SWR2 Tandem

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Vom Überleben
22 Monate als Al-Kaida-Geisel in Syrien
Von Susanne Sporrer und Klaus Heymach
Sendung:
Redaktion:
Produktion:
Mittwoch, 06.Juli 2016, um 10.05 Uhr
Petra Mallwitz
SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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Ansage: Entführungen gehören zum Alltag in Syrien. Islamistische Gruppen, aber auch das
Regime, verschleppen Menschen: Aus Rache, um Geld zu erpressen oder schlicht um Terror
zu verbreiten. Die allermeisten Opfer sind syrische Zivilisten. Wir erfahren von den
Entführungen meist nur, wenn es um Geiseln aus dem Westen geht und verstörende Videos
von Enthauptungen im Internet kursieren. Auch der amerikanische Autor Theo Padnos wurde
in Syrien gekidnappt. Seinen Freunden Klaus Heymach und Susanne Sporrer hat er erzählt, wie
er fast zwei Jahre Gefangenschaft überlebte. Meist spricht Theo Padnos Englisch, doch ab und
zu auch deutsch: Das hat er vor mehr als 20 Jahren beim Jobben in einer Brauerei in
Donaueschingen gelernt.
O-Ton Theo 1 NEU
In den ersten sechs Monaten fragten sie mich immer wieder: „Wie willst du sterben?
Sollen wir dich erschießen, dich hängen oder dir die Kehle durchschneiden?” Sie
sagten mir oft, du weißt doch, dass Ungläubige nicht in den Himmel kommen. Warum
konvertierst du nicht? Es wurde so viel über den Tod und das Jenseits gesprochen,
an einem gewissen Punkt hatte ich mich damit abgefunden, dass sie mich
irgendwann umbringen werden. (O-Ton länger stehen lassen zum unterlegen unter
Erzählertext plus Kreuzblende in Kaffee-Atmo)
Atmo Kaffeetrinken
Erzählerin
Theo Padnos sitzt bei uns in Berlin am Küchentisch und erzählt. Er trägt ein
syrisches Fußballtrikot, eine verbeulte Jeans und zwei unterschiedliche Socken. Es
ist das erste Mal seit Jahren, dass wir ihn treffen. Seine Locken sind grau geworden.
Er ist inzwischen 47 Jahre alt. Lange dachten wir, wir würden unseren
amerikanischen Freund nie wieder sehen.
O-Ton Theo 2
Ich hatte meine Entführer in Antakya in der Türkei kennengelernt. „Komm, trink Tee
mit uns“, sagten sie. Okay, dachte ich, das sind syrische Studenten. Während all der
Jahre, die ich in Syrien gelebt hatte, waren Studenten immer diejenigen, mit denen
ich am besten klarkam.
Atmo Sanaa
(Regie: Schon in Theo einblenden, aber nur sehr leise verwenden, wie aus
Erinnerung.)
Erzählerin
Wir kennen Theo seit 2005, aus dem Jemen. Ihn, den promovierten
Literaturwissenschaftler und Autor, und uns, die deutschen Journalisten, hatte es aus
demselben Grund dorthin gezogen: Wir wollten die arabische Welt kennen lernen. 15
Monate lebten wir als Nachbarn in der Altstadt von Sanaa. Theo ging zum
Arabischlernen in die Moschee, wir suchten uns lieber einen Sprachlehrer. Viele
Abende verbrachten wir in Theos Wohnzimmer mit dem fantastischen Blick über die
Dächer. Auch nachdem wir längst wieder zurück in Deutschland waren, riss der
2
Kontakt nicht ab. Doch nach dem 5. Oktober 2012 hörten wir nichts mehr von Theo.
“Bin jetzt an der syrischen Grenze und will in ein paar Tagen Richtung Aleppo”, war
sein letztes Lebenszeichen auf Twitter.
O-Ton Theo 3
Ich wollte keine Rebellen interviewen, ich hatte viel zu viel Angst vor Gewalt und
Konflikt. Ich bin kein Krisenberichterstatter, ich wollte nicht ins Kriegsgebiet. Aber ich
dachte, ich k nnte vielleicht ein Lager weit hinter der Front besuchen und mit den
Leuten dort sprechen.
