DIE WELT - Die Onleihe

MITTWOCH, 6. JULI 2016
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Zippert zappt
THEMEN
EM 2016
Plötzlich ist Toni Kroos
das Schwungrad
im deutschen Spiel
Seite 21
POLITIK
Frust in Rio
30 Tage vor den
Olympischen Spielen
Take it easy
Seite 9
WISSEN
Jupiter hat Besuch
von der Erde
104
JACQUES SCHUSTER
Indexiert, 23.6.2016 = 100
102
J
100
100
Dax
98
96
96
94
92
92
90
90
23.6.
24.6.
27.6.
28.6
29.6
30.6
3.7.
Juni
4.7.
5.7.
Juli
Quelle: Reuters
Das überraschende Votum für den Brexit, Politiker-Rücktritte in Serie, Dämpfer
von den Ratingagenturen und düstere Wirtschaftsprognosen: Die Händler an den
britischen Börsen hätten zuletzt durchaus Anlass gehabt, in Panik zu verfallen.
Aber mitnichten: Der wichtigste britische Aktienindex, der FTSE, knickte zwar wie
INFOGRAFIK DIE WELT; GETTY IMAGES/ALEXANDER HASSENSTEIN
98
andere Börsenbarometer auch nach der Volksabstimmung zunächst ein. Doch er
erholte sich schnell und steht mittlerweile stärker da als vorher – im Gegensatz
zum Deutschen Aktienindex (Dax). Die Anleger scheinen darauf zu vertrauen, dass
Seiten 6 und 10
die Briten nicht auf dem Weg in den Abgrund sind.
AfD-Chef verlässt seine
Fraktion wegen Antisemitismus
Jörg Meuthen und zwölf Abgeordnete trennen sich im Landtag von Baden-Württemberg
von ihren Parteikollegen. Bis zuletzt gab es Streit über Äußerungen von Wolfgang Gedeon
D
ie von Grabenkämpfen erschütterte AfD-Fraktion
im Landtag von BadenWürttemberg bricht auseinander. AfD-Chef Jörg
Meuthen sowie zwölf weitere Abgeordnete verlassen die Fraktion. „Wir bedauern ausdrücklich, die Trennung vollziehen zu müssen“, sagte Meuthen, der die
Fraktion führt.
VON MATTHIAS KAMANN
Autobauer dürfen
weiterschummeln
Völkische
Kräfte
FTSE 100
Dax versus FTSE 100
Seite 8
WIRTSCHAFT
Nr. 156
KOMMENTAR
H
orst Seehofer fordert
nach dem Brexit-Votum
die generelle Einführung
von Volksabstimmungen in
Deutschland. Klingt gut, ist aber
Arbeitsverweigerung. Wofür wird
der Mann eigentlich bezahlt? Er
soll die Politik machen und nicht
wir. Wenn es nach Seehofer geht,
reicht es nicht mehr, dass die
Deutschen sich von einer Bundes-, Landtags-, Gemeinde- und
Europawahl zur nächsten schleppen. Sie sollen jetzt praktisch
ununterbrochen über alles abstimmen, damit hinterher keiner
sagen kann, er habe von nichts
gewusst. Das wäre das Ende einer
schönen und sinnvollen Arbeitsteilung. Bisher wählte man irgendeinen Horst, dessen Gesicht
einem auf dem Plakat gefiel, und
der traf dann in den kommenden
vier Jahren die Entscheidungen.
Wenn einem das nicht passte,
wählte man einen anderen Horst.
Das nennt man repräsentative
Demokratie. Wenn wir jetzt
dauernd selber über rein oder
raus entscheiden sollen oder ob
Nein wirklich Nein heißt, dann
sind wir Berufswähler und sollten auch dementsprechend bezahlt werden. Am besten von
dem Geld, das der Horst bisher
bekommen hat, denn den Horst
brauchen wir ja dann nicht mehr.
B
Grund des Rücktritts sei der Streit
über den mit Antisemitismus-Vorwürfen
konfrontierten AfD-Politiker Wolfgang
Gedeon. Nach Informationen der „Welt“
kam es zu der Eskalation, als Anfang der
Woche den AfD-Landtagsabgeordneten
zwei Gutachten zu den AntisemitismusVorwürfen vorgelegt wurden. Beide kamen zu dem Ergebnis, dass die Schriften
Gedeons eindeutig als antisemitisch zu
bewerten seien. Daraufhin forderte Meuthen die Fraktion auf, Gedeon auszuschließen. Hierzu aber waren nur 13 der
23 Abgeordneten bereit. Meuthen zog daraus nun die Konsequenz, die Fraktion
te missbilligt“, dass Mitglieder der AfDFraktion den Ausschluss von Wolfgang
Gedeon verhindert hätten. Diese Mitglieder würden den Verbleib eines Abgeordneten „akzeptieren, dessen Schriften
eindeutig antisemitische Aussagen enthalten“. Daher begrüße der Bundesvorstand Meuthens Entscheidung und „distanziert sich“ von denen, die nicht mit
Meuthen gehen. Der AfD-Bundesvorstand will ab jetzt nur noch Meuthen und
dessen Unterstützer „als Vertreter der
AfD im Landtag von Baden-Württemberg
anerkennen“. Ob das parlamentsrechtlich geht, ist unklar.
