Dinner für deutsche Dynastien

Bürgernah
Ein wirklicher Demokrat: Vor
40 Jahren starb Gustav Heinemann,
Bundespräsident von 1969 bis
1974 und entschiedener Gegner der
Aufrüstung in der BRD. Auch für
Antikommunismus war er unempfänglich. Von Dieter Frielinghaus
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Gespalten
Kriegerisch
Transhuman
Desorientiert
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Polen verspricht sich von einem möglichst aggressiven NATO-Gipfel
seine eigene Aufwertung
Macht und Herrschaft in der digitalen
Welt. Eine neue Kolumne
von Thomas Wagner
Wie ist das mit dem Feind meines
Feindes? In memoriam
Robert Steigerwald
Blairs blutige Lügen
London: Kommission des Unterhauses legt Bericht zu Verwicklungen des Königreichs
in den Irak-Krieg vor. Britischer Expremier schwer belastet. Von Karin Leukefeld
R
Damaskus. Das syrische Militär
hat eine befristete und einseitige
Waffenruhe für das gesamte Land
angekündigt. Sie soll am Mittwoch
beginnen und bis Freitag um Mitternacht gelten, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur SANA. Die
Bekanntmachung kommt zum Ende
des muslimischen Fastenmonats
Ramadan und zum Fest des Fastenbrechens.
Bereits im Februar hatten sich die
USA und Russland auf einen dauerhaften Waffenstillstand für Syrien
geeinigt, der jedoch immer wieder
gebrochen wurde. Eine neue Waffenruhe gilt als Voraussetzung für
die Wiederaufnahme der ausgesetzten Genfer Friedensgespräche.
In Syrien herrscht seit 2011
Bürgerkrieg, in dem verschiedene
Gruppen von Aufständischen gegen
die Regierung und gegeneinander
kämpfen. Ein Teil des Landes wird
von der Terrormiliz »Islamischer
Staat« beherrscht.
(dpa/jW)
PETER NICHOLLS/REUTERS
und 2,6 Millionen Wörter und
12 Kapitel umfasst der Bericht
der Chilcot-Kommission, in
dem die Rolle Großbritanniens im
Irak-Krieg 2003 analysiert wird. Seine
Veröffentlichung am Mittwoch in London markiert das Ende einer sieben
Jahre währenden Untersuchung. Mehr
als 100 Zeugen wurden gehört und
mehr als 1.000 bisher geheime Dokumente ausgewertet. Unter den Befragten waren Angehörige gefallener
Soldaten, aber auch der damalige Chef
der UN-Waffenkontrolleure im Irak,
Hans Blix, und der frühere britische
Premierminister Anthony Blair.
Letzterer habe die Soldaten in den
Irak geschickt, ohne alle Möglichkeiten für eine friedliche Konfliktlösung
in dem Land abgewartet zu haben, sagte der Kommissionsvorsitzende John
Chilcot nun bei der Vorstellung des
Berichts. Es sei »äußerst schwerwiegend«, dass Großbritannien zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg
einen souveränen Staat angegriffen
und besetzt habe. »Viele Lektionen«
seien aus dem Bericht zu lernen. Vor
allem müssten zukünftige Kriege im
Vorfeld einer »sorgfältigeren Analyse
und politischen Bewertung« unterzogen werden. Er hoffe, der Bericht beantworte Fragen der Angehörigen aller
im Irak getöteten britischen Soldaten.
Ginge es nach Jeremy Corbyn, dem
amtierenden Vorsitzenden der oppositionellen Labour-Partei, und vielen
Briten, müsste sich Blair für seine
damalige Entscheidung, in den Krieg
zu ziehen, juristisch verantworten.
Anders als behauptet, befanden sich
keine Massenvernichtungswaffen im
Irak. Blair war damals bekannt, dass
es grundlegende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen für die
Protest am Mittwoch in London: Anthony Blair ließ den Irak besetzen – und lässt sich heute als »Vermittler« bezahlen
Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak gab. Ein Mann mit dem
Codenamen »Curveball« befand sich
im Gewahrsam des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) und wollte sich mit Angaben über unerlaubte
Programme zur Produktion von chemischen und biologischen Kampfstoffen im Irak den Aufenthaltsstatus in
Deutschland erkaufen.
Blair ficht nicht an, dass die Kriegs
allianz die Welt mit Lügen und Halbwahrheiten getäuscht hat. Bis heute
hält er die Entscheidung, in den IrakKrieg zu ziehen, für richtig. »Er widert
mich an«, meinte Rose Gentle über
den heute für seine »Vermittlungstätig-
keit« im Nahen Osten hochbezahlten
ehemaligen Premierminister. Ihr Sohn
war 2004, nur drei Wochen nach seiner
Stationierung im Irak, getötet worden.
