Reader Sipo: Die NATO auf dem Weg zum Gipfel in Warschau

III. Sicherheitsakteure und -instrumente
1. Sicherheitssysteme und -kooperationen
Christian Pernhorst
Die NATO auf dem Weg zum Gipfel in Warschau
Die Neuaufstellung der Allianz vor dem Hintergrund eines veränderten Sicherheitsumfelds
In der NATO gibt es eine Zeit vor der Annexion der Krim und eine Zeit danach. Gut zwei
Jahre ist es nun her, dass auf der zur Ukraine gehörenden Krim-Halbinsel eine seit
Bestehen der KSZE-Schlussakte beispiellose Landnahme durch die Russische Föderation
begann. Das NATO-Bündnis wurde davon genauso überrascht wie alle anderen
internationalen Organisationen und Staaten und tat sich zu Beginn mit einer klaren
Analyse der sich dynamisch entwickelnden Lage schwer. Die hybriden Aktionen der
russischen Streitkräfte auf der Krim und etwas später dann auch im Osten der Ukraine
erzeugten ein sehr komplexes Lagebild und erschwerten nicht nur in der Allianz die
Entscheidungsfindung für eine angemessene Reaktion auf die Vorgänge in der Ukraine,
die zur unmittelbaren östlichen Nachbarschaft des Bündnisses gehört. (Reader
Sicherheitspolitik, Ausgabe 6/2016)
Nato in Estland
Truppenparade in Tallin
Foto: balkandefense.com
Obwohl von Anfang an klar war, dass der NATO keine Rolle als first responder in der
Krise zukam, waren die Sicherheitsinteressen der NATO direkt betroffen und ein
Handeln daher geboten. Denn Russland hatte die seit Jahrzehnten bestehende
europäische und euro-atlantische Sicherheits- und Stabilitätsordnung durch sein
Vorgehen, durch Vertrags- und Völkerrechtsbruch verletzt. Die Allianz reagierte mit
einem Dreiklang an Maßnahmen:
1. Sie hat die eigene praktische Kooperation mit Russland suspendiert, ohne den
politischen Dialog auf Botschafterebene in Frage zu stellen.
2. Begann sie, die Ukraine verstärkt mit Maßnahmen im Rahmen der ganz
praktischen Partnerschaftspolitik zu unterstützen und
1
3. reagierte sie allianzintern mit verschiedenen Maßnahmen, die im September
2014 von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten auf dem
Gipfeltreffen in Wales beschlossen wurden.
Die wichtigsten waren Maßnahmen zur Rückversicherung der östlichen Alliierten und zur
Anpassung an die neue sicherheitspolitische Lage, die im Bereitschaftsaktionsplan (Readiness
Action Plan - RAP1) zusammengefasst wurden. Zum anderen verpflichteten sich die NATOStaaten mit dem Defence Investment Pledge (DIP) zu der Zielsetzung, innerhalb der nächsten
zehn Jahre den Anteil der Verteidigungsausgaben an 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
anzunähern (Deutschland liegt derzeit bei 1,18 Prozent). Gleichzeitig haben die Staats- und
Regierungschefs beim Gipfel in Wales erneut bekräftigt, dass sie an der NATO-RusslandGrundakte und dem Ziel kooperativer und konstruktiver Beziehungen zu Russland festhalten
– gegenseitige vertrauensbildende und transparenzschaffende Maßnahmen eingeschlossen.
Mit den Beschlüssen von Wales rückt die Bedeutung der kollektiven Verteidigung gemäß
Artikel 5 des Washingtoner Vertrages als eine der drei auf dem Lissabonner Gipfeltreffen
von 2010 identifizierten strategischen Aufgaben der NATO2 neben Krisenmanagement und
Kooperative Sicherheit wieder in den Vordergrund. Wie der heutige NATO-Generalsekretär
Jens Stoltenberg bei einer Rede am 11. November 2014 betonte, handelt es sich beim RAP
um „die größte Verstärkung unserer kollektiven Verteidigung seit dem Ende des Kalten
Krieges“3. An der Umsetzung des RAP und der übrigen Wales-Beschlüsse wird seitdem
gearbeitet. Deren vollständige Umsetzung soll bis zum nächsten, am 8. und 9. Juli 2016
stattfindenden NATO-Gipfel in Warschau abgeschlossen sein und dort als zentrales
Gipfelergebnis von den Staats- und Regierungschefs verkündet werden.
