whizzers Stuhlfabrik, die diese junge Frau beschützen sollen. Lester,
der zwar ein alter Knacker, aber ziemlich ausgekocht sein soll. Und der junge, hünenhafte
Nate. Auch 'Nate the Great' genannt. Der zwar nicht das hellste Licht auf der Torte zu sein
scheint. Aber immerhin:
Sprecher 2:
Er war groß, mit langen Armen und Beinen und kräftigen Handgelenken. Keiner, der
viele Bücher las, keiner, der viele Worte machte. Intelligenter als
ein Pferd, aber nicht so intelligent wie ein Traktor.
Autorin:
Mit mehr Charakterisierung seiner Figuren hält sich der Autor nicht unnötig auf. Warum die
Männer der fremden Frau helfen wollen, den überall gefürchteten Blackway.ja was? Zur
Rede oder zur Strecke zu bringen? Der Leser erfährt es nicht. Und trotzdem wird man
sofort reingesogen in die merkwürdige, wortkarge Stimmung des Romans. Begibt sich mit
den Figuren ohne Umwege zu den verschiedenen Schauplätzen auf die Suche nach dem
personifizierten Bösen. Dem geheimnisvollen, Blackway, um den sich viele Legenden
ranken.
Erzählt werden diese Legenden von den anderen Männer der Stuhlfabrik, die wie auf dem
Logenplatz, die beiden Rentner von der Muppetshow,- das Geschehen kommentieren,
alles besser wissen, und untereinander Wetten abschließen, wer am Ende gewinnen wird.
Der finstere Blackway oder die junge Frau und ihre männlichen Helfer. Gleichzeitig bastelt
der ewig lästernde Männerclub vor der Stuhlfabrik fleißig an der Mythenbildung, des
angeblich unbesiegbaren Bösewichts.
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Sprecher 1: S. 76
„Wisst ihr noch, die Sache im Fort damals?“//Wie lange ist das her 10 Jahre? 12?
Sprecher 2: Was war denn da?
Sprecher 1: „Ach, irgendwann haben sich Scotty und sein Bruder und zwei Freunde im
Fort mit Blackway angelegt. Ich hab' nie rausgekriegt, warum. Jedenfalls waren sie zu
viert, und Blackway war allein, und sie dachten, das passte und sind auf ihn losgegangen.
Sprecher 3: „Schwerer Fehler.“
Sprecher 1: „Sehr schwerer Fehler! Blackway hat drei von ihnen krankenhausreif
geschlagen. Scottys Kiefer war ein paar Monate lang verdrahtet, er konnte nur Suppe
essen./ Sein Bruder hat einen Tritt in die Eier gekriegt/ der eine Freund war drei Tage lang
bewusstlos“// das Ganze hat ungefähr eine halbe Minute gedauert.//
Sprecher 2: „Was ist aus dem Vierten geworden?“
Sprecher 1: „Der rennt noch immer.“ sagte Whizzer.
Autorin:
Anders als das mutige Trio, das furchtlos einen Tatort nach dem anderen absucht, wo
Blackway zuletzt gesehen worden und sein Unwesen getrieben haben soll. Ihre Suche
führt sie in die eine oder andere Spelunke. So z.B in eine abgeratzte Bar...
Sprecher 3 S. 96
Fort Bob war nicht die Art von Bar, wo man sich auf dem Weg nach Hause einen
Feierabenddrink genehmigte. Es war eher die Art von Bar, wo
man sich viele Drinks auf dem Weg zur Arbeit genehmigte,
wo man bald darauf gefeuert wurde und den ganzen Tag im
Fort verbringen konnte.
Autorin:
ebenso ein ranziges Bordell.
Sprecher 3: S. 80
Das High Line war kein guter Ort. Es war traurig, schmutzig, halb leer, ein Biotop für
traurige, schmutzige, halbleere Menschen, die nicht gesehen werden wollen:
Untergetauchte, Selbstmörder, Säufer, Süchtige,Händler mit Waren, mit denen man auf
keinen Fall handeln sollte. Vor allem aber für Ehebrecher. Rastlose Männer aus
Bennington, Rutland oder Brattleboro fuhren dorthin, mit Frauen,die nicht ihre Frauen, und
Männern, die nicht bloß gute Freunde waren. //
Praktisch nichts anderes als ein guter alter Puff nur ohne Klavier und warmherzige alte
Puffmutter.