In Antakya waren zu dieser Zeit viele Journalisten, und sie alle gingen für ein oder
zwei Tage rüber nach Syrien, alle machten das, die ganze Zeit, und verdienten so ihr
Geld.
Erzählerin
Theo hatte im Jemen begonnen, auch als Journalist zu arbeiten. Später zog er nach
Damaskus und berichtete von dort für amerikanische Zeitungen. Als der Bürgerkrieg
begann, versuchte Theo von den USA aus weiter über die kulturellen und religiösen
Hintergründe des Konflikts zu schreiben. Doch er fand kaum Abnehmer für seine
Essays und Analysen. Ich muss wieder direkt aus Syrien berichten, dachte er. Die
angeblichen syrischen Studenten im türkischen Antakya versprachen Theo, ihn
sicher auf die andere Seite der Grenze zu bringen.
O-Ton Theo 4
Wir fuhren auf einer unbefestigten Straße durch Olivenhaine und Felder, dann hielten
wir. “Schnell, lauf!”, sagte der Fahrer. Wir rannten so schnell wir konnten durch das
Feld, sprangen über einen Stacheldrahtzaun und – waren in Syrien.
Erzählerin
“Hat irgend jemand in den vergangen zwei Wochen etwas von Theo geh rt? Wir sind
dankbar für jeden Hinweis”, schrieb Theos Mutter am 4. November auf Facebook. Ist
Theo wieder auf verdeckter Recherche unterwegs? fragten wir uns. So wie damals
im Jemen, als er sich als Konvertit ausgab und wochenlang in einer salafistischen
Koranschule lebte?
3
Musik Nusra-Hymne
O-Ton Theo 5
Sie traten mir ins Gesicht, sie schlugen mich mit Fäusten, trampelten und sprangen
auf mir rum. Und ich h rte jemanden sagen: “Bring die Handschellen!” Pl tzlich war
ich gefesselt, die Hände auf dem Rücken, und Blut lief aus meinem Auge. Und dann
fingen sie an zu lachen. Einer sagte: “Wir sind von Al Kaida. Wusstest du das nicht?”
weiter Musik Nusra-Hymne
Erzählerin
Der syrische Ableger von Al Kaida nennt sich Al Nusra-Front. 22 Monate lang hielten
die Islamisten Theo gefangen. „Die Nusra-Front bezwingt die Ungläubigen“, heißt es
in ihrer Hymne, die uns Theo auf Youtube vorspielt, und: „Sagt den Kreuzrittern:
Amerika, dein Grab ist Syrien. Unsere Front ist siegreich.“
O-Ton Theo 6
Und sie steckten mich in dieses Zimmer mit der Scheiße und der Pisse auf dem
Boden. Ich denke, das war in der Augenklinik von Aleppo. In dieser ersten Zelle habe
ich drei Monate lang gelebt. Sie sagten mir nicht, warum sie mich festhielten. “Halt’s
Maul!”, sagten sie. Morgens kamen sie rein und warfen ein bisschen Brot und
Sesampaste auf den Boden und dann schlugen sie die Tür wieder zu. Sie schlugen
sie so fest zu, dass nach einem Monat der Türknauf abfiel. So fest schlugen sie diese
blöde Türe zu.
Atmo Zwielicht: Theo liest Gedicht auf Deutsch
“Hast ein Reh du lieb vor andern / Lass es nicht alleine grasen” sollte zu h ren sein
Erzählerin
In seiner Verzweiflung kommt Theo ein düsteres Eichendorff-Gedicht in den Sinn,
das seine Mutter früher immer in der Vertonung von Schumann gehört hat.
Musik Zwielicht, Dietrich Fischer-Dieskau/Günther Weißenborn
„Hast ein Reh…“ h rbar
O-Ton Theo 7
Es heißt Zwielicht. Es ging um das Gefühl, wenn du weißt, dass etwas Schlimmes
kommt. Als mir diese Zeilen in den Kopf kamen, dachte ich, ich bin das Reh. Als ich
durch die Olivenhaine nach Syrien reinkam, da dämmerte es, Zwielicht. Das ist es,
woran ich mich erinnere. Etwas Böses im Herzen eines anderen. Sinnt er Krieg im
tück’schen Frieden. Ich wusste auch, dass das Gedicht etwas über Feinde sagte, die
man für Freunde hielt.