Die NATO hat sich in den vergangenen Monaten aber nicht nur mit der Umsetzung der
Wales-Beschlüsse beschäftigt, sondern sie hat die mit dem RAP begonnene langfristige
Anpassung des Bündnisses an das neue krisenhafte Sicherheitsumfeld in und um Europa (im
Osten und im Süden) weitergedacht. Das Bündnis muss Antworten finden auf die Frage, ob
sein Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv und seine militärischen Fähigkeiten in
einem unsicherer gewordenen sicherheitspolitischen Umfeld in und um Europa ausreichend
glaubhaft sind, wie es mit Russland umgehen will, wie es den Herausforderungen aus dem
Süden begegnen sollte und welche Konsequenzen es aus den zunehmenden CyberBedrohungen und hybriden Bedrohungen ziehen will, kurzum: wie es Sicherheit und
Stabilität zum Wohle der Mitglieder des Bündnisses im 21. Jahrhundert herstellen will.
Daraus sind verschiedene Arbeitsstränge erwachsen, die ebenfalls bis zum Warschau-Gipfel
zu Ende geführt werden sollen und welche die militärische Dimension, die politische
Dimension sowie die institutionelle Dimension der NATO betreffen.
1
Siehe Fact Sheet der NATO von Dezember 2014:
www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2014_12/20141202_141202-facstsheet-rapen.pdf.
2
Daneben noch Krisenmanagement und Kooperative Sicherheit. Vgl. das gültige Strategische
Konzept der NATO von November 2010 (beschlossen auf dem Gipfeltreffen in Lissabon).
3
„The Readiness Action Plan is the biggest reinforcement of our collective defence since the end
of the Cold War. And it is my top priority to implement this plan in full and on time.“ (Jens
Stoltenberg, 20.11.2014).
2
Die Umsetzung der Wales-Beschlüsse
Die Staats- und Regierungschefs haben als Bestandteile des RAP sowohl Maßnahmen
zur Rückversicherung der östlichen Alliierten als auch solche zur Anpassung an die neue
sicherheitspolitische Lage beschlossen. Der RAP ist damit ein wichtiger Beitrag zu mehr
glaubwürdiger Abschreckung der NATO. Bis zum Gipfel in Warschau soll die volle
Umsetzung der RAP-Beschlüsse von Wales abgeschlossen sein, während parallel an der
weiteren langfristigen Anpassung der Allianz in militärischer, politischer und
institutioneller Hinsicht gearbeitet wird.
Rückversicherungsmaßnahmen des RAP
Hinter den Rückversicherungsmaßnahmen, die teilweise unmittelbar im Frühjahr 2014
ergriffen worden waren und später dann Teil des RAP wurden, steht die Idee und
Verpflichtung aller Bündnispartner zu kollektiver Solidarität und Entschlossenheit
(verkürzt und griffig in der Formel: „28 for 28“ zum Ausdruck gebracht) im Angesicht
der durch die östlichen Alliierten wahrgenommenen Bedrohungen ihrer Sicherheit. Die
Maßnahmen umfassen eine erhöhte Präsenz von Land-, Luft- und Marineeinheiten und
verstärkte militärische (Übungs-)Aktivitäten in den östlichen Ländern der NATO, jeweils
auf Rotationsbasis. Konkret wurden die Überwachung des baltischen Luftraums (Air
Policing) durch die Luftwaffen der nicht-baltischen Alliierten verstärkt, regelmäßige
AWACS (Airborne Warning And Control System)4 -Überwachungsflüge im polnischen
und rumänischen Luftraum geflogen, die Präsenz von NATO-Marineeinheiten in der
Ostsee und im Schwarzen Meer erhöht und Heereskompanien zu Übungszwecken in
den baltischen Staaten und Polen rotiert. Zur Rückversicherung der besonders
exponierten Bündnispartner hat und wird sich Deutschland auch weiterhin an all diesen
Maßnahmen beteiligen. Die Intensität der Maßnahmen wird von der NATO in
regelmäßigen Abständen anhand eigener Bewertungen der politisch-militärischen Lage
überprüft und gegebenenfalls angepasst.