Atmo: Auto Kiesweg
Lillian und die beiden Männer bogen auf den Parkplatz des High Line ein. Nate hielt vor
dem Eingang an. Sie saßen da und musterten das Gebäude.
Sprecherin: alias Lilian: «Das ist es?»,
Sprecher 2 alias Lester: «Das ist es», sagte Lester.
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Sprecherin: alias Lilian: «Was für eine Bruchbude. Und es gibt tatsächlich Leute, die
dafür bezahlen?»
Sprecher 2 alias Lester: «Die bleiben ja nicht lange. Was ich meine, ist: nicht lange am
Stück. Stimmt’s, Nate?»
Sprecher 1 alias Nate: «Yo.“
Autorin
Knappe wörtliche Rede, mit Figuren, die gerne aneinander vorbeireden, sich wie im
echten Leben, gegenseitig nicht zuhören oder Fragen mit Gegenfragen beantworten. An
diesen Stil muss man sich erst mal gewöhnen. Klar, vor allem die Dialoge sollten bewusst
ungeschliffen und authentisch rüber kommen, und als Hörspiel und als filmische
Übersetzung funktioniert das wunderbar. Aber wenn man sie nur liest, sind die er fragtesie-sagte-Dialoge doch etwas ermüdend. Ähnlich würde es einem bei der Lektüre eines
Cohnen Brüder- Drehbuchs gehen. Und vielleicht ist es das was Castle Freeman
eigentlich tun sollte: Drehbücher verfassen. So ist es kein Zufall, dass 'Männer mit
Erfahrung' in den USA bereits verfilmt wurde. Sogar mit Starbesetzung: Anthony Hopkins
und Julia Stiles. Der Titel des Films ist nach dem geheimnisvollen Bösewicht BLACKWAY
benannt, dem die drei schließlich in einem unheimlichen Waldgebiet suchen, eine Art
Niemandsland ohne Gesetz und Ordnung, von dem es heißt, dort würden Menschen auf
nimmer Wiedersehen verschwinden.
Musik: Düstere instrumental Musik
Sprecherin: S. 134
Blackway war unterwegs. War er schon da, irgendwo im Wald,
und beobachtete sie? Nein. Aber in der Nähe. Sie konnte seine
Anwesenheit spüren wie die feuchte Kühle, die eine Brise von
einem Teich oder Bach herbeitrug. Blackway war unterwegs,
und Nate und Lester konnten und wollten ihm nicht aus dem
Weg gehen. Sie mussten es durchziehen. /Und wenn Blackway Nate und
Lester erledigt hatte und nur Lillian übrig war – was würde er
dann tun?
Autorin:
Nur 160 Seiten umfasst Castle Freeman kleiner dicht gewebter Roman, der nur einen
einzigen spannenden Tag beschreibt und mit zwei kleinen Handlungssträngen auskommt:
drei ungleiche Dorfbewohner auf der Suche nach dem Bösewicht, paralell kommentiert
vom Chor der saufenden Hinterwäldler in der Stuhlfabrik. Westernklassiker mit eher
schlicht gestrickten Charakteren trifft auf absurdes Theater. Es geht um 'gut gegen böse',
um das Leben in der Provinz und um Selbstjustiz. Kein Meisterstück, aber durchaus
unterhaltsam bis zum Schluss.
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Peter Carey: Amnesie
Von Zoe Beck
Der Zeitraum, den Peter Carey in „Amnesie“ abdeckt, entspricht ziemlich genau seinem
Lebensalter: Während des zweiten Weltkriegs werden amerikanische Soldaten in
Australien stationiert, es kommt zu regelrechten Schlachten zwischen einheimischen und
fremden Männern – es geht dabei um Frauen. Einer der Amerikaner vergewaltigt 1943 ein
junges Mädchen, das daraufhin eine Tochter bekommt. Diese wiederum ist die Mutter der
Hackerin Gabrielle, die im Mittelpunkt des Romans steht.
