philoTHEMA – Idee 1 Idee 1 – philoTHEMA W © Chekman | Dreamstime.com Idee 1: Menschen statt Systeme Wichtiger als neue Schuhe sind die Menschen, die damit gehen Von Jorge Angel Livraga – aus einem Vortrag 12 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 45 er sich mit Geschichte beschäf- ten sich die Politik, die tigt, erkennt ihre Zyklizität. Die Religion und weiter gesamte Natur gehorcht Zyklen: die Wirtschaft und die Tag und Nacht, Sommer und Winter, die verschiedenen DiszipliGezeiten des Meeres, die Luftbewegungen... nen der Wissenschaften Alles beinhaltet ein Kommen und Gehen, voneinander. Diese einein Zusammenziehen und eine Ausdehnung zelnen Teile des Puzz– gleich unserem Herzen. les müssen wir wieder Geschichte ist also nichts Abstraktes. zusammensetzen: die Sie besteht nicht nur darin, dass wir Mar- Menschen mit der morstatuen betrachten oder Bücher lesen. Stadt, in der sie leben, Sie ist eine Ansammlung von vergange- zusammenbringen, die nen Ereignissen und daraus gewonnenen Stadt mit dem Staat, in Erfahrungen. Sie wurde von Menschen dem sie sich befindet, wie wir gemacht und auch wir formen den Staat mit dem Plaheute Geschichte. neten und alles mit der Auch der Mensch ist Teil der Natur Natur verbinden. Auf und daher zyklisch. Deshalb verbrauchen diese Weise können sich auch die Formen, die wir benützen wir vielleicht eine neue – so wie unsere Kleidung oder Schuhe Menschheit andenken, durch den Gebrauch alt werden. Von Zeit in Übereinstimmung © Nejron | Dreamstime.com zu Zeit wechseln wir diese. Aber deshalb mit ihrem spirituelwerden wir selbst keine anderen. len und ontologischen Die einzelnen Teile müssen wir zu einer Einheit fügen, Wir können also zwei Aspekte unter- Inhalt, der die Men- damit wir das Mysterium in den Dingen wieder erkennen scheiden: Die Dauerhaftigkeit des Indivi- schen ausmacht. duums durch seine spirituelle, metaphysiDas ergibt eine interessante Arbeitshy- er geht, vergessen. Wir kommen vom sche und ontologische Einheit – und die pothese, über die man nachdenken kann. Mysterium, wir kommen von Gott, wir Geschichte als Fortdauer des Kollektivs, Sie bedeutet aber, dass es Veränderungen kommen aus dem Metaphysischen. jenseits der Formen und Mittel, die wir in der physischen, energetischen, emotiJenseits meines physischen Körpers verwenden, um in und mit der Umwelt onalen und mentalen Welt braucht. – ähnlich einem Roboter – sehen Sie zu leben und zu kommunizieren. Die mich durch das, was ich sage, was ich Glanzzeit der Systeme ist vorbei, ebenso Die neue Spiritualität von meinen inneren Wesen beschreibe. der Glaube daran, dass ein bestimmtes Wir haben das Leben intellektualisiert, Das bin ich, nicht das, was außen ist. System, sei es politisch, ökonomisch, wir kennen z. B. die Formel des Wassers, Können wir diesen natürlichen Sinn des sozial oder religiös, alle Probleme lösen wir wissen wie die Flüsse entsprechend Individuums wiederfinden, mit derselkönnte. Damit etwas Neues entstehen den physikalischen Gesetzen fließen, ben Natürlichkeit, mit der Regen auf die kann, damit wir in einen neuen Zyklus aber das letztliche Warum können wir Erde fällt – ohne zu zweifeln? Wollen wir eintreten können, brauchen wir nicht nicht erklären. uns wirklich erneuern, dann müssen wir nur Systeme, sondern wir brauchen MenEs gibt ein Mysterium im Fließen des lernen, auf unser Schicksal zuzugehen schen, die neu sind, die anders sind, die Wassers, es gibt ein Mysterium, das wir und das Metaphysische wahrzunehmen. Kraft und Mut haben. wieder wahrnehmen sollten. Das Wasser Bevor Sie in diesen Raum traten, sahen Die Menschheit braucht, wenn sie wird im Schnee gefangen oder im Eis Sie im Garten Pflanzen, die natürliche wirklich neu und besser sein will, grund- der hohen Berge. Es schwebt in einer Schwimmbojen haben, um sich an sätzlich bessere Menschen. Das ist die Wolke, um eines Tages auf die Erde zu der Wasseroberfläche zu halten, und Wichtigkeit der Arbeit, die wir in der fallen. Wenn es auf die Erde regnet, dann ich habe gedacht: „Wie kann jemand ganzen Welt machen. Wir wollen einen weiß das Wasser, wohin es fließen muss. glauben, dass dies ein Zufall ist?