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Basejumping: Jeder kleine Fehler kann töten
07.07.2016, 11:05 Uhr | Thomas Burmeister, dpa
Sie stürzen sich nur mit einem engen Anzug ausgerüstet in den Abgrund: Basejumper.
Jedes Jahr zieht es Hunderte zu den steilen Felswänden im "Tal des Todes", wie
Lauterbrunnen in der Schweiz auch genannt wird. Denn jeder noch so kleine Fehler kann
das Ende bedeuten und die Totenliste wird immer länger.
Sie heißen Dumpster oder Yellow Ocean, Flower Box oder High Nose. Exit Points,
Absprungpunkte. Allein schon die Namen verschaffen Extremsportlern ein wohliges Kribbeln.
Hunderte Meter hoch an Felswänden des Lauterbrunnentals im Berner Oberland. Schmale
Brücken aus Holz oder Stahl ins Nichts. Von dort gibt es nur eine Richtung. Senkrecht nach unten.
585 Meter über dem Abgrund
Springen mit gespreizten Armen und Beinen. Fallen bis Luft den Wingsuit füllt, den Flügelanzug.
Fliegend vorbei an Wasserfällen. Manchmal mitten hindurch, mit 200 Stundenkilometern. Von
unten sieht es aus, als ob Menschen vom Himmel fallen. Dann der Fallschirm. Mit einem Knall
platzt er aus dem Rucksack. Adrenalin pur, Triumphgefühl. Basejumping im Wingsuit. Fliegen wie
ein Vogel.
Die Springer aus München: Die beiden Männer stehen am Exit Point High Nose. 585 Meter über
dem Tal. Walter und Matthias Hilscher, Vater und Sohn aus München. Der 54-jährige Walter war
in den 80ern Fallschirmspringer bei der Bundeswehr. Das war irgendwann nur noch Routine,
langweilig fast. "Beim Wingsuit-Fliegen habe ich hingegen wirklich das Gefühl, mich im Raum frei
zu bewegen und dabei alles unter Kontrolle zu haben", sagt er. In Lauterbrunnen gilt er als eine
Art Doyen der Basejumper-Szene. Rund 1500 Wingsuit-Flüge gehören zu seiner Bilanz - darunter
18 an ein und demselben Tag vom 421 Meter hohen Menara Tower in Kuala Lumpur.
Die lange Vorbereitung
Bevor Walter dem Sohn das Wingsuit-Fliegen erlaubte, musste der 29-Jährige lange trainieren.
"Erst Theorie, dann 1000 Fallschirmsprünge, danach 100 normale Basejumps - also Abspringen
und gleich den Schirm öffnen - ehe ich den ersten Sprung im Wingsuit gemacht habe."
Der Sprung ins Dunkle: Es ist kurz vor Mitternacht. Geredet wird kaum. Am Exit-Point ist
Konzentration alles, jeder Handgriff muss stimmen. Die Wingsuits sind angelegt, die Sturzhelme
mit den Kameras sind festgezurrt. Daumen hoch. Absprung von der High Nose. 15 Sekunden
freier Flug. Es sind die letzten des alten Jahres. Im Tal erklingen Kirchenglocken. "Aus den
Augenwinkeln habe ich die Feuerwerksraketen weit unter mir aufsteigen sehen", erzählt Matthias.
"Ein unglaubliches Gefühl." Dann noch 20 Sekunden Flug - die ersten des neuen Jahres.
Fallschirm auf. Ein Ruck und das Gleiten beginnt, sanfte Landung nach knapp einer Minute.
Frohes Neues.
Auch im Sommer sind die Hilschers immer wieder in Lauterbrunnen. Von München ist es
fünfeinhalb Autostunden entfernt. An einem Wochenende sind 10 bis 20 Sprünge machbar.
Nebenwirkung des Risikos: Geistig erholt, frei im Kopf, psychisch fit für die nächsten
Arbeitswochen. So beschreiben Extremsportler Nachwirkungen ihres Adrenalin-Schubs beim
Wingsuit-Fliegen.
Die Totenliste wird immer länger
Im "Horner Pub" plauschen vor allem junge Männer und auch einige Frauen über neue Suits,
Erfahrungen mit Exit-Points, mit Schwierigkeitsgraden. Seltener geht es um die Risiken. Die kennt
jeder sowieso. Die "Fatality List", die weltweite Totenliste des Basejumping, nachzulesen im Netz,
sie wird von Jahr zu Jahr länger. Mehr als 260 Tote seit 1981, davon mehr als 40 im
Lauterbrunnental.
Bauer Adolf von Allmen aus dem Lauterbrunnental verdient mit dem Basejumpen ein paar
Franken nebenbei. Die Swiss Base Association (SBA), die mit der Gemeinde ein Regelwerk für
das Springen aufgestellt hat, verkauft Landetickets. 25 Franken (23 Euro) für ein Jahr. Am Erlös
werden Bauern beteiligt, auf deren Wiesen Base-Springer landen. Letztes Jahr wurden
umgerechnet gerade mal 11.000 Euro ausgezahlt - an 22 Bauern.