»Wenn wir heute den Irak sehen, ist
es dort schlimmer, als es war, bevor
wir dort einmarschiert sind. Er (Blair)
zeigt keine Reue, für nichts und niemanden. Er wollte mit George W. Bush
in diesen Krieg ziehen, und das hat er
gemacht. Egal, was andere sagten.«
Drei Tage vor Beginn des Krieges im März 2003 hatte das britische
Unterhaus den Einmarsch britischer
Truppen in den Irak gebilligt. 217 der
650 Abgeordneten stimmten dagegen, darunter 139 der Labour-Partei,
der auch Blair angehört. Der damalige
Außenminister Robin Cook und drei
weitere Minister traten aus Protest gegen die britische Irak-Politik zurück.
Millionen Briten hatten in den Tagen
zuvor in London und anderen Städten
gegen den Kriegskurs der Regierung
demonstriert.
Im Ergebnis der sechsjährigen
Besatzung (2003 bis 2009) starben
179 britische Soldaten. Das Unrecht
und Leid, das in dieser Zeit den Irakern
zugefügt wurde, war aber auch diesmal
nicht Gegenstand der Untersuchung.
Der Bericht im Wortlaut:
kurzlink.de/chilcot-bericht
Dinner für deutsche Dynastien
Familienunternehmen verzeichnen mehr als eine Billion Euro Umsatz
I
m vergangenen Jahr erzielten die 50
größten Familienunternehmen in
Deutschland einen Rekordumsatz
von 1.022 Milliarden Euro und damit
ein Wachstum von 6,9 Prozent. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für
Familienunternehmen in Stuttgart, es
wurde am Mittwoch veröffentlicht.
»Eine der Ursachen des kräftigen
Wachstums waren Zukäufe«, heißt es
in der Studie. »2015 war erstmals nach
der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 zu beobachten, dass die
großen Familienunternehmen wieder
aktiver auf dem Markt für Unterneh-
Syrien: Dreitägige
Waffenruhe ausgerufen
BASSAM KHABIEH/REUTERS
Ende der »Ära Petry« zeichnet sich ab.
Profitieren könnte der deutschvölkische Flügel der Partei
menskäufe tätig waren.« Dies sei »ein
Zeichen für das gewachsene Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die
Zukunft«. Bosch habe beispielsweise
100 Prozent der Hausgerätefirma BSH
und die ZF- Lenksysteme übernommen
und dadurch seine Warenverkäufe um
44 Prozent statt 10 Prozent steigern
können. Merck habe für 17 Milliarden
US-Dollar den Laborausrüster SigmaAldrich übernommen und Theo Müller (»Müller-Milch«) mit Dairy Crest,
einem Lebensmittelkonzern auf den
Britischen Inseln, rund eine Milliarde
Euro an Umsatz zugekauft. Sechzehn
Unternehmen verzeichneten Zuwächse
von mehr als zehn Prozent. Vier von
ihnen bereits das zweite Jahr in Folge.
Demgegenüber stellten die Konzerne
lediglich 2,7 Prozent mehr Mitarbeiter
ein – »Produktivitätsfortschritte« nennen das die Autoren.
Der umsatzstärkste »Familienbetrieb« ist Volkswagen mit 213,3
Milliarden Euro, vor BMW (92,16
Milliarden Euro) und der SchwarzGruppe (79,3 Milliarden Euro). Die
Unternehmen in Familienhand sitzen
über ganz Westdeutschland verteilt.
Schwerpunkte sind dort Ostwestfalen,
Hamburg und Düsseldorf.
Die Einkaufstour der Konzerne
kommt nicht von ungefähr. Die Bundesregierung hat sich auf eine »Reform«
der Erbschaftssteuer geeinigt, die Betriebsvermögen von Familienerben
in Millionenhöhe unangetastet lässt.
Am kommenden Freitag werden ver.
di, ATTAC und Campact den Ministerpräsidenten der Länder 150.000 Unterschriften für eine gerechtere Besteuerung von Ererbtem übergeben. Im Bundesrat steht dann die Abstimmung der
Erbschaftssteuer auf der Tagesordnung.
Simon Zeise
Kaum Jobs für
Langzeitarbeitslose
Nürnberg/Berlin. Kaum jeder siebte
Langzeitarbeitslose findet wieder Arbeit. So hätten von den 1,4
Millionen Männern und Frauen,
die im vergangenen Jahr angaben,
nicht mehr auf Jobsuche zu sein,
nur 197.000 tatsächlich eine reguläre Stelle gefunden. Das geht aus
einer aktuellen Analyse der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor.
Insgesamt gab es offiziell 2015
im Schnitt 1,039 Millionen Langzeitarbeitslose; damit war jeder
dritte registrierte Erwerbslose ein
Jahr oder länger auf Stellensuche.
Die Zahl verharrt seit 2011 etwa
auf diesem Niveau. Rund 871.000
Personen (62 Prozent) sollen sich
wegen Krankheit oder Verrentung
nicht länger als Arbeitslose registriert haben. Hartz-IV-Bezieher
können von Jobcentern vorzeitig in
Rente geschickt werden und müssen Abschläge bei der Altersrente
akzeptieren. Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel fällte 2015
ein entsprechendes Grundsatzurteil
wird herausgegeben von
1.862 Genossinnen und
Genossen (Stand 4.7.2016)
■ www.jungewelt.de/lpg