1 Nackt inTurnschuhen von TommiHorwath Copyright(c)2016DieErzählwerkstatt-derVerlag Wien:DieErzählwerkstatt-derVerlagISBN:978-3-903037-15-1 Copyright(c)2016-DieErzählwerkstatt-derVerlag Cover:Photomas https://www.facebook.com/PhotomasPics/ DasWerkeinschließlichallerTeileisturheberrechtlichgeschützt.JedeVerwertung außerhalbderGrenzendesUrheberrechtsgesetzesistohneZustimmungdesAutors unzulässigundstrafbar.DiesgiltinsbesonderefürVervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen,EinspeicherungunddieVerarbeitunginelektronischenSystemen. http://www.dieerzaehlwerkstatt-derverlag.at/ [email protected] UndfürFacebook:https://www.facebook.com/DrTommiHorwath 2 fürSonja FürjedwedeGefühle,diediesesBuchinIhnenauslösen könnte,übernehmeichkeineVerantwortung,gratuliere IhnenaberzudenGefühlen. 3 Inhaltsverzeichnis: NacktinTurnschuhen................................................2 fürSonja....................................................................3 ZumZahnarzt............................................................5 GutenAppetit.........................................................13 Therapiestunde.......................................................21 Schwimmkurs..........................................................28 UnterhaltunginderBibliothek................................37 RituelleTerminkollisionen.......................................44 Vorbereitungistalles..............................................56 ScheinundSein.......................................................70 Okupiolizzy..............................................................85 NacktinTurnschuhen.............................................101 Totelebenlänger...................................................119 NeueUnterhosen...................................................133 Epilog.....................................................................147 Nachwort...............................................................148 GroßvatersschlaueSprüche...................................150 EidesstattlicheErklärung........................................152 4 ZumZahnarzt PaulwaramWegzumZahnarzt.ErwarimZugunterwegsnachBruckanderLeitha.Seine FingertrommeltenberuhigendaufdaskleineTischchenvorihm.Regentropfen,diegegendie Fensterscheibenprallten,trübtenPaulsSichtfeld.ErließseinenBlicküberdievorbeiziehende Landschaft schweifen. Selbst als er nach Wien gezogen war, hatte Paul den Zahnarzt beibehalten. Einerseits, weil Paul ohnehin kein Freund von Veränderungen war, und andererseits,weilmaneinengutenZahnarztnichtwechselt.DieseAnsichthatteervonMutter übernommen. Man wechselte eigentlich gar nichts, was Mutter gut fand. Nicht einmal die Frisur.Niemals! Paul war tief in seine Gedanken versunken. Paul war meistens in seine Gedanken versunken,wennernichtgeradearbeitenwarodervorseinemComputersaß.Wenn–sowie jetzt–niemandetwasvonihmwollte,dannließerseineGedankenfreidurchZeitundRaum galoppieren.DasZugfahrenboteineguteGelegenheitzueinemRittdurchdieweitenEbenen derGedankenpuszta.Esschienihmüberhaupt,alswäreZugfahrenetwas,daseinenFreiraum fürGedankenschaffenwürde.EinFreiraum,demesegalwar,obsichnunderZugüberdie Schienen oder die Schienen sich unter dem Zug bewegten. Egal, ob sich die Eisenbahn