"Tal des Todes" zeugt von Verlusten
Unsinn sei das Gerede vom "Tal des Todes", sagt Bauer Adolf. "Schlachtfelder" hatte eine Zeitung
die Wiesen genannt, weil sie immer wieder mal Schauplätze tödlicher Unfälle sind. Es kommt vor,
dass Wingsuit-Springer gegen Felsen prallen und dann schwer verletzt oder gar tot in den Seilen
zu Boden sinken. Oder dass Fallschirme sich nicht öffnen und Basejumper ungebremst in die
Tiefe stürzen. Kleine Fehler können zu einer instabilen Fluglage führen, ein plötzlicher kräftiger
Windstoß kann zur Falle werden.
Einmal sei ein Basejumper direkt hinter Adolfs Scheune aufgeprallt. Ein Norweger. "Seine drei
Kameraden haben dem Rettungdienst geholfen, die Leiche wegzubringen. Das war am Vormittag.
Am Nachmittag sind die drei dann wieder Springen gegangen. Was soll man machen? Sie tun ja
niemandem ein Leid an, höchstens sich selbst."
Traumlandschaft, in der das Jumpen erlaubt ist
Tom Durrer ist der Geschäftsführer von Lauterbrunnen Tourismus. Die Region profitiere von den
vielen YouTube-Videos, die Springer ins Netz stellen. "In der Szene kennt uns heute jeder als das
'Basejumper-Tal'," sagt Durrer. Vor allem zwei Faktoren hätten das ermöglicht: die einzigartige
Formation steil abfallender Felsen gleich gegenüber der alpinen Traumlandschaft mit den Gipfeln
von Eiger, Mönch und Jungfrau sei der eine. "Und hinzu kommt, dass in der liberalen Schweiz das
Basejumpen - im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland - völlig legal und überall erlaubt ist,
außer in Naturschutzgebieten."
Der Zürcher "Tages-Anzeiger" nannte Doktor Bruno Durrer den "Arzt zwischen Himmel und Hölle".
Der 62-Jährige ist Allgemeinarzt und Sportmediziner, erfahrener Bergretter und passionierter
Bergsteiger. "Wir sind ein Eldorado für Outdoor-Sportaktivitäten und die sind alle gefährlicher als
Briefmarkensammeln." Durrer ist meist auch der Arzt, der im Lauterbrunnental die Totenscheine
ausstellt.
Hochgebirgsklettern gefährlicher als Basejumpen
Die Statistik des Doktors: Bruno Durrer hat das Basejumpen im Tal miterlebt seit der Schweizer
Weltklasse-Springer Xavier Bongard den Extremsport 1989 dorthin brachte. "Tragischerweise war
Xavier 1994 auch der Erste, der hier bei einem Sprung tödlich verunglückte, mit 31 Jahren. Er ist
an einem Wandvorsprung aufgeschlagen und dann im Spital gestorben."
Seitdem erfasst der Arzt, der oft mit den Rettungsfliegern der Air Glacier unterwegs ist, in einer
Langzeit-Statistik alle schweren Sportunfälle in seinem Sprengel - vom Skifahren über das
Bergsteigen bis hin zum Basejumpen. Sein Zahlenwerk zeige, dass mehr Menschen beim
Hochgebirgsklettern umkommen als beim Basejumpen. Wobei die Zahl der jährlichen
Hochgipfelbesteigungen naturgemäß weit unter jener der Base-Sprünge liegt. Pro Jahr kommen
500 bis 600 Basejumper ins Lauterbrunnental. Sie absolvieren rund 20.000 Sprünge.
Das gefährliche Hobby wird sicherer
"Von mir als Arzt erwarten viele, dass ich absolut dagegen bin", erzählt Durrer in seiner Praxis
unweit des "Horner-Pubs". "Da setzen doch junge Leute ihr Leben eigentlich sinnlos aufs Spiel,
bekomme ich zu hören. Aber es war immer ein Privileg und ein Drang der Jungen gewesen,
Grenzen neu zu setzen." Durrer räumt ein, dass es Basejumper gibt, die Russisch Roulette
spielen. "Trotzdem ist das aber ein Sport, den man auf verantwortungsvolle Weise betreiben
kann."
Längst habe sich die internationale Jumper-Szene gut organisiert, Ausbildung, Training und die
Ausrüstungen - die freilich einige Tausend Euro kosten kann - seien viel besser als in den
Anfangsjahren. "Das sieht man auch an der Statistik: Die Jump-Zahlen steigen, während die Zahl
der Unfälle sinkt."
Die Angst vorm Fliegen
Die Angst und die Einstellung: Für den Münchner Juristen Walter Hilscher geht es auch um den
Traum vom Fliegen, aber nicht nur. Basejumping hat für ihn etwas mit Lebenseinstellung zu tun.
Angst gehöre dazu. "Man trainiert, aber die Frage ist, ob man die Angst überhaupt überwinden will
oder ob man nicht eher mit ihr umgehen will."
Heutzutage, so Hilscher, erlebe er meistens Leute "mit einer Versicherungsmentalität, die überall
Vollkaskoschutz erwarten". Dass jemand die volle Verantwortung für sein Tun übernimmt, sei
seltener geworden. "Beim Basejumping ist das noch anders. Ich muss das Risiko allein
kalkulieren.
2003 wäre einer seiner ersten Basesprünge fast missglückt, berichtet Hilscher. Erst kurz vor dem
Boden habe er eine Fallschirmstörung beseitigen können. "Danach habe ich eine Semmel mit
Käse gegessen - nichts hat mir je wieder so gut geschmeckt."
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