Überwachung
Ein AWACS E3A Flugzeug
landet auf der Ämari Air Base,
(Estland) während einer NATO
Übung.
Foto: NATO media
4
AWACS = “Airborne Warning And Control System“ (Luftgestütztes NATO-Frühwarnsystem).
3
Zwar waren die RAP-Maßnahmen, als sie im September 2014 beschlossen wurden,
lagebedingt ganz maßgeblich und explizit auf den Osten des Bündnisgebietes
ausgerichtet5. Aber darauf begrenzt waren sie konzeptionell in keiner Weise. Das ist
inzwischen mit dem seit Dezember 2015 bestehenden Paket an
Rückversicherungsmaßnahmen für die Türkei deutlich und sichtbar geworden.
Aufgrund vielfältiger Bedrohungen an seiner südöstlichen Grenze führt die Allianz zur
Rückversicherung der Türkei eine Reihe von Maßnahmen durch. Dazu gehören AWACSFlüge in der Türkei zu Aufklärungszwecken, verstärkte Luftraumüberwachung („Air
Policing“), Besuche der Stehenden NATO-Marineverbände in türkischen Häfen im
östlichen Mittelmeer sowie die vermehrte Teilnahme alliierter Schiffe an Übungen im
östlichen Mittelmeer.
Mit Blick auf den anstehenden Gipfel in Warschau kann die NATO bei den
Rückversicherungsmaßnahmen in jeder Hinsicht Vollzug melden. Auch über den Gipfel
hinaus werden diese Maßnahmen in Abhängigkeit von der weiteren Lageentwicklung
an der östlichen und südlichen Peripherie der Allianz weiterhin Bestand haben.
Air Policing
Französiche Rafale
Kampfflugzeuge auf einer
Basis in den Baltischen
Staaten
Foto: Nato media
Anpassungsmaßnahmen des RAP
Vor dem Hintergrund der seit März 2014 in der Ukraine unter Beweis gestellten
Unberechenbarkeit des russischen Agierens setzte sich in Vorbereitung des
Gipfeltreffens in Wales im Bündnis schnell die Erkenntnis durch, die eigene Bereitschaft
und Reaktionsbereitschaft an die neue Sicherheitslage anpassen zu müssen. Dazu soll
eine ganze Reihe von Maßnahmen beitragen.
Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben beschlossen, die Reaktionsbereitschaft
der NATO Response Force (NRF) zu erhöhen. Mit der NRF würde die NATO in einer Krise
für eine schnelle Präsenz in beträchtlicher Stärke an dem Ort sorgen können, den es zu
stabilisieren gälte und wo die NRF die Streitkräfte des jeweils betroffenen alliierten
Gaststaates verstärken würden. Zu dieser Maßnahme gehört der Ausbau der NRF auf
5
Vgl. Paragraph 7 der Gipfelerklärung von Wales
(http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm).
4
eine Stärke von inzwischen etwa 40.000 Soldaten, aber vor allem die Schaffung der
rechtlichen und logistischen Voraussetzungen zu einer schnellen Verlegung innerhalb
des Bündnisgebietes.