bewegteoderdieWelt,injedemFallwürdesichetwasbewegen. AlldieHäuser,dievorbeigezogensind,dachtePaul,sehensoaus,alswärensievoneinem HausbaugottscheinbarzufälliggenauandiesemPlatzfallengelassenworden.Giltdasauch für Kirchen? Gibt es einen eigenen Kirchenbaugott, der überall in der Welt Kirchen und Gebetsplätzefallenließ?Undwennja,zuwelcherReligiongehörteder?Oderdie?Undgibt essoetwaswieGottheiten,dieSystemeerhalten,alsoSystemerhaltungsgottheiten,dieman nicht anbeten musste, die aber dafür Sorge trugen, dass das „System Erde“ nicht aus den Fugen geraten würde – und wenn doch? Na dann, gab es doch sicher einen anderen Gott beziehungsweiseeineGöttin,diedaranschuldwar. UndMutter.Mann,Mutter.Mansolltedoch...,nein,manmüsstedoch...,ach,ja,aber wie? Und aus welchem Grund? Würde Mutter vielleicht sogar zustimmen? War es möglicherweisenureineFragederrichtigenArgumente?Sichernicht!Istsieüberlistbar?Und 5 wenn ja, wie? Im Grunde half das ganze „Braver-Bub-Spielen“, „Zombie-Erschießen“ und schließlich das „Sich-in-der-Arbeit-vor-dem-Leben-Verstecken“ auch nicht. Würde der Hausbaugott–soeseinengibt–hierhilfreichseinkönnen?OderderKirchenbaugott?“Paul wusstenochimmernicht,wiesichetwasändernsollteoderkönnte,alsderBordlautsprecher desRegionalzuges„WirhalteninKürzeinBruckanderLeitha!“krächzteundihnjähausseinen Gedankenriss.DerZugwurdelangsamerundbliebstehen.Paulkamesvor,alswürdeder stehendeZugzumerstenMaleinenUnterschieddarausmachen,obsichnunderZugoderdie Weltbewegenwürde. „Hilfmir!“ Paul drehte sich um. In der Waggontür stand ein kleines Mädchen, das einen pinken Regenumhang anhatte und pinke Gummistiefeln mit weißen Katzengesichtern trug. Paul lächeltedasrosaroteMädchenanundhobesvomWaggonaufdenKies. „Nichtmir,meinerMama!“,riefdaskleinepinkeMädchen. PaulsaherstjetztdieFrauindemRollstuhl,dienochimWaggonwar.PaulriefdenSchaffner und gemeinsam hoben sie die Frau aus dem Waggon. Der Schaffner gab das Signal zur Weiterfahrt. „Danke sehr!“, sagte die Frau. „Wenn Sie wollen, dann nehm ich Sie bei diesem grauslichenWettereinStückmit,meinAutostehtgleichdavorne.“ „Ja,äh…Nein,neindanke,ichkommschonzurecht.“ „DasistkeinProblem,wirklich.“ „Nein!“,erwidertePaulenergisch. Das Mädchen reichte Paul ihre Hand, um sich zu bedanken. Paul zog instinktiv seine Hand zurück.KleineKinderhabendochnurBakterienandenHänden,dachteer,hobseineHand zumGrußundgingschnellfort. Im Vorbeigehen bekam Paul gerade noch mit, wie das kleine Mädchen ihre Hände betrachtete,dannwurdeesvonihrerMutteraufdenSchoßgenommen. „Na,sindnochalleFingerdran?“,fragtesieihreTochterundbeidefuhrenlachendzum Auto. Esistdochbesser,nichtmehralsnotwendigmitanderenMenschenzutunzuhaben,davon warPaulüberzeugt. 6 PaulstelltedenKragenseinerJackehoch.DerRegenhattesichineinenNieselregen gewandelt.Nichtmehrrichtigdaunddochspürbar.Paulhatteesnichteilig,erkannteder Weg. Er wollte nicht darüber nachdenken, wohin er gehen musste. Das war irgendwie verständlich, es war ja der Weg zum Zahnarzt. Hinunter an der Apotheke vorbei, über die Hauptstraße, weiter Richtung Kulturzentrum zum alten Schloss, dahinter war der große Neubau,indemsichdiePraxisgemeinschaftderÄrztebefand. PaulkamzurKreuzungmitderHauptstraße.Erhatteaufgehörtzudenkenundwar