4
Evtl. Atmo Theo liest Zwielicht
O-Ton Theo 8
Diese Menschen waren so verrückt, so wütend, völlig außer Kontrolle, und so
hasserfüllt mir gegenüber, dass ich einfach still liegen musste, um das Leiden so weit
wie möglich zu reduzieren. Ich versuchte, keinen Widerstand zu leisten, sie tun zu
lassen, was immer sie mit meinem Körper machen wollten. Mit der Zeit lernte ich,
wenn ich Angst hatte – und ich hatte oft Angst – einfach still dazuliegen, und darauf
zu warten, dass sie kommen.
Musik Teho Teardo & Blixa Bargeld: “Axolotl” (Anfang)
O-Ton Theo 9
Ich glaube, es waren vier Mal … Ich wurde oft bestraft, aber gefoltert wurde ich
vielleicht fünf oder sechs Mal. Sie benutzen spezielle Werkzeuge und sie haben
spezielle Folterknechte, sie verwenden auch Strom. Ich hatte das Gefühl, sie
benutzen Äxte oder Messer. Gleichzeitig gossen sie Wasser auf mich, und ich
dachte, das wäre Blut. Ich war mir sicher, ich würde nie wieder laufen können und
hatte solche Angst, dass sie mich einfach abschlachten. Es war die Angst, die den
Schmerz schlimmer macht. Du hast solche Panik. Und sie wollen auch, dass die
Kinder mitmachen ... Die sind vielleicht acht, neun Jahre alt. … Während der
Vernehmer mir Fragen stellte, kitzelten die Kinder mich mit ihren Ketten und Kabeln
an den Füßen.
Musik Teho Teardo & Blixa Bargeld: “Axolotl”
Erzählerin
Dass er so gut Arabisch spricht, das Land kennt und mit dem Islam vertraut ist, half
Theo nicht, im Gegenteil. Das machte ihn verdächtig, ein Spion der CIA zu sein. “Die
haben dich aber gut ausgebildet”, sagten sie ihm immer wieder. Unter der Qual der
Folter sagte Theo schließlich zu allen Vorwürfen Ja. Aber auch das änderte nichts.
O-Ton Theo 10
Ihre Folter gleicht in vielerlei Hinsicht einem religiösen Ritual. Sie glauben, dass sie
das näher zu Gott bringt. Oft beten sie auch richtig vor der Folter. Wenn sie wirklich
laut und energisch beteten, dann wusste ich, jetzt wird gleich gefoltert. Das war für
mich, als würden sie Gott fragen, ist es in Ordnung, wenn wir diese Typen foltern?
Und er antwortet immer: Ja, kein Problem.
O-Ton Theo 11
Einer meiner Bewacher war Schüler am Goethe-Institut in Aleppo gewesen. Ich lief
mit verbundenen Augen und Handschellen den Flur runter, plötzlich sagte jemand
„Was für eine Überraschung.“ Das war ein Syrer, der deutsch reden wollte. Aber erst
musste er Leute foltern. Danach kam er zurück und sagte: „K nnen wir unser
Deutsch üben?“
5
Erzählerin
Die Nusra-Front schleppte Theo von Aleppo im Norden durch die Wüste im Osten –
auf der Flucht vor den Truppen Assads, aber auch vor den verfeindeten Kämpfern
des Islamischen Staats. 13 verschiedene Gefängnisse hat Theo gezählt. Oft lebte er
in völliger Dunkelheit, Körper und Kleider voller Läuse, der Bart reichte ihm bald bis
zur Brust.
Meist war Theo allein eingesperrt, mal mit 30 Offizieren der syrischen Armee
zusammengepfercht. Einige Monate teilte er sich die Zelle mit einem anderen
Amerikaner, dem Fotografen Matt Schrier. Obwohl sie sich nicht ausstehen konnten,
planten die beiden gemeinsam die Flucht, als sie merkten, dass das Gitter vor dem
Kellerfenster brüchig war.