Als Teil der verstärkten NRF wurde eine Very High Readiness Joint Task Force (VJTF)
geschaffen, die innerhalb nur weniger Tage verlegt werden kann. Sie besteht aus
Heereseinheiten in Brigadegröße, aus Luft-, Marineeinheiten sowie aus einem Element
Spezialkräfte. Diese VJTF ist Hauptaushängeschild des RAP geworden. Jedes Jahr wird
sie abwechselnd von einem der größeren europäischen Alliierten gestellt. Deutschland
hatte diese Rolle bereits 2015 zusammen mit den Niederlanden und Norwegen inne
und wird das nächste Mal 2019 wieder an der Reihe sein. Wichtig ist die umfassende
politische Kontrolle über die Verlegung der VJTF, die jederzeit durch den NATO-Rat
ausgeübt wird. Wenn es nötig würde, könnte der NATO-Rat innerhalb kürzester Zeit
zusammentreten und auf Empfehlung des SACEUR über die Verlegung in ein
Krisengebiet entscheiden. Die VJTF ist somit mittlerweile Realität und einsatzbereit.
Des Weiteren wurde die Einrichtung von multinational bestückten Führungsbasen,
sogenannten NATO Force Integration Units (NFIUs), in den drei baltischen Staaten,
Polen, Rumänien und Bulgarien beschlossen. Die etwa 40 Mann starken multinationalen
NFIUs sollen als Kopfstellen zur Aufnahme von rotierenden militärischen Einheiten zu
Übungszwecken oder in einem Krisenfall dienen und das Verbindungselement zum
jeweiligen Gaststaat darstellen. In diesem Zusammenhang ist auch die Maßnahme zu
sehen, die Fähigkeit der NATO zur kurzfristigen Verstärkung auszubauen. Das umfasst
die Vorausstationierung von Gerät (Mengenverbrauchsgüter, Munition), die
Vorbereitung der nötigen Infrastruktur und auch die breite Unterstützung durch die
Gastnation. Auch in diesen Bereichen läuft die Umsetzung der Maßnahmen nach Plan.
Neben der Stärkung der NATO-Kommandostruktur, um auf alle Herausforderungen
angemessen reagieren zu können, hat die NATO seit Wales auch an dem Ausbau der
Hauptquartiere des Multinationalen Korps Nordost in Stettin (MNK NO) als auch der
Multinationalen Division Südost in Bukarest gearbeitet. Von dort sollen die NFIUs sowie
Einsätze der Heereskomponenten der VJTF im Nordosten geführt werden. Auch
Deutschland hat für das MNK NO deutlich mehr Personal abgestellt.
Zudem wurden die Nachrichtengewinnung und die strategische Analysefähigkeit der
NATO unter die Lupe genommen. An deren Ausbau und Verbesserung wird seitdem
gearbeitet. Genauso haben sich die Staats- und Regierungschefs für ein erweitertes und
differenziertes Übungsgeschehen der NATO ausgesprochen.
Qualitativ neu an den Ereignissen auf der Krim und im Osten der Ukraine war und ist
die Intensität, mit der Ansätze hybrider Kriegsführung angewendet wurden, welche die
Grenze zwischen Krieg und Frieden bewusst verwischen und zugleich eine genaue
Zuordnung der Ereignisse zu einem Akteur erschweren. Davon ausgehend hat die NATO
eine Strategie erarbeitet, wie hybrider Kriegsführung am besten begegnet werden
kann. Allein militärische Mittel reichen nicht aus, es müssen in einem sehr frühen
Stadium verschiedene zivile Mittel hinzutreten, für die andere Organisationen jedoch
5
eine größere Kompetenz besitzen als die Allianz. Das ist der Hintergrund für derzeit
verstärkte Bemühungen zwischen der NATO und der EU, die Zusammenarbeit u. a. in
diesem Bereich zu intensivieren. Der Gipfel in Warschau wird eine gute Gelegenheit
bieten, die für diesbezügliche Fortschritte erforderliche politische Aufmerksamkeit
herzustellen und konkrete Fortschritte bei der Zusammenarbeit der beiden
Institutionen zu erzielen.