frohdarüber.PaulwarteteanderrotenAmpel.Grün.Paulatmetetiefdurch.Ergingvorbei an dem kleinen Blumengeschäft, das aussah, als wäre es früher einmal eine Fleischerei gewesen. „Hierdrüben,Paul…“ PaulhörteeineStimme,konntejedochniemandensehen.EineiskalterSchauerliefihmüber denRückenhinunter.Paulsahsichum.Da!AufdenStufenvordemBlumengeschäftzwischen den Kränzen und den Blumen mit den roten sternförmigen Blüten, zwischen den unterschiedlichstenTöpfen,saßeinalterMann.Erwarnurirgendwie…kleineralsnormale Menschen.PaulkanntediesenMann.Erwarihmimmersehrvertrautgewesen,auchwenn sienievielgesprochenhattenunddieGeschichten,dieerPaulerzählthatte,immereinGefühl vonTraurigkeitundMelancholieinnehatten. „Großvater?“ Paul wollte es nicht richtig glauben, was er da sah. Da saß sein Großvater in einer Orchideenblüteundsprachzuihm.MitteninalldenanderenBlumenundGestecken,dasaß dereinfachdrinnen,sahihnverschmitztlächelndanundrauchteeinePfeife.AusGroßvaters SichtmussteersichineinerArtUrwaldbefinden. Paul konnte sich noch gut an das Begräbnis erinnern. Er war damals vierzehn Jahre alt gewesen,daswarjetztschonüberzwanzigJahreher.Ererinnertesichauchdaran,dassseine umdreiJahreältereSchwesterbeimBegräbnisrückwärtsineinoffenesGrabgefallenwar.Sie warwohlzumüdegewesen,nachderlangenNacht,indersie„getrauert“hatte.Siehattesich vorlauterMüdigkeitodertrauerndemAnlehnungs-bedürfnisandenGrabsteineinesanderen Grabesgelehnt.DieserbrachdaraufhininderMitteauseinanderundsiepurzelterückwärts ineinoffenesGrab.Alleversuchtennichtzulachen,bisaufseineSchwester,dieauseigener 7 KraftnichtmehrausdemGrabsteigenkonnte. „WasmachstduhierGroßvater?“ „Hiergeht’srein“,sagtederGroßvater. „IchbinaufdemWegzumZahnarzt“,antwortetePaul,dersichinderganzenSituation nochnichtsoganzzurechtfandundnichtwusste,oberesjetztkomischfindensollteoderob erAngsthabensollte.DieTatsache,dassersichmitderMiniaturausgabeseinesvorzwanzig JahrenverstorbenenGroßvatersunterhielt,verunsicherteihn. DerGroßvaterdeutetePaul,ihmzufolgenundverschwanddurchdieGlastürimInnerendes Blumengeschäfts. Paul folgte ihm hypnotisiert und lief prompt in die Glasscheibe der Eingangstüre,dennPaulhatteimGegensatzzuseinemGroßvatereinenKörper. „WennSiedieTüraufmachen,issesleichter“,sagtedieBlumenverkäuferinund öffnetedieTüre.„KannichetwasfürSietun?“ „Danke“,sagtePaul,„undnein,danke…ichmöchtemichnurumsehen.“ „Wirhabengeradeganzfrischundwunderschön...“ Paulunterbrachsie:„Danke,aberichwillmichwirklichnurumsehen.“ „Ganz,wieSiewollen“,erwidertedieBlumenverkäuferinundverschwandim hinterenRaum. „SiehdirdieOrchideenan,Paul,OrchideensinddasreinsteAbenteuer“,sagteder Großvater.„VordemKrieghabichhiergearbeitet,alsHilfskraft,damalswardasnocheine Fleischhauerei.“ „Ja,Vater,hateinmalsoetwaserzählt“,murmeltePaulundgingzudenOrchideen. „Riechdochdaran!“ PaulrochanderOrchidee.ErmochtedenGeruch.TrotzdemwuchsseineUnsicherheit. „Undjetzt?“,fragtePaulseinenGroßvater. DerlächeltenurundwackeltemitseinenetwaszugroßgeratenenOhren,geradeso,wieer esimmergetanhatte,umPaulundseineSchwester,alssienochKinderwaren,zumLachen zubringen.Paulversuchte,genausowieerdasalsKindimmerversuchthatte,auchmitseinen Ohrenzuwackeln. „WerandereneineBlumesät,blühtselberauf“,sagtederGroßvater.„Riechnicht mitdeinerNasealleine,riechauchmitdeinemHerzen!