Gabrielle ist ein Kind der Liebe. Ihre Mutter Celine ist eine bekannte Schauspielerin, der
Vater ein Labor-Politiker. Zum exakten Zeitpunkt ihrer Geburt im Jahr 1975 wird Australien
von einer Regierungskrise erschüttert. Angeblich steckte die CIA hinter der Absetzung des
Labor-Premierministers. Nun sieht es so aus, als hätte sich die Hackerin fünfunddreißig
Jahre später an den Amerikanern gerächt: Gabrielle hat es mittels einer
Softwaremanipulation geschafft, die Sicherheitsschlösser australischer Gefängnisse zu
öffnen. Allerdings wurde dasselbe Sicherheitssystem auch in fünftausend USGefängnissen benutzt, weshalb auch dort die Gefangenen ungehindert abhauen konnten.
Sie wird nicht nur von den australischen Behörden gejagt, es droht auch eine Auslieferung
an die USA. Wollte sie mit ihrer Aktion lediglich Flüchtlinge in ihrem Land befreien, oder
hatte sie von Anfang an vor, in Amerika Chaos zu stiften?
Der Roman beantwortet diese Frage nicht. Überhaupt gibt er nur wenige eindeutige
Antworten. Die gesamte Geschichte ist aufgrund des Aufbaus und der Erzählweise durch
und durch unzuverlässig. Zunächst wird man mit einem höchst zweifelhaften Ich-Erzähler
konfrontiert: Felix Moore, ein gealterter, abgehalfterter investigativer Journalist, von dem
nicht klar ist, ob es sich um ein Genie oder einen Mistkerl handelt, möglicherweise beides,
das schließt sich ja nicht aus. Er wittert die Geschichte seines Lebens, als er gebeten wird,
ein Buch über Gabrielle zu schreiben. Sein Auftraggeber ist ein alter Freund, kein
Verleger, sondern ein Immobilienkönig. Und in Gabrielles Mutter, die immer noch schöne
Schauspielerin Celine, war der Journalist in jungen Jahren heftig verliebt. Diese beiden
Menschen aus seiner Vergangenheit verfolgen nicht etwa die gleichen Interessen, obwohl
es zunächst so aussieht, und Felix steigt nicht wirklich durch. Er weiß nur, dass er sich auf
eine ganz finstere Sache eingelassen hat. Kaum hat er den Vertrag unterschrieben,
begreift er, dass er von nun an weder Kontrolle über seinen Text, noch über sein Leben
haben wird. Und Gabrielle, über die er eigentlich schreiben soll, trifft er nur kurz. Sie und
ihre Mutter sprechen ihm mehrere Tonbänder voll. Seine Aufgabe: Gabrielle soll
unschuldig und nett wirken. Jedenfalls will das ihre Mutter. Gabrielle hingegen scheint zu
all ihren Taten zu stehen.
Im zweiten Teil rückt der Autor von Felix Moores Ich-Perspektive ab. Kunstvoll werden nun
die Tonbandaufzeichnungen von Mutter und Tochter mit dem, was sich der Journalist
dabei denkt und was er daraus macht, verwoben. An einer Stelle wird sogar darauf
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hingewiesen, dass der allwissende Erzähler doch nur wenig weiß, und während Felix
Moore die Biografie der Hackerin auf einer alten Schreibmaschine tippen muss, werden
diese Seiten von nicht näher bestimmten Personen offenbar redigiert und digitalisiert,
jedenfalls liest man in Klammern etwas von einer fünften Fassung, die gleichzeitig die
erste Digitalfassung sein soll, und damit wohl auch die Grundlage für den Roman, den wir
in den Händen halten. Peter Carey demontiert dadurch höchst geschickt alles, was für
einen Leser zuverlässig hätte sein können.