O-Ton Theo 12
Er bestand darauf, dass er als erster rauskriechen durfte. Ich wollte mich nicht mit
ihm anlegen, also kletterte er auf meinen Rücken und ich schob ihn nach draußen.
Nach drei Minuten war er frei. Ich reichte ihm seine Schuhe, sein Hemd und sagte
“Jetzt zieh mich raus.“ Ich steckte meinen Kopf durch, meine Brust. Aber er meinte:
„Du schaffst es nicht. Bye.“ Daraufhin verlegten sie mich in die Wüste, in einen
heißen Raum, sehr wenig Wasser. Sie fesselten meine Hände und Füße, sechs
Wochen lang, rund um die Uhr.
Musik “Lesh”
unter dem O-Ton beginnt Gitarrenintro von “Lesh”
Elizabeth Ayoub, Lesh, Album Prelude, 2006
O-Ton Theo 13
Ich war oft träge und deprimiert, manchmal habe ich für die anderen Gefangenen
gesungen. Ich sang dieses Lied von meiner arabischen Lieblingssängerin. Sie singt:
“Lesh?” (sprich läisch), “Warum?” (singt auf Arabisch)
überblenden in Musik “Lesh”
Theo singt zuerst eine Textzeile, die im Lied bei 2:41 kommt, dann eine weitere Zeile,
im Lied ab 0:31
O-Ton Theo 14
Normalerweise fahre ich Fahrrad, wenn ich Angst habe oder gestresst bin, das
beruhigt mich. Aber im Al-Kaida-Gefängnis kannst du nicht Radfahren. Ich stellte mir
manchmal vor, ich würde auf meinem Rad sitzen. Wenn du Radrennen fährst,
versuchst du, im Feld zu bleiben, mit den anderen mitzuhalten. Selbst wenn du weit
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abgeschlagen bist und müde und hungrig, dann kannst du dich nicht an den
Straßenrand setzen. Du musst weiter in die Pedale treten, weil du nach Hause willst.
Erzählerin
Fahrradfahren ist für Theo lebenswichtig. Egal wohin er reist, sein Rennrad ist immer
dabei. Selbst in Sanaa radelte er durch den mörderischen Verkehr und brachte uns
von seinen Touren Croissants aus der einzigen westlichen Bäckerei der Stadt mit. In
Berlin steht er morgens um fünf auf und fährt Rad – auch, weil das ein bisschen
gegen die schlimmen Rückenschmerzen hilft, die ihn seit der Gefangenschaft quälen.
O-Ton Theo 15
Gestern war ich auf einem Friedhof, auf dem Opfer der Nazis liegen. Ich hatte das
Gefühl als wären diese Menschen in den Gräbern meine Brüder, sie wurden im
Gefängnis getötet. Ich würde gern mit ihnen sprechen. Ihr Leben, ihr Leiden,
erscheint mir jetzt viel wirklicher als vorher.
Erzählerin
Nach seinen Fahrradtouren sitzt Theo dann wieder am Küchentisch und erzählt.
O-Ton Theo 16
Das ist ja wie beim Therapeuten. Ihr fragt mich nach meinen Gefühlen, ich könnte
den ganzen Tag hier sitzen und über meine Gefühle sprechen. Das tut mir nicht weh,
das ist wunderbar.
Wisst ihr, ich wollte meine Mutter wieder sehen. Ich sagte mir, ich kann mein Leben
weiterführen, wenn die mich wieder rauslassen, so lange meine Mutter noch lebt.
Dann schaffe ich das. Wenn sie nicht mehr am Leben gewesen wäre – damit wäre
ich nicht fertig geworden.
Atmo Skype: Wählen, Läuten, Gespräch
Erzählerin:
Theo und seine Mutter Nancy stehen sich sehr nah. Mama und ihr Holzhaus in
Vermont – wenn Theo davon im Jemen erzählte, klang das immer nach einem
kleinen Paradies. Manchmal schreiben sich die beiden täglich Mails und wann immer
es geht, besucht er sie. Als wir Theo fragen, warum er überstanden hat, woran die
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meisten anderen zerbrechen würden, sagt er: Das müsst ihr meine Mutter fragen.
Also rufen wir sie an.
Mutter: Hello.