“ErverschwandinderBlüte. „IstdasirgendeineArtvonOrchideenvoodoo,dasichkennensollte?Beidemman mitdenOhrenwackelt?“,fragtedieBlumenverkäuferinamüsiert. 8 „Nein,danke“,sagtePaul,„ichmeine,jabitte,ichmöchtebittedieseOrchidee kaufen!“ „Sehrschön…ichsolls`IhnendochsicheralsGeschenkeinpacken?“ „Jabitte…alsGeschenk“,seufztePaul. „FürwensolldasdenneinGeschenkwerden?“,musstedieVerkäuferinwissen. „Wiebitte?…ja,alsGeschenk!“,versuchtePaulauszuweichen. „HatdieAuserwählteaucheinenNamen?NurwegendesKärtchens…“,ließdie Blumenverkäuferinnichtlocker.„Fürwen?“ Paulresignierte.„Fürm.…m.…m.…meineMutter.“EtwasBessereswarihminderKürzeder Zeitnichteingefallen. „Sehrschön!KindersolltenihrenMütternöftersBlumenmitbringen,dannschreib ich‚FürMama‘aufdieGrußkarte?“ „Ja,bitte“,seufztePaulwieder.Erbezahlte,nahmseineOrchideeundgingweiter RichtungÄrztezentrum. DieVerkäuferinschautePauldurchdieScheibedergeschlossenenTüredesBlumengeschäfts nachundfreutesichdarüber,dassesauchindiesemAlternochdankbareKindergab,die ihrenMütternBlumenschenkten.MännersolltenFrauenBlumenschenken–basta.Egalin welchemAlter. AmweiterenWegzumZahnarztwarPaulnichtmehralleine.ErhieltdieOrchideein seinemlinkenArm.TeilweisenahmersieunterseineJacke.Erfühltesichverantwortlichfür die Orchidee und er wollte sie nicht dem nasskalten Wetter aussetzen. Gut, er hätte auch etwasmehraufsichselbstschauenkönnenundstattderTurnschuhebesseresSchuhwerk anziehenkönnen,abersoweitwarerandiesemMorgennichtgewesen.WardochamMorgen seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet gewesen, das Haus leise und unbemerkt zu verlassen,umMutter,diesichzudieserZeiteinzweitesMalinsBettgelegthatte,nichtzu wecken. Im Moment dachte er nur an die kleine Blume in ihrem Topf und wie diese unbeschadetdieReisezumZahnarztundwiedernachHauseüberstehenwürde.Paulkonnte eineVerbindungspürenzuderOrchidee,zurOrchideeselbst,nichtzuseinemGroßvater,der darinverschwundenwar.PaulspürtedieOrchidee.PaulspürteüberhauptzumerstenMal etwasinseinemLeben. Er blieb vor dem Bedarfsgeschäft für Gartengeräte stehen, direkt vor der Auslage mit den 9 Motorsägen,undversuchteimmerwiederdurcheinenSpaltimPapierseinenGroßvateraus derBlütezulocken.Derkamabernichtraus. „Verzeihung,bitte?“ VordemHintergrundvonSonderpreisaktionenfürKettensägenhattePaul,dergeradeinseine Jacke schaute, den Gehsteig versperrt. Vor ihm stand eine Frau, die ihre Haare zu einem Knotenhochgebundenhatte.SiewaroffensichtlichinEileundzoghintersicheinenKofferher, derwieeinemutierteRiesengeigeaussah.VerwirrtmurmeltePaulsoetwasÄhnlicheswie „Entschuldigung“undgingeinenSchrittzurSeite,damitsiemitdemriesigenKofferanihm vorbeigehenkonnte. SchließlicherreichteerdieZahnarztpraxis.NochwährenddieZahnärztinPauleineSpritzegab, schlosserdieAugenundentspanntesich,sogutesging. AlsPaulwiederimZugRichtungWiensaß,nahmervorsichtigdasPapierab,indem dieOrchideeeingepacktwar.Nureinbisschen,damitdasPapierimmernochschützenddie Orchidee umgab und trotzdem soweit offen war, dass etwas Licht durch den Spalt fallen konnte.LichtistgutfürOrchideen,dachtesichPaul.Ichbinsicher,LichtistgutfürOrchideen. Paul hatte ja keine Ahnung von Orchideen. Genaugenommen hatte er keine Ahnung von irgendwelchen Pflanzen. Mutter mochte keine Pflanzen. Gar keine, nicht einmal Kakteen. NeugierigbetrachtetePauldieBlütederOrchidee. „DieMenschenhabenkeineZeitmehr,irgendetwaskennenzulernen.Siekaufenalles fertigindenGeschäften.AuchandereMenschen“,sagtederGroßvater.