Warum Gabrielle nun die Gefängnisse geöffnet hat, dazu kommt Felix Moore also gar
nicht. Er berichtet, wie es 1943 zu Celines Empfängnis kam, wie sie aufwuchs und als
junge Frau lebte, er beschreibt Gabrielles Teenagerzeit in den Achtzigern und frühen
Neunzigern ausführlich, wie sie mit Computern in Berührung kam und Programmieren und
Hacken lernte, und ihre Geschichte gipfelt in ihrem ersten großen Coup - sie ist immer
noch Teenagerin, als sie vor laufenden Fernsehkameras einen Chemiekonzern der
Umweltverschmutzung überführt. Von nun an ist sie Cyber-Aktivistin, diejenige, die den
Kopf hinhält, damit alle anderen Helfer in der Anonymität bleiben können. Nicht zufällig
erinnert so einiges an den WikiLeaks-Sprecher Julian Assange, und so wundert es wenig,
dass der Autor Peter Carey gefragt wurde, ob er Assanges Biografie als Ghostwriter
schreiben wolle, was er allerdings ablehnte. Die Krise von 1975 könnte zu der Gründung
von WikiLeaks geführt haben, sagt Carey in Interviews, und wie sein Journalist Felix
Moore merkt er an, dass die Australier bequemerweise vergessen haben, wie sehr sie
doch ein Vasallenstaat der USA sind.
„Amnesie“ ist politisch und historisch hochinteressant, entfaltet seine eigentliche Qualität,
besonders unter literarischen Gesichtspunkten, aber erst im zweiten Teil. Gleich nach dem
fulminanten Einstieg auf der ersten Seite flacht der Roman merkwürdig ab. Man muss
Geduld beim Lesen mitbringen, dem ersten Teil einiges an Längen nachsehen und sich
fast zweihundert Seiten durch die schmerzhaft unangenehme, gewollt komische
Perspektive von Felix Moore kämpfen, der anschließend fast zur lästigen Nebenfigur
verkommt. Dann aber lohnt es sich, bis zum Schluss dranzubleiben, wirklich bis zum
letzten Satz, in dem Peter Carey noch einmal bitter und ironisch nachzutreten weiß.
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John Irving, Die Straße der Wunder
Von Johannes Kaiser
Erzähler:
Er hat es schon wieder getan und seine Hauptfigur umgebracht. Schon auf
den ersten Seiten seines neuen Romans ‚Die Straße der Wunder‘ weiß man oder ahnt
man zumindest, dass am Ende der Geschichte der Schriftsteller Juan Diego tot sein wird.
Es ist dies typisch für John Irving und gewissermaßen sein Markenzeichen: Seine
Hauptfiguren müssen leiden.
O-Ton Irving (engl.)
Sprecher: „Ich unternehme alles in einer Geschichte, um meinen Romanfiguren, die
eigentlich gut sind, das Leben schwerer zu machen. Meine Geschichten mögen komisch
sein, sie mögen unterhaltsam sein, voller sinnlicher Vergnügen, bis es damit zu Ende ist.
Sie alle laufen auf ein tragisches oder trauriges Ende hinaus. Tragikomödie ist das, was
ich mache.“
Erzähler:
Besser kann man John Irvings neuen Roman kaum beschreiben. Im
Mittelpunkt steht der erfolgreiche, aus Mexiko stammende amerikanische Schriftsteller
Juan Diego. Er ist gerade zu einer langen Reise auf die Philippinen aufgebrochen, um ein
Versprechen einzulösen, dass er noch als Kind in Mexiko während der Zeit des
Vietnamkrieges einem amerikanischen Kriegsdienstverweigerer gegeben hatte. Dessen
Vater war während des 2.Weltkrieges dort gefallen. Sein Grab zu besuchen hatte Juan
Diego dem Gringo zugesagt. Die Reise ist für ihn auch eine Reise in die eigene
Vergangenheit, denn in seinen schlaflosen Nächten erinnert er sich an seine Kindheit als
Müllsammler in der mexikanischen Stadt Oaxana:
O-Ton Irving (engl.)