Erhöhung der Verteidigungsausgaben – Defence Investment Pledge
In Wales haben sich die Staats- und Regierungschefs noch einmal ausdrücklich zu dem
2002 in der NATO vereinbarten Ziel bekannt, 2 Prozent des jeweiligen
Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigungsausgaben anzustreben. Mit dem Defence
Investment Pledge von Wales verpflichten sich diejenigen Mitgliedstaaten, welche noch
nicht die 2 Prozent-Marke erreichen, das Ziel zu verfolgen, den bis dato sichtbaren
Trend sinkender Verteidigungsausgaben zu stoppen, ihn umzukehren und sich
innerhalb von 10 Jahren, also bis Mitte 2024, der 2 Prozent-Wegmarke anzunähern6. Bis
Ende 2015 erreichten fünf Bündnispartner dieses Ziel (USA, Großbritannien,
Griechenland, Estland, Polen); Deutschland liegt mit 1,18 Prozent zurzeit außer
Reichweite des 2 Prozent-Zieles, auch wenn der Verteidigungshaushalt in Deutschland
in absoluten Zahlen seit 2014 wieder leicht ansteigt7. Beim zweiten NATO-internen Ziel,
dass 20 Prozent der Verteidigungsausgaben für Investitionen in Gerät ausgegeben
werden sollten, hat Deutschland in den letzten Jahren mit einem Anstieg von 12,94
Prozent im Jahr 2014 über 13,35 Prozent (2015) auf voraussichtlich 13,74 Prozent im
laufenden Jahr 2016 einen positiven Trend zu verzeichnen8. In Warschau wird man sich
den Zwischenstand bei den Verteidigungsausgaben anschauen wollen, um festzustellen,
ob die Umsetzung dieses Wales-Beschlusses schon anhand der aktuellen Zahlen
erkennbar wird. Insbesondere die USA dürften den Druck auf die Europäer noch einmal
verstärken, durch ausreichend hohe Verteidigungsausgaben die nötigen militärischen
Fähigkeiten in Europa selbst aufzubauen.
Für Deutschland ist es entscheidend, nicht nur auf die Verteidigungsausgaben (Input) zu
schauen, sondern auch auf die militärischen Fähigkeiten, die mit den gegebenen
Investitionen zur Verfügung gestellt werden können (Output). Bei dieser Outputbezogenen Betrachtungsweise scheidet Deutschland sehr gut ab. Aber insgesamt ist
auch bei einer solchen Betrachtungsweise nicht von der Hand zu weisen, dass ein Mehr
an militärischen Fähigkeiten, mit ausreichend Personal und Material unterfüttert, um
auch durchhaltefähig zu sein, dauerhaft und nachhaltig nur mit höheren
Verteidigungsausgaben erzeugt werden kann.
6
Vgl. Paragraph 14 in der Gipfelerklärung von Wales („Wales Summit Declaration“) vom 04./
05.09.2014.
7
Siehe z. B. die Aufstellung bei Statista:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/183064/umfrage/militaerausgaben-von-deutschland.
8
von 12,94 % im Jahr 2014 über 13,35 % (2015) auf voraussichtlich 13,74 % im laufenden Jahr
2016.
6
Übung Swift Response
Bodenpersonal der US Air
Force beim Entladen der
Maschinen während der
multinationalen Übung
Swift Response 2015.
Foto: Bundeswehr/Marco Dorow
Langfristige Anpassung der NATO für mehr Sicherheit und Stabilität
Die NATO ist ein defensives Bündnis. Laut Strategischem Konzept von 2010 verfolgt sie
drei gleichrangige Hauptaufgaben:
•
•
•
kollektive Verteidigung,
Krisenmanagement und
kooperative Sicherheit.
Das russische Verhalten in der Russland-Ukraine-Krise hat das Strategische Konzept der
NATO nicht obsolet gemacht, aber es hat den Fokus wieder verstärkt auf die erste
dieser drei Hauptaufgaben gelegt, auf die kollektive Verteidigung aller Bündnispartner.