Theo: Hello Mum. Here is Susanne, I knew Susanne in Yemen, and Klaus, her
husband, I knew him in Yemen, ...
Mutter: Hey, hello everybody!
Susanne: How could Theo survive this?
Mutter: Interesting question ...
O-Ton Mutter
Theo ist schlau, er ist sehr sympathisch, er findet leicht Freunde. Ich denke, seine
Disziplin im Sport half ihm, und ich wusste auch, dass er viele Gefängnistagebücher
gelesen hatte, Bücher von Menschen unter extremen Umständen, wie Viktor
Klemperer ...
weiter Mutter (nicht übersetzt) ... and the wonderful Russian woman that you don’t
like, Theo, what’s her name? ... No, the other one ... Yewgeni or somebody who was
in the Gulag for 18 years ...
weiter O-Ton Mutter
... Ich wusste, er hat viel innere Kraft, und auch dass er älter ist, half, er ist kein Kind.
Gedichte, die man in der Grundschule auswendig gelernt hat, sind dann wieder da,
wenn man im Gefängnis sitzt, wie für andere Bibelverse oder Gebete. Man geht in
sich, um so etwas zu überleben.
O-Ton Theo 17
Nach einem Jahr gaben sie mir einen Koran, eine englisch-arabische Ausgabe. Ich
las ihn so oft, bis ich genug davon hatte. Ich hab die Nase voll gehabt. Sie gaben mir
auch einen Sprachführer und ein Wörterbuch, sonst hatte ich nichts, womit ich mich
beschäftigen konnte. Nach 19 oder 20 Monaten bekam ich endlich Papier und konnte
meine eigene Geschichte schreiben.
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Erzählerin
In winziger Schrift begann Theo auf einem alten Kalender mit einem Roman. Er
schrieb auf, was um ihn herum geschah, verlegte die Handlung aber ins 19.
Jahrhundert, in seine Heimat Vermont. Statt um Islamisten geht es in dem Roman
um fundamentalistische Christen zur Zeit der Erweckungsbewegung.
O-Ton Theo 18
Das ist vergleichbar mit dem, was gerade bei den Muslimen in Syrien passiert: Sie
haben das Gefühl, der Geist Gottes sei über ihnen, und alles, was sie tun, wird von
Gott bestimmt. Über diese Stimmung wollte ich schreiben. Dabei dachte ich nie, dass
ich jemals raus käme. Trotzdem schrieb ich jeden Tag, weil ich dachte, mir bleiben
die nächsten fünf Minuten oder die nächste Stunde, also mach ich’s. Du lebst für die
nächsten fünf Minuten. Ein Gefängnis ist ein großartiger Ort, einen Roman zu
schreiben.
Erzählerin
In seinen Texten sucht Theo nach Erklärungen für das, was in Syrien passiert.
O-Ton Theo 19
Was für ein Land ist das, wo sie Menschen die Köpfe abschneiden, warum tun sie
das? Wenn du vor fünf Jahren nach Syrien gereist bist, dann empfingen sie dich so
warmherzig, so respektvoll und so großzügig. Es war manchmal schwierig, ins Hotel
zu gehen, weil die Leute wollten, dass man bei ihnen zu Hause übernachtet.
Das Land hat sich radikal verändert, irgendwas ist passiert.
Musik Naschid
Erzählerin
Theo klappt seinen Laptop auf. Darauf hat er ein Archiv des Grauens in Syrien
angelegt: Folterszenen, Propagandavideos, öffentliche Hinrichtung – für jeden
zugängliche Dokumente aus dem Internet. Theo spielt ein Video ab, das im Kampf
getötete Dschihadisten zeigt. Dazu läuft religiöser Gesang – auf Arabisch Naschid:
O-Ton Theo 20: Hier ist mein Lieblings-Naschid.
Musik Naschid
weiter O-Ton Theo 20
Ich kenne so viele Leute aus diesem Video. Der hier wurde für die Nusra-Front zum
Märtyrer. Der Islamische Staat tötete ihn.
9
Musik Naschid
weiter O-Ton Theo 20
Diese religiösen Lieder treiben dort wirklich das Geschehen voran. Das ist ihre ganze
Ideologie. Die kennen diese Songs beinahe besser als den Koran. Manche kann ich
inzwischen auch auswendig, die gehen so: “Vernichtet die Juden, die Brüder der
Affen. / Ins Paradies, wir k nnen nicht warten.”