“ Die philosophischen Kern wiedererschaffen. Auch wenn sich Hindernisse in den Weg Samen haben „Fallschirme“, mit denen Aber wenn wir von Philosophie spre- stellen, auf jeden Fall fließt es zum Meer sie sich in der Luft drehen und vom chen, verstehen wir darunter nicht die – um sich neuerlich in eine Wolke zu Baum entfernen. So hat die universelle Philosophie im heutigen, sondern im verwandeln und wieder auf die Erde zu Intelligenz ihnen die Fähigkeit des Flieklassischen Sinn. In der postkartesiani- fallen – in einem anderen Zyklus. gens verliehen, schon bevor der Mensch schen Epoche fragmentierte sich unsere Der Mensch heute hat dieses natürli- fliegen gelernt hat. Die Existenz einer Zivilisation. Auf der einen Seite trenn- che Wissen, woher er kommt und wohin großen kosmischen Intelligenz, die alle Nr. 1 45 / Abenteuer Philosophie 13 philoTHEMA – Idee 1 diese Dinge anordnet, ist für mich daher ganz klar. Wir brauchen auch Kultur. Aber wir werden nicht nur Platon, Aristoteles, Kant oder Heidegger lesen. Wir werden in der Natur lesen, im Himmel oder in unseren Mitmenschen. Wir sehen sie dann nicht wie ein absurdes Umfeld, sondern mit der ehrlichen Absicht, zu einem wirklichen Verständnis der Dinge zu kommen. Das neue Zusammenleben Die Zukunft wird, parallel zu diesem inneren Erleben, ein neues Konzept des Zusammenlebens und des politischen Verstehens verlangen. In unserer Welt gibt es viele unlogische Dinge, aber da wir daran gewöhnt sind, akzeptieren wir sie. Wenn wir uns für einen Job bewerben, wird ein Lebenslauf von uns verlangt. Wir brauchen eine entsprechende Qualifikation. Warum kann es dann sein, dass man Staatspräsidenten nur durch die Stimmen der Wähler einsetzt – aufgrund einer finanzierten Propaganda, bewegt von Interessen, die vielfach den Nationen selbst fremd sind? Es wird nötig sein, politische Ideen neu zu überarbeiten und Politiker, die ein Volk regieren, dafür auszubilden. Politik kommt vom Wort politeia: die Fähigkeit zu regieren, einen Staat lenken zu können. Idee 1 – philoTHEMA 5’ Abweichung aufweist? Heute wissen hen, denen wir sie erklären, sondern die wir, dass es unmöglich ist, ohne optische auch zukünftige Generationen verstehen. Messinstrumente eine Abweichung von Wenn wir heute in die Museen gehen weniger als 18’ zu erreichen, wie im und eine Venus von Milo oder eine SkulpObservatorium von Paris. Das ist eine tur von Praxiteles sehen, dann braucht Abweichung, die 13’ größer ist als bei uns niemand erklären, dass sie schön der Cheopspyramide. Hier muss also ist. Wir empfinden es natürlicherweise eine fortgeschrittene Technologie exis- – auch wenn fünfundzwanzig Jahrhuntiert haben. Warum das alles verlieren? derte vergangen sind, seit sie geschaffen Nur weil es alt ist? Das Alter ist weder wurden.Wir brauchen eine neue Kunst, ein Argument von Weisheit noch von die uns etwas Erhebendes gibt, etwas, das Ignoranz. Dort, wo der Philosoph die uns an etwas Größerem teilhaben lässt. Wahrheit entdeckt, dort muss er sie Denn es ist notwendig, dem Menschen bekanntmachen. Protagonismus zurückzugeben. Man hat uns einen Kasten vor die Die neue Kunst Nase gesetzt, den man Fernseher nennt, Dasselbe können wir auch von der sodass wir glauben, Abenteuer und Kunst sagen. Heute wird Kunst mit der heroische Taten zu erleben. Das ist Fähigkeit der Kreativität identifiziert, aber nur ein Beobachten. Man hat uns und vor einigen Jahren hat in Paris in Zuseher verwandelt: in Zuseher des ein dressierter Affe, der Eier auf eine Politischen und Sozialen; des ÖkonoWand schleuderte, einen Malwettbewerb mischen, des Künstlerischen und des gewonnen. Das ist nicht surrealistische Wissenschaftlichen. Der Mensch der Kunst ... Zukunft will wieder Protagonist werden, Um etwas über Kunst zu wissen, ist er will der sein, der er war und der er ein Studium nötig – eine Interpreta- morgen sein wird. Er möchte auf den tion der Natur. Wir müssen uns wie- Zug der Geschichte aufspringen und der trauen, die Natur zu interpretieren, nicht von ihm mitgeschleift werden. wenn wir gute Bilder malen wollen; Jeder Einzelne von uns, so bescheiden, eine Malerei, die nicht nur die verste- arm, unwissend oder allein er sein mag, Die neue Wissenschaft Es braucht auch ein neues Konzept für die Wissenschaft. Die Macht des Wissens darf nicht ausschließlich im Dienst geschaffener Interessen und der Zerstörung sein; die Wissenschaft soll der Menschheit dienen: eine