Dieser neue Fokus hat Anlass dazu gegeben, das Abschreckungs- und
Verteidigungsdispositiv der Allianz einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
Inzwischen hat sich auch in der südlichen Nachbarschaft ein Szenario der Krisen und
Instabilitäten aufgebaut, das in gleicher Weise eine solche kritische Überprüfung
erfordert.
Somit hat das seit 2014 im Umbruch befindliche und mittlerweile neue
sicherheitspolitische Umfeld im Osten und Süden der NATO einen Anpassungsprozess in
Gang gesetzt, der sich nicht nur auf die in Wales beschlossenen Maßnahmen
beschränken wird. Die Anpassung vollzieht sich sowohl in militärischer als auch in
politischer Hinsicht, und der Gipfel von Warschau wird diesbezüglich eine zentrale
Wegmarke sein.
Militärische Anpassung
Glaubwürdige Abschreckung der NATO lebt einerseits von gut ausgerüsteten und
trainierten, mit einer Vielzahl von militärischen Fähigkeiten versehenen Streitkräften
und andererseits von dem politischen Willen, diese Streitkräfte im Fall des Falles auch
7
einzusetzen. Dabei muss die ganze Bandbreite von Einsatzszenarien abgedeckt werden.
So macht es beispielsweise einen großen Unterschied, ob das Bündnis sich eines
direkten oder eines hybriden Angriffs zu erwehren hat, oder ob der potentielle Gegner
ein Staat oder eine terroristische Gruppierung ist. Unter der Überschrift von
militärischer Anpassung im Sinne der Stärkung von Abschreckung und Verteidigung
wird es daher eine ganze Reihe von Arbeitssträngen geben, die in ihrer Gesamtheit
einen großen Effekt erzeugen.
Darunter fällt das Thema der persistent forward presence von NATO-Kräften in den
östlichen Mitgliedstaaten auf Rotationsbasis, die sich an die Beschränkungen der NATORussland-Grundakte von 1997 hält. Dazu gehören eine weitere Anpassung der NATOKommando- und NATO-Kräftestruktur, eine weitere Arbeit an der maritimen
Aufstellung der Allianz, verbesserte Cyber-Fähigkeiten und der Ausbau der
Aufklärungsfähigkeiten der NATO, um nur einige zu nennen.
Politische Anpassung
Mindestens ebenso wichtig wie die militärische Anpassung der Allianz ist das Justieren
der politischen Rahmenbedingungen im gewandelten sicherheitspolitischen Umfeld in
Europa aus Sicht der NATO. Wie sollen die Beziehungen der Allianz zu Russland künftig
ausgestaltet werden, auch angesichts der Tatsache, dass die aktuellen Krisen in Europa
und der europäischen Nachbarschaft nur mit und nicht gegen Russland gelöst werden
können? Wie kann die NATO in der eigenen östlichen Nachbarschaft durch eine
gezielte Unterstützung bestimmter Staaten, insbesondere der Ukraine und Georgiens,
für mehr Sicherheit und Stabilität sorgen? Wie will die NATO mit der terroristischen
Bedrohung an seiner südöstlichen Flanke und mit den Krisen und Konflikten im
südlichen Krisenbogen umgehen? Und wie kann sie auch hier durch eine gezielte
Unterstützung bestimmter Staaten insgesamt für mehr Sicherheit und Stabilität sorgen?
Die Staats- und Regierungschefs werden auf diese Fragen zumindest vorerst
abschließende Antworten finden müssen, was angesichts ihrer Komplexität nicht leicht
fallen wird. Diese Aufgabe verdeutlicht, dass die NATO eben nicht nur eine militärische
Allianz ist, sondern dass sie in gleicher Weise auch als politische Allianz zu verstehen ist.
Strategie Debatte
Die Chefs der Generalstäbe im
Military Committee (MC) diskutieren
im Mai 2016.