Musik Naschid
O-Ton Theo 21
Jeder sagt ihnen, ihr müsst den Tod lieben – und nach einer Weile sagen sie, wir
lieben den Tod, wir wollen in den Himmel. Aber wenn du sie dann fragst: Willst du
wirklich sterben? Dann sagen sie: Nein, ich möchte lieber nach Deutschland. Doch
ein Ticket nach Deutschland gibt ihnen keiner.
Musik Naschid
O-Ton Theo 22
Ich habe einen blinden Scheich kennengelernt, der von seinem vielleicht
Jahre
alten Sohn herumgeführt wurde. Der Vater war blind, weil das Assad-Regime ihn so
schlimm gefoltert hat. Der Sohn macht mit beim Dschihad, ein zweiter Sohn wurde
bereits zum Märtyrer. Der Scheich sagte, dieses Kind hier wird auch zum Märtyrer,
so Gott will. Der Junge war seit er neun ist nicht mehr in der Schule. Alles, was er
kennt, ist der Dschihad und seinen Vater, der vom Regime zum Krüppel gemacht
wurde.
Erzählerin
In Gefangenschaft hat Theo einige solcher Geschichten gehört. Viele, die nun foltern,
wurden früher selbst gequält.
O-Ton Theo 23 NEU
Sie und ihre Familien wurden vierzig Jahre lang wegen ihrer Religion verfolgt. Sie
haben sich Al Kaida angeschlossen, weil sie glauben, dass die sie erfolgreich gegen
Assad verteidigt. Je mehr man sie versteht, desto mehr vergibt man ihnen. Ich weiß,
das ist nicht richtig. Aber ich bin nicht mehr wütend auf sie. Ich hasste sie, als sie mir
das antaten. Aber diese Wut ist weg, ich weiß auch nicht warum.
Erzählerin
Zu manchen Kämpfern und Wärtern der Nusra-Front hält Theo über Facebook und
Twitter immer noch Kontakt: Aus journalistischer Neugier, aber er auch, weil er die
Hoffnung nicht aufgibt, durch seine Beziehungen vielleicht anderen Geiseln einmal
helfen zu können.
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O-Ton Theo 23 b
Sie glaubten, ich sei Christ. Ich sagte ihnen, ich habe die Bibel gar nicht richtig
gelesen, ich kenne den Koran besser. Aber ich glaube an eine wichtige christliche
Lehre: Liebe deinen Feind. Ich glaubte das damals und ich glaube das heute. Ich
weiß, das klingt naiv, aber das ist der einzige Weg. Wir müssen anständig mit der
arabischen Welt umgehen. Wir müssen Frieden mit ihnen schließen.
Erzählerin
Terror und Gewalt ließen sich nicht mit Krieg bekämpfen, ist Theo überzeugt. Jede
Drohne, die die USA abfeuern, jede Bombe, die auf Syrien fällt, erzeuge nur noch
mehr Gewalt. Tulip, eine Freundin von Theo aus Damaskus, ist vor dieser Gewalt
geflohen. Sie lebt jetzt in Berlin. Als erstes organisiert Theo ein Fahrrad für sie und
übt mit ihr bei uns vorm Haus.
Atmo Fahrrad
Erzählerin
Neben Tulip bringt Theo noch einen geflüchteten Kurden mit, den er am Kottbusser
Tor kennen gelernt hat. Wir sitzen zusammen in der Frühlingssonne, unterhalten uns
in einem Mischmasch aus Englisch, Arabisch und Deutsch. Wir lachen viel.
weiter Atmo Fahrrad
O-Ton Theo 24
Ich war in den letzten Monaten so glücklich, wie auf einer Wolke. Das war die
glücklichste eit meines Lebens. Ich habe keine Freundin, nicht mal einen richtigen
Job, trotzdem bin ich glücklich. Ich glaube nicht, dass ich unter einer
Posttraumatischen Belastungsst rung leide. Ich denke, ich bin einfach kreativer
geworden. Ich arbeite an einem Film, einem Theaterstück, einem Roman. Ich kann
all diese kreativen Dinge tun, die ich vorher nicht machen konnte.