Unklar ist auch die Rolle der zweiten
Bundesvorsitzenden Frauke Petry. Die
hatte Meuthen wegen seines AusschlussUltimatums mehrfach angegriffen. Sie
war nicht anwesend, als der Bundesvorstand den Unterstützungsbeschluss für
Meuthen fasste. Offenbar aber plante Petry ihre Anwesenheit bei der Pressekonferenz. Petry wollte, so ist aus Parteikreisen zu erfahren, nach Stuttgart kommen
und die Sache mit Meuthen darlegen.
Dieser soll das aber im Vorfeld abgelehnt
haben, auch weil er sich in den vergange-
zusammen mit seinen Unterstützern zu
verlassen. Antisemitismus „kann und
darf keinen Platz in der AfD haben“, sagte er am Dienstagnachmittag.
Rückendeckung erhält Meuthen vom
AfD-Bundesvorstand. Der beschloss eine
Erklärung, wonach man es „aufs Schärfs-
Was den Konflikt
ausgelöst hat
Der AfD-Politiker Wolfgang Gedeon hält unter anderem das Leugnen des Holocaust für eine legitime Meinungsäußerung. Er hatte
den Massenmord an den Juden in
seinen Schriften als „gewisse
Schandtaten“ verharmlost und
damit Kritik von vielen Seiten auf
sich gezogen. Zudem hatte er
Holocaust-Leugner als „Dissidenten“ bezeichnet und so mit Menschen verglichen, die für ihr politisches Engagement in autoritären
Regimes verfolgt werden.
nen Wochen heftig über Petrys angebliche Einmischung aufgeregt hatte.
Gedeon hatte vor zwei Wochen erklärt, seine Mitgliedschaft in der Fraktion bis September ruhen zu lassen. Bis dahin wollte die AfD sich früheren Angaben
zufolge zunächst Gutachten zu seinen
Aussagen erarbeiten lassen. Auf deren
Grundlage wollte sie dann über einen
Ausschluss beraten. Zwei dieser Gutachten waren aber schon jetzt fertig. Einen
Rauswurf Gedeons hatte die Fraktion zuvor abgelehnt, obwohl Meuthen ihn gefordert und mit seinem eigenen Rücktritt gedroht hatte. Er blieb aber zuletzt
dennoch im Amt. AfD-Bundesvize Alexander Gauland hatte das Vorgehen der
Landtagsfraktion in der „Welt am Sonntag“ kritisiert. Es sei falsch, bis Herbst zu
warten mit einer Entscheidung, weil klar
sei, dass die umstrittenen Äußerungen
Gedeons in Büchern antisemitisch seien.
Im baden-württembergischen Landtag
führte Meuthen bis zu seinem Rückzug
die größte Oppositionsfraktion. Auf Anhieb hatte die AfD bei der Landtagswahl
im März 15,1 Prozent der Stimmen erSiehe Kommentar
reicht.
udenhass ist Judenhass. Mehr
wäre dazu nicht zu sagen, zumal in einem Land, das wie kein
anderes weiß, was geschieht, wenn
sich der Antisemitismus durch alle
Bevölkerungsschichten frisst, wie eine Seuche verbreitet und plötzlich
zur Staatsreligion wird. Doch die baden-württembergische AfD ziert sich,
das zu benennen, was ihre eigenen
Gutachter bescheinigen. In deren Augen sind Wolfgang Gedeons Worte
genau das, was selbst die tumbsten
Tölpel im Schlaf erkennen würden:
Antisemitismus.
Wer als AfD-Abgeordneter glaubt,
er könne die „Protokolle der Weisen
von Zion“ als historisches Zeugnis
verkaufen, wer so niederträchtig ist,
den Völkermord an den Juden als „gewisse Schandtaten“ beiseitezuschieben, der hat in einer Partei eigentlich
nichts zu suchen, die von sich behauptet, sie sei zwar eine rechtskonservative, aber eine durch und durch
demokratische Alternative. Eigentlich. Genau genommen. Im Grunde …
Die Adverbien des Vorbehaltes
können ruhig allesamt aufgezählt
werden, denn eine Mehrheit der
Landtagsfraktion weigert sich, daraus den einzig richtigen Schluss zu
ziehen. Um Gedeon in ihren Reihen
zu halten, ist die AfD sogar bereit,
den eigenen Fraktionsvorsitzenden
und Co-Parteichef der Bundespartei
zu beschädigen, schlimmer noch:
Jörg Meuthen, einen der wenigen Gemäßigten in der AfD, so zu schwächen, dass ihm ein öffentliches Wirken nicht mehr möglich ist.
Nur wenige Beobachter waren in
der Vergangenheit geneigt, der AfD
so manche Narretei zu verzeihen.
Warum sollte nicht auch diese Partei
in ihren jungen Jahren Fehler begehen, wenn ihre Mehrheit demokratisch ist, dachten sie durchaus ehrenwert. Doch ist sie es? Nach den Stuttgarter Ereignissen um Gedeon und
Meuthen kann man mit Blick auf die
Partei allmählich feststellen: Unter
Kannibalen gibt es keine Vegetarier.