Generalmajor Jeronim Bazo
(Albanien) (li.) mit General Curtis
Scaparrotti (Supreme Allied
Commander Europe /SACEUR).
Foto: Nato media
8
Ausblick
Mit Blick auf den NATO-Gipfel in Warschau wird es unter den geänderten und
bedrohlicher wirkenden Sicherheitsbedingungen in Europa für die Alliierten die größte
und auch wichtigste Herausforderung sein, Einigkeit und Zusammenhalt nach innen zu
leben und nach außen zu demonstrieren. Das stärkste Zeichen, das die NATO an den zwei
Tagen, an denen ganz Europa auf sie schaut, aussenden kann, ist das Zeichen der
Einigkeit und Kohäsion. Dem müssen am Ende – auf allen Seiten – nationale
Sonderwünsche und -befindlichkeiten untergeordnet werden, damit das Bündnis Stärke
und Entschlossenheit ausstrahlt. Der Prozess, in dessen Rahmen dies geschieht, ist die
Aushandlung der am Ende im Konsens angenommenen Gipfelerklärung, die über einen
Zeitraum von mehr als zwei Wochen zwischen den Vertretern aller NATO-Mitgliedstaaten
in mühsamer Kleinarbeit verhandelt wird und die in zahlreichen Paragraphen9 zu allen
NATO-bezogenen Themen die zur Zeit gültige Position des Bündnisses festschreibt. So
enthält beispielsweise die Gipfelerklärung von Wales 113 Paragraphen und ist damit die
längste Gipfelerklärung der NATO, die es bisher gegeben hat.
Was auf der Ebene der Gipfelentscheidungen Stärke und Entschlossenheit ausstrahlen
würde – und das wird daher auch das wichtigste Ergebnis des Gipfels von Warschau sein
– wäre die Verkündung der vollständigen Umsetzung der Wales-Beschlüsse,
insbesondere der RAP-Beschlüsse. Die NATO hätte damit in nicht einmal zwei Jahren
eine ganze Liste von umfassenden und teilweise sehr weitreichenden Beschlüssen der
Staats- und Regierungschefs konsequent implementiert und Handlungsstärke bewiesen.
Mit der Vollimplementierung des RAP wäre dann der Grundstein für eine glaubhafte
Abschreckung durch die Allianz gelegt.
Der Gipfel wird zudem zeigen, dass die Allianz auch nach einer Vollimplementierung
des RAP fortfahren wird, ihr Verteidigungs- und Abschreckungsdispositiv an die
veränderte Sicherheitslage und an die aktuellen Sicherheitsbedrohungen im euroatlantischen Raum unter Einhaltung eingegangener politischer Verpflichtungen
anzupassen. Dabei wird die NATO, wie schon bisher, stets einen 360°-Fokus anlegen und
alle möglichen Bedrohungen in den Blick nehmen.
Autor
Dr. Christian Pernhorst, Jahrgang 1972, Fregattenkapitän d. R., ist Botschaftsrat in der
Politischen Abteilung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei
der NATO in Brüssel. Zuvor war er unter anderem im Referat für Mittel-, Ost- und
Südosteuropa, Südkaukasus und Zentralasien des Bundeskanzleramts tätig und
Ständiger Vertreter an der Deutschen Botschaft in Georgien.
Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
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Die Gipfelerklärung von Wales enthält 113 Paragraphen und ist damit die längste
Gipfelerklärung der NATO, die es bisher gegeben hat.
9
Weiterführende Links
Wales Summit Declaration, 2014
http://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm
Ständige Vertretung bei der NATO
http://www.nato.diplo.de/
Informationsseite des polnischen Außenministeriums
http://www.msz.gov.pl/en/foreign_policy/nato_2016/
Stiftung Wissenschaft und Politik
http://www.swp-berlin.org/de/forschungsgruppen/sicherheitspolitik.html
Fact Sheet der NATO von Dezember 2014:
www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2014_12/20141202_141202-facstsheetrap-en.pdf
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