Sprecher: „Er ähnelt sehr stark den Hauptfiguren in 13 der 14 Romane. Auch ihm stößt
in der Kindheit etwas zu. In diesem Fall ist er erst 14, also zwischen Kindheit und jungem
Mann, aber noch mehr Kind als Erwachsener. Irgendetwas stößt ihm zu, das nicht nur sein
Leben ändert, sondern auch die Art seines Erwachsenseins prägt. Es hat im gewissem
Sinne eine lebenslange Dauerwirkung.“
Erzähler:
So viel ist von Anfang an klar: aus dem Kind, das zusammen mit seiner
Schwester auf einer Müllkippe lebte und Müll sortierte, ist später ein prominenter
Schriftsteller geworden. Allein das ist schon verwunderlich genug und weckt auch unsere
Neugier. Wie ist es zu dieser Metamorphose gekommen?
Im Laufe des Romans entdeckt uns John Irving in klassisch-epischem Erzählstil in
zahlreichen Rückblenden die wundersame Errettung des Müllkindes. Das hat sich aus
weggeworfenen Büchern nicht nur das Lesen und auch Schreiben beigebracht, sondern
auch noch aus zerflederten Romanen Englisch gelernt. Kurzum ein hochintelligentes Kind.
Allerdings hat Juan seit einem unglücklichen Unfall einen verkrüppelten Fuß und hinkt
stark. Seine Familienverhältnisse sind alles andere als klar: seine Mutter schafft auf der
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Straße an und putzt in der Waisenschule der Jesuiten. Juan und ihre Tochter Lupe sind ihr
herzlich egal. Sie kümmert sich nicht um sie. Das hat der Müllkippenchef Rivera
übernommen, der möglicherweise auch der Vater der Kinder ist. Doch das bleibt bis
zuletzt offen.
Juan und die ein Jahr jüngere Lupe sind unzertrennlich, nicht zuletzt weil er der einzige ist,
der ihre Sprache versteht, denn Lupe hat, wie sich später herausstellt, einen
Kehlkopfschaden. So muss Juan ständig für sie übersetzen und das ist nicht immer
angenehm, denn Lupe verfügt über zwei durchaus beängstigende Fähigkeiten: sie kann
Gedanken lesen und bisweilen die Zukunft vorhersagen.
Bereits zweimal hat John Irving seinen Figuren die Gabe gegeben, in die Zukunft zu
sehen. Lilly in ‚Das Hotel New Hampshire‘ und Owen Meany in dem gleichnamigen
Roman waren dazu ebenfalls in der Lage, auch wenn sie sich in den Details irrten. John
Irving ist das wichtig,
O-Ton Irving (engl.)
Sprecher: „weil ich stets weiß, wenn ich eine Geschichte schreibe, was geschehen
wird. Ich kenne stets die Zukunft. Was in meinen Geschichten passiert, ist vorbestimmt.
Das ist nichts Neues, aber manchmal möchte ich eine meiner Figuren fast genauso viel
wissen lassen, wie ich selbst weiß. Das macht eine Menge Ärger und ich mag Figuren in
Geschichten, die Geschichten möglich machen. Das ist kein Geschenk, einer jungen Figur
insbesondere die Idee einzugeben, er oder sie könne die Zukunft sehen. Das ist eine Last,
ein schreckliches Gewicht, das auf ihnen lastet. In jedem Fall lässt es sie gefährliche,
verrückte oder riskante Dinge unternehmen. Was unternimmt man dann, um das zu
ändern, um es entweder geschehen zu lassen oder zu verhindern, wenn man sich davor
fürchtet. Lilly und Lupe versuchen die Zukunft für die Menschen, die sie lieben, zu ändern.“
Erzähler:
Erstaunlich ist, mit welcher Selbstverständlichkeit man Irvings bisweilen
überbordender Phantasie folgt, den zahllosen Schicksalsschlägen, die seine
Protagonisten durch die Bank erleiden. Ihm fällt immer wieder eine neue Wendung ein, die
den Leser aufstöhnen lässt. Sein Roman wirkt wie aus der Zeit gefallen und erinnert in Stil
und Form an seine großen Vorbilder wie Dickens oder Melville.