Dabei bleibt die AfD tatsächlich eine Alternative. Allerdings keine erfreuliche. Im Unterschied zu allen
anderen Parteien, sieht man von der
NPD ab, besteht ihr Ziel darin, die
Demokratie bei den Wählern in Misskredit zu bringen. Drollig ist daran
nur, dass sich ihre moderaten Kräfte
wundern, warum immer Unappetitlicheres in die Bewegung sickert.
Frauke Petry, Alexander Gauland
und die AfD-Funktionäre, die noch
bei Sinnen sind, werden nun viel zu
tun haben, um die völkischen Kräfte
aus der Partei zu drängen. Misslingt
es ihnen, ist die AfD ein Fall für den
Verfassungsschutz. Offenbar ist die
Rechte in Deutschland noch immer
so diskreditiert, dass Intelligenz in
ihren Reihen rar gesät ist.
[email protected]
Seite 17
Im Minus
„Ganz normale Menschen rasten im Verkehr aus“
Seite 15
Die Mehrheit der Deutschen glaubt, dass Aggressionen auf den Straßen zunehmen. Ein Psychologe hat eine Erklärung dafür
DAX
Dax
Schluss
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US-$
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D
en 8. Mai wird Steffen Burger so schnell nicht vergessen.
Burger, der für die Piratenpartei in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Neukölln sitzt, war mit dem Fahrrad in
der Hauptstadt unterwegs. Auf einer zweispurigen Hauptverkehrsstraße wurde er äußerst knapp von einem Opel überholt – es gibt an
dieser Stelle keinen Radweg. Burger beschwerte sich nach eigener
Auskunft lautstark, indem er „Ey!“ rief. Offenbar zu viel für den
Mann im Opel. Mit seinem Fahrzeug jagte er den Politiker über fast
zwei Kilometer. Der Mann bremste Burger demnach mehrfach aus,
lauerte ihm auf, spuckte ihm ins Gesicht und prügelte ihn krankenhausreif.
Woher kommt solcher Hass auf deutschen Straßen? Der Vorfall
passt in das Bild einer Studie, die Ipsos für den Deutschen Verkehrssicherheitsrat erhoben hat und die der „Welt“ exklusiv vorliegt. Demnach findet mehr als die Hälfte der Deutschen (53 Prozent), dass
Aggressionen im Straßenverkehr zugenommen haben. Besonders
deutlich ist dieses Gefühl bei Frauen und den über 35-Jährigen ausgeprägt. Acht Prozent der Befragten sind bereits Zeugen körperlicher
Auseinandersetzungen im Straßenverkehr geworden. Lediglich etwas
mehr als ein Viertel der Befragten ist der Auffassung, dass der Straßenverkehr immer schon aggressiv war und sich die Situation nicht
verschlimmert hat. 14 Prozent der Befragten empfinden den Straßenverkehr gar als unaggressiv. Erhebliche Unterschiede gibt es zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Osten inklusive Berlin beschweren sich mehr als 60 Prozent über zunehmende Aggressionen im
Straßenverkehr; im Westen ist es die Hälfte.
Die Betroffenen geben als häufigste Beispiele zu schnelles Fahren,
dichtes Auffahren und Drängeln sowie riskantes Überholen an. Jeweils ein Drittel hat bereits Beschimpfungen und Bedrohungen im
Straßenverkehr erlebt. Danach folgen Regelverstöße wie die Missachtung der Vorfahrt und ungeduldiges Hupen. Auffallend ist laut
Verkehrssicherheitsrat auch der Unterschied zwischen Stadt und
Land. In Kommunen bis 5000 Einwohnern klagen fast zwei Drittel
der Befragten über gestiegene Aggressionen. In größeren Orten ist es
etwas mehr als die Hälfte.
Für den Verkehrspsychologen Haiko Ackermann sind die Ergebnisse keine Überraschung. „Es gab auch vor 20 Jahren schon Verkehrsteilnehmer, die mit großer Brutalität auf vermeintliche Kontrahenten eingeprügelt haben“, sagte Ackermann der „Welt“. Was
ihm Sorge bereitet, ist die deutlich größere Häufigkeit solcher Vorfälle. „Die Hemmschwelle ist gesunken.“ Als Grund nennt Ackermann gestiegene Anforderungen in Berufs- und Privatleben, die höhere Verkehrsdichte sowie die Neigung, seinen Frust unmittelbar in
der Öffentlichkeit auszuleben. „Natürlich sind das keine Kriminellen,
sondern ganz normale Menschen, die ausrasten“, betont Ackermann.
„Das Auto verführt zum Frustabbau, weil man Aggressionen vermeintlich anonym ausleben kann. Man hat das Gefühl, dass die
PHILIP KUHN
Blechhülle schützt.“
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DW-2016-07-06-zgb-ekz- 82b64c2cd1af69bf40033fafdaa36119
ISSN 0173-8437
156-27
ZKZ 7109