offene Wissenschaft, die das Warum der Dinge sucht und nicht gering schätzt, was die Alten wussten. Ich habe ägyptische Pyramiden, griechische und römische Tempel besucht und viele von Ihnen haben sie auch gesehen. Diese überwältigenden Bauwerke wurden von Wissenschaftlern, Architekten und Astronomen ihrer Zeit errichtet. Wissen Sie, dass die Nord-SüdBasis der großen Cheopspyramide nur 14 Abenteuer Philosophie / Nr. 1 45 © Andrey Popov | Dreamstime.com Über Film und Fernsehen entsteht die Illusion zu leben. Wir sind aber nur Zuschauer hat Kraft, Träume und Projekte in sich. Das, was wir in uns haben, dürfen wir nicht sterben lassen. Das Traurigste auf der Welt sind für mich Friedhöfe. Nicht Friedhöfe für unsere physischen Körper, sondern die Friedhöfe unserer Träumen: die Verse, die wir uns nie getraut haben, zu Papier zu bringen, die Musik, die wir nie gesungen, den Kuss der Freundschaft, den wir nie gegeben, die klare Meinung, die wir nie ausgesprochen haben. Ein historisches und humanistisches Projekt Wir müssen uns also den Mut zuückerobern. Den zukünftigen Menschen kann man nicht mit Gold kaufen, man kann ihn auch nicht mit Blei zerquetschen, denn er weiß, dass er sein Leben auf die eine oder andere Weise sowieso verlieren wird. Vielleicht kommen wir wieder, wie die Theoretiker der Reinkarnation sagen. Vielleicht ist die Reinkarnation auch eine Tatsache, aber diesen Körper müssen wir alle verlieren. Ist es dann nicht besser, ihn in einer wohlbringenden Tat, in einer fruchtbaren Arbeit zu verlieren – anstatt völlig umsonst, nur weil die Jahre verrinnen wie Sand in einer Sanduhr? Wir wollen also Protagonismus, wir wollen wach sein, wenn wir wach sind und wir wollen innerlich wach sein, wenn wir schlafen. Diese neuen Eigenschaften werden nicht morgen in einem Kind geboren, sondern sie sind eine Geisteshaltung; egal ob man 90 oder 20 Jahre alt ist. Wir können sie uns erobern, wenn wir es wollen. Das heißt, das Neue wird nicht kommen, sondern wir Menschen können es verwirklichen, jetzt, hier, wenn wir wirklich verstehen, was dieses Neue ist. Es bringt eine Verbesserung und Potenzierung von all jenem, das in uns ist. Ich habe nicht von der „Hypostase“ oder vom „Noumenon“ gesprochen, denn ich möchte nicht, dass Sie mir nach meinem Vortrag sagen: „Sie haben gut gesprochen! Wie gut Sie die philosophische Terminologie beherrschen!“ Ich möchte, dass Sie sagen: „Das hat mir geholfen! Ich habe etwas gehört, das mir im Leben nützlich ist!“ Wenn das einer von Ihnen meint, reicht mir das schon. Unsere Welt befindet sich in einer Krise, unsere Zivilisation wankt. In dem Maße, wie sich die Kirchen leeren, füllen sich die Supermärkte, und trotzdem leidet die Hälfte der Menschheit an Hunger. Währenddessen halten die Theoretiker weiterhin Reden über die Verteilung von Reichtümern, ohne sich dessen bewusst zu sein, © Wavebreakmedia Ltd | Dreamstime.com dass es keine Reichtümer gibt, Wir brauchen wieder einen Gestaltungswillen für die Zukunft die man verteilen kann. unseren Händen. Wir haben VorstelWenn wir jetzt eine Torte hätten und lungskraft und Fantasie und wir werden sie an alle Anwesenden verteilen würden, Verse verfassen, die wir niemals geschriemüssten wir uns in Vögel verwandeln, ben hätten. Wir werden die Wahrheit denn es gäbe ein Krümelchen für jeden. entdecken, die wir nicht gekannt haben. Das Wichtige ist, nicht den Reichtum Wir – Menschen von heute – müssen zu verteilen, sondern zuerst etwas zu eine Welt wiedererschaffen. haben, an dem wir wirklich reich sein können. Das verlangt den Begriff des Anmerkung der Redaktion: Reichtums im physischen, psychischen Dieser Artikel ist eine gekürzte Überund spirituellen Sinn zu rekonstruieren. setzung eines Vortrags von Jorge Angel Livraga aus dem Jahr 1983 in Lima, Peru. Zusammenfassung Er war der Gründer der Schule der PhiloUm diese neuen Ideen und Vorschläge sophie: Neue Akropolis. Heute gibt es in einer neuen Moral zu verwirklichen, 60 Ländern der Welt insgesamt über 450 ergeben sich große Schwierigkeiten. Aber Schulen, in denen Kultur, Philosophie wir haben Kraft, wir haben Frieden und und Volunteering gelehrt und praktiziert Freude im Herzen, wir haben Arbeit in werden. ☐ Nr. 1 45 / Abenteuer Philosophie 15
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