„WerBäumesetzt, obwohlerweiß,dassernieinihremSchattensitzenwird,hatzumindestangefangen,den SinndesLebenszubegreifen.“ „SollichjetzteinenBaumpflanzen,Opa?“ DerGroßvatermusstelachen:„MankannnichtindieZukunftschauen,meinlieberPaul, aberalles,wasdutust,legtdenGrundfürZukünftiges.“ Paulbegannzuverstehen. „SowieichdieOrchideegekaufthabe?Damithabichetwasgetan,wasichzuvor nochniegetanhabe...“ „BetrachtedieBlütederOrchideegenau.SieistdeineLandkarte.Siezeigtdirden Weg.“ „Was?DieBlüte?DieBlüteisteineLandkarte?Wohindenn?“Paulversuchteseinen 10 Großvaterzuverstehen.„Wiemeinstdudas?“ErkonntedieGedankenseinesGroßvaters immernochnichtganznachvollziehen. „Jemandzugestiegen,bitte“,hörtePauljemandenvonweithersagen. „DieFahrscheine,bitte!“,nuschelteeinSchaffnerimTonfallderEisenbahner. AbwesendzeigtePaulihmseineFahrkarte. „Na,unterwegszurgroßenLiebe?“,fragtederSchaffneraufdieBlumedeutendund zwinkertePaulzu. PaullächeltezurückundversuchteausVerlegenheitmitdenOhrenzuwackeln.Dasbrachte denGroßvaterzumLachen. „Jemandzugestiegen,bitte“,hörtePauldenSchaffnersichentfernen. Paul sah sich alle Details der Blüte an und versuchte, eine Landkarte darin festzustellen. AbererhattebaldkeineZeitmehr,sichdafürblödvorzukommen,ineinerOrchideenblüte eineLandkartezusuchen.DerZugfuhrinWieneinundPaulhatteEile,dieOrchideewieder einzupacken,umsievordemkaltenundgrauenWetterzuschützen. TrotzdesschlechtenWettersentschiedsichPaul,zuFußnachHausezugehen.Erwolltedie kostbareZeitmitseinerOrchideeverbringenundwerweiß,vielleichtwürdesichihmjadie Landkarte eröffnen. Außerdem wollte er nicht zu schnell wieder zu Hause sein. Zu Hause wartetebestimmtschonMutteraufihnundwiedieaufdieOrchideereagierenwürde,war eine eigene, nicht zu kalkulierende Sache. Die Beziehung zwischen seinem Großvater und seinerMutter,alsoderSchwiegertochterseinesGroßvaters,würdePaulmit„nichtexistent“ beschreiben.MuttervonseinerBegegnungmitseinemGroßvaterzuerzählen,kamebenso nichtinFrage.SiewürdedasalsBubenphantastereienabtun,dienurdeshalbentstehen,weil PaulnochimmerkeineFreundinhatte.Mutterhattesichsobemüht,dieRichtigefürihn,ja sogar, die Richtige für sein erstes Mal zu finden. Keine, die sie vorschlug, war Paul recht. Insgeheimwarsiedaraufstolz,dasseskeineandereFraugab,diefürihrenPaulgutgenug war.Paulhatteseinerseitsirgendwannaufgehört,MädchennachHauseeinzuladen.Schon amjeweilsnächstenTag,hatteMuttereine„Polizeiakte“fürdasjeweiligeMädchenangelegt. Als sie dann mit Paul ein vernünftiges Gespräch unter Erwachsenen führte, zeichnete sie solange das Bild einer Dämonin von diesem Mädchen, bis Paul aufgab. Irgendwann gab er auchauf,Mädchenanzusprechen.Alleinezusein,wardochbesserundvorallembekanntund kalkulierbar.AlleinmitMutterzusein,hatteauchVorteile.Siekochtewenigstensundputzte 11 dauernd irgendwas und die Wäsche brauchte er auch nicht zu machen. Das war nicht unangenehm,undwennesdochzuvielwurde,konnteersichjaohnehininseinemZimmer einschließenundComputerspielespielen. Paulwarsichnichteinmalsicher,obMutteresihmüberhauptgestattenwürde,seine Orchideezubehalten.AbererhatteeinenEntschlussgefasst.PaulwürdedieOrchideemit