Erzählerin
Seit er frei ist, hält Theo Vorträge und reist um die Welt: nach Katar, zu syrischen
Flüchtlingen nach Lesbos, dann wieder zu seiner Mutter nach Vermont. Jetzt ist er
seit einer Woche in Deutschland. Vor ein paar Jahren war Theo schon einmal in
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Berlin gewesen, um an seinem Jemen-Buch zu schreiben: “The Undercover Muslim”.
Damals vergaß er ein Kissen in unserer Wohnung, “made in Syria” steht auf dem
Etikett. Dieses Kissen erinnerte uns immer wieder an ihn. Irgendwann verloren wir
die Hoffnung, dass er noch am Leben sein könnte.
O-Ton Theo 25
Sie haben mir jeden Tag gesagt, es gebe Verhandlungen. Aber dann verging ein
Monat, ein zweiter, ein dritter. Irgendwann glaubte ich nicht mehr daran.
Erzählerin
Im Sommer 2014, nach 21 Monaten Gefangenschaft, wird Theo in eine Villa in einem
Vorort von Dara’a gebracht, in der auch Anführer der Nusra-Front wohnen.
O-Ton Theo 26
Wenn die Al-Kaida-Leute tagsüber rausgingen, um das Land zu terrorisieren, hing ich
mit dem Frisör, meinem Bewacher, im Haus herum. Seine Verwandten haben es
irgendwie nach Deutschland geschafft. Er wollte da auch hin. “Dann musst du
Deutsch lernen”, sagte ich ihm. Also brachte er alle seine Kinder und wir saßen
morgens zusammen. ... „eins, zwei, drei. Ich heiße Mohammed, wie heißt du? Wie
heißen Sie?” Er war gut, aber seine Kinder waren noch besser. Abu Kinan war der
netteste Mensch, den ich in den zwei Jahren getroffen habe.
Erzählerin
Theo ahnte nicht, dass in den USA seit Monaten sieben Frauen unermüdlich für
seine Freilassung kämpften: seine Mutter, drei Cousinen mit guten Beziehungen
nach Washington, eine FBI-Agentin sowie die UN-Botschafterinnen der USA und
Katars. Ein Medienunternehmer gewann schließlich Katar als Vermittler. Das reiche
Golfemirat verfügt über einigen Einfluss bei den syrischen Rebellen und hat schon
öfter geholfen, Geiseln frei zu bekommen.
O-Ton Theo 27
Eines Tages kam der Al-Kaida-Boss rein und sagte: “Ich schicke dich nach Hause zu
deiner Mutter. Hol deine Sachen.” Ich versteckte den Roman in meiner Hose, wir
stiegen in ein Auto und fuhren nach Süden, Richtung Jordanien. Ich dachte, vielleicht
bringen sie mich um. Wir machten ein kleines Video im Auto, ich sollte mich von den
Al-Kaida-Leuten verabschieden. Ich sang ihnen ihr Lied, ihre Hymne. «Sallami ala
Nusra, Dschabatna mansura ...» (singt)
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Wir fuhren bis zu einem großen Wachposten der Nusra-Front an der israelischen
Grenze, mit großer Al-Kaida-Flagge. Und plötzlich sah ich diese großen UNLastwagen. Da drehten sie sich zu mir um und sagten: raus mit dir. Und, mein Gott,
sobald ich in dem Uno-Wagen saß, fing ich an zu weinen. Und dann brachten sie
mich rüber zu den Leuten vom FBI und bei denen weinte ich weiter. In Tel Aviv
steckten sie mich in ein Fünf-Sterne-Hotel, ich setzte mich aufs Bett, schaltete den
Fernseher ein und dachte, wow, das ist ja wirklich die größte Zelle, in der ich je war.
Was für eine komische Gefängniszelle: Wenn man die Tür aufmacht, kann man
rausgehen. Und als mir dieser Gedanke kam, sagte ich mir, was zum Teufel mache
ich hier, und ich öffnete die Tür, ging raus zum Strand und fing an zu joggen: Freiheit.
Es war wunderschön.
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