Nur in einem unterschieden sie sich dramatisch: die Sexualität nimmt oft einen breiten
Raum ein – im 19. Jahrhundert undenkbar. John Irving hat es schon immer viel Spaß
bereitet, das Sexleben oder vielmehr die Sexphantasien seiner Helden auszumalen.
Diesmal hat Juan Diego auf seiner Reise Nächtens mehrfach das Vergnügen von
Damenbesuch. Eine Mutter und deren Tochter befriedigen ihn abwechselnd. Jedesmal
stellt sich die Frage: Betablocker gegen seine Herzprobleme oder Viagra gegen seine
Erektionsprobleme. Ob der Beischlaf nun tatsächlich stattfindet oder nur eine Ausgeburt
der Phantasie des Schriftstellers ist, bleibt bis zuletzt offen. Zumindest erlaubt es John
Irving einige Sexszenen zu erfinden, die wirklich komisch sind. Das kann er gut.
Sexualität sielt aber auch noch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle, denn um den
Knaben Juan kümmern sich fortan ein junger Jesuit und ein Transvestit. Das hat
weitreichende Folgen. John Irving hat sich hier zum ersten Mal eine Art Wunder erlaubt:
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O-Ton Irving (engl.)
Sprecher: „Was Juan Diegos Geschichte von den anderen unterscheidet, ist die
Tatsache, dass sich tatsächlich ein Wunder ereignet und ihm erlaubt, sein Leben zu
ändern. Er wird von den einzigen beiden Menschen adoptiert, die ihn wirklich wollen, zwei
schwulen Männern. Das ist eigentlich unmöglich und würde nie geschehen. Dazu bräuchte
es wirklich ein Wunder. Die einzige Möglichkeit wäre, dass Jesus oder die Jungfrau Maria
sich persönlich engagieren und die Jungfrau Maria tut das auch. Sie steigt für ihn vom
Kreuz und erlaubt ihm ein kleines Wunder. Das erlaubt es diesen beiden Männern, ihn zu
lieben und ihm gute Eltern zu sein, weil die heilige Jungfrau weint oder zumindest sieht es
so aus, als ob sie weint. Er wird seine Lebensverhältnisse und Mexiko verlassen und
beginnt ein völlig neues Leben.“
Erzähler:
Das sind nun wiederum typische John Irving Figuren, wie wir sie schon
mehrfach in seinen Romanen angetroffen haben: sexuelle Minderheiten wie Transvestiten,
schwule oder bisexuelle Männer. Warum wählt er sich solche ‚Helden‘?
O-Ton Irving (engl.)
Sprecher: „Es ist in dieser Welt schwieriger, einer sexuellen Minorität anzugehören als
mit dem Mainstream mitzuschwimmen. Ich mache es absichtlich schwerer für sie. Sie
müssen einen schwierigeren Weg gehen. Ich habe bereits vor 40 Jahren in ‚Garp und wie
er die Welt sah‘ darüber geschrieben - ein Roman über sexuellen Hass, über sexuelle
Intoleranz. Man hatte gehofft, dass Diskriminierung von und der Hass auf transgender
Menschen nachlassen würden, aber ich sehe dafür keinerlei Beweise. Ich sehe aber viele
Beweise - und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa - von
sexueller Bigotterie und Misshandlung von Menschen, deren Sexualität außerhalb der
Norm steht. Ich denke nicht, dass sexuelle Intoleranz verschwunden ist.“
Erzähler:
So politisch dieses Thema auch ist, John Irving versteht sich weder als
politischer Schriftsteller noch hat er politische Romane geschrieben. Doch er hält mit
seiner liberalen Einstellung nicht hinter dem Berg zurück und geißelt in seinem neuen
Roman ‚Straße der Wunder‘ indirekt auch die Institution katholische Kirche, die Regeln
aufstellt, die weltfremd sind, während er gleichzeitig durchaus Verständnis für die
Gläubigen aufbringt, denen ihr Gottesglaube hilft, das Leben zu meistern. Gelungen ist
dem inzwischen 74jährigen Schriftsteller eine Geschichte voller herzergreifender Dramatik
und drastischer Komik, heiteren und ernsten Momenten - mit 771 Seiten ein lang
andauernder Lesegenuss.
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