nach Hause nehmen, auch wenn er den Großvater nicht erwähnen konnte. Die Eisenbahn hatte sich auch aus eigener Kraft bewegt. Auch Paul würde sich nun aus eigener Kraft bewegen. Diesmal würde er es drauf ankommen lassen. Diesmal würde Paul nicht im vorauseilendenGehorsameinenmöglichenKonfliktmitMuttervermeidenunddieOrchidee sofort entsorgen. So hatte Paul trotz des nasskalten Wetters keine Eile, nach Hause zu kommen. DerkleineGroßvaterlächelteverschmitztundrauchteseinePfeife,währenderdasSchaukeln derOrchideenblätterdurchPaulsSchrittegenoss. 12 GutenAppetit JemehrPaulsichaufdieOrchideeunterseinerJackekonzentrierte,umsowenigernahmer vondemwahr,wasrundumihnpassierte.NichtdieStraßenbahnoderdieAutos,schongar nicht die anderen Menschen, die seinen Weg kreuzten oder gar das Plakat der Privatuniversität für Musik und Kunst, das ein modernes Cellokonzert des „Petrasilienquartetts“bewarb.SomerktePaulauchnicht,wieerzuHauseangekommenwar. ErstalserdenSchlüsselinsSchlossderWohnungstüresteckenwollte,realisierteer,woer war.Erkamabernichtrein.Esschienso,alswürdeeineunsichtbareMachtihnzurückhalten, dieTüreaufzuschließen. „Paul, du wirst dieses Jahr vierunddreißig Jahre alt! Im Mittelalter wärst du schon Großvater und du hast Schwierigkeiten eine Wohnungstüre aufzusperren? Weswegen? WegeneinerOrchidee?" PaulwarkeinFeindvonSelbstgesprächen,schließlichbrauchtjederabundzudenRateines Experten.PaulspieltemitdemSchlüsselinseinerHandundließihnimmerwiederumseinen Fingerkreisen.Erhorchteauf.PaulkonntevondrinnendeutlicheGeräuschewahrnehmen.Er ordnete diese Geräusche seiner Mutter und einigen anderen – vermutlich weiblichen Personen–zu.DerGroßvaterinderOrchideebliebunerreichbar.DasGefühl,dasPaulhatte –dasGefühlfürdieOrchidee,dieSorge,dieerfühltefüretwasoderjemanden,denmanzu liebenbegann–diesesGefühlspürtePaulsehrdeutlich.Erkonntesichnichtdazudurchringen aufzusperren. Draußen stehenbleiben konnte er allerdings auch nicht. So stand er da, vor einer dieser klugen Neubauwohnungen im dritten Bezirk. Es war eine zweigeschossige Wohnung.ObenlagendieSchlafräumeunddasBad,untendasWohnzimmerunddieKüche. Früher,alsPaulsältereSchwesternochhiergewohnthatte,bewohntesieeinesderunteren Zimmer.PaulundseineSchwesterhattenMutterfolgenmüssen,alssienachderScheidung vonNiederösterreichwiedernachWiengezogenwar.MutterverwendetediesesZimmernun alsBüro.Paulwusstenicht,wasMutterindiesemZimmertatodernichttat,erhatteauch keineAhnung,welcheArtArbeitMutternachgehenwürde,außerdauerndirgendjemanden zuverklagen.LeiderhattedieWohnungnureinenEingang,imunterenBereich. PaulwäreamliebstenunbemerktindenoberenBereichderWohnung,inderseinZimmer lag,gelangt. 13 „ReißdichendlichzusammenPaul!InderBibliothekkannstdudirdasauchnichterlauben!Ist daseigentlichbeiallenSöhnenso,dieohneihrenVateraufwachsenmüssen?Könnendiesich allenichtentscheidenundmüssendieallenochbeiihrerMutterleben?",redeteermitsich selbst. "Nein,müssensienicht!",tönteesausderOrchidee. Paul lächelte. Je mehr er die Orchidee zu spüren begann, um so entspannter nahm er die Situation wahr. Da hörte er Schritte auf die Türe zukommen, das Quietschen der Türspionklappe,einenSchlüssel,derenergischzweimalumgedrehtwurde,unddasDrücken derTürklinke. "Pauli! Paul,meinLiebeling! Habichmichalsodochnichtverhört. Nein,wasisterdochfüreinguterJunge! Bringtseinemlieben,altenMütterleineinfachsoetwasmit. Wasistdenndas? Blumen? AchJunge,ichbinganzgerührt. Daswäredochnichtnotwendiggewesen.“ MutternahmPauldieOrchideenvollfalscherFreudeab. „UndwasdufüreinenschönenBlumentopfausgesuchthast…SoeinenSohnkann sichjedeMutternurwünschen…kommher,gibdeineraltenMuttereinendickenSchmatzer!“ PaulwussteindiesemMoment,erhattedieSchlachtumdieOrchideenschonlängstverloren, bevor diese überhaupt begonnen hatte. Das Einzige, was ihm jetzt noch einfiel, war, den Blumenstock schützend vor sich zu halten und so ein Bollwerk zu schaffen gegen die eingefordertenKörperlichkeitenvonMutter. „Ach,ichverstehschon“,zwinkerteMutterihmzu.„DubistschoneingroßerJunge.“ Sie nahm den Blumenstock entgegen, um ihn triumphierend ihren Freundinnen, die zum Kaffeetrinkengekommenwaren,zuzeigen.DiesaßenamWohnzimmersofaaufgereihtwie Papageien des kaukasischen Secret Service zum Sprechtraining. Sie plapperten wild gestikulierend durcheinander. Mutter stellte den Blumentopf neben den Kuchen und zwischendasKaffeeservice.DannquetschtesiesichzwischendieFreundinnenundversuchte, 14 sichselbst,dieFreundinnenunddieBlumenmitihremMobiltelefonzufotografieren.Dieser Versuchscheitertekläglich. PaulstandindesimTürrahmenundgrüßtedieDamenausderFernemiteinemLächeln.Zu präsentwarenimmernochdieErinnerungenanseineKindheit,indererdiejeweilsgerade „Beste-Freundin-für-immer“ seiner Mutter drücken und küssen musste, weil diese ja auch gerade ein Mitglied der Familie geworden war. Die eine kannte er, das war Ingeborg, die anderewarHeidi,aberdiedritte,diewarneu. „Pauli, Liebeling, Dearest“, riss ihn Mutter aus den unangenehmen Kindheitserinnerungen, „mach doch ein Foto von Mami und ihren ‚Für immer besten Freundinnen‘,seiliebPaul,ja?“ Paul nahm das Mobiltelefon seiner Mutter und fotografierte die Papageien, die nicht stillhalten wollten, mit Mutter als Ausbilderin des Secret Service, die zusätzlich noch den BlumenstockaufdenKnienbalancierte.PaulwähltedenBildausschnittso,dasskeineKöpfe aufdemBildzusehenwaren,undhoffte,dassderSecretServiceKaukasienszusehrmitsich selbstbeschäftigtseinwürde,umdaszuüberprüfen.„DieBlumenpackenwirdannspäteraus, späterwennPaulundichwiederalleinesind,ihrverstehtdasdoch",verkündeteMutterwie beieinemEreignis,beidemalledabeiseinwolltenundesdochnichtdurften. DerkaukasischeSecretServicenickteverständnisvoll.Natürlichdauerteesnichtlange,bisdie Papageienmerkten,dassihreKöpfenichtaufdem„Beste-Freundinnen-für-immer-Bild“drauf waren. MuttererinnertePaulmitscharferStimmeandenOfen,derinderhinterenEckedesRaumes stand:„Weißtdu,wozudieserOfenhiersteht,PaulThomas?" „Ja,Mutter,dasistderOfenderUngezogenheiten...",sagtePaulresignierend. „Undwarumdarfernichtangezündetwerden?" „Weil‚Sich-blöd-Stellen‘soistwieFeuer…",fuhrPaulkleinlautfort. „Und?" „UnddannexplodiertdasbeimVerbrennen...irgendwieso...?",warPaulsichnicht ganzsicher. „Genial!",riefIngeborg.„NureinOfen,indemmannichtsanzündet,kanndasFeuer kontrolliertwerden „Das ist die einzige Möglichkeit, denn Feuer ist böse, sehr böse! Niemals darf man Kindernerlauben,mitFeuerzuspielen",ergänzteMutter. 15
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