Nr. 6 | 26. Juni 2016 NZZ am Sonntag Jon Fosse Archaische Wucht aus Norwegen 10 Cybermobbing Schon bei Jugendlichen ein Thema 12 ICH! Werden wir immer mehr zu Narzissten? 22 2000 Briefe Charakterbild desPhilosophen KarlJaspers 24 Bücher am Sonntag N Z Z- LI B RO.C H «Was Literatur für das Verständnis von Geschichte leisten kann» NEU Urs Bitterli, Licht und Schatten über Europa 1900–1945 Eine etwas andere Kulturgeschichte 352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag Fr. 48.–* / € 48.– ISBN 978-3-03810-151-2 Wer hat sie nicht gelesen, die wichtigen literarischen Zeugnisse des 20. Jahrhunderts: Professor Unrat, Im Westen nichts Neues, Draussen vor der Tür oder Jakob der Lügner. Diese und 46 weitere Romane, Essays, Zeitungsartikel und Berichte aus ganz Europa nutzt der Geschichtsforscher Urs Bitterli als neuartige Quellen, um die Jahre zwischen 1900 und 1945 darzustellen. Das Experiment seiner ‹etwas anderen Kulturgeschichte› gelingt meisterhaft. «Urs Bitterli zeigt eindrücklich, was Literatur für das Verständnis von Geschichte zu leisten vermag.» ANNA ROTHENFLUH, WATSON.CH NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected]. * Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich Inhalt Nr. 6 | 26. Juni 2016 NZZ am Sonntag Jon Fosse Archaische Wucht aus Norwegen 10 Cybermobbing ICH! 2000 Briefe Schon bei Werden wir Charakterbild Jugendlichen immer mehr desPhilosophen ein Thema zu Narzissten? KarlJaspers 24 12 22 Bücher am Sonntag Jon Fosse (Seite 10). Illustration von André Carrilho Belletristik 4 Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm Von Manfred Papst 6 Pete Smith: Das Mädchen vom Bethmannpark Von Stefana Sabin 7 Oğuz Atay: Die Haltlosen Von Janika Gelinek 8 Bilal Tanweer: Die Welt hört nicht auf Von Simone von Büren Federico Busonero: The Land That Remains Von Gerhard Mack 9 Ursula Hasler: Blindgänger Von Charles Linsmayer 10 Jon Fosse: Trilogie. Schlaflos. Olavs Träume. Abendmattigkeit Von Jürg Scheuzger 11 Joachim Sartorius: Für nichts und wieder alles Von Angelika Overath Kurzkritiken Belletristik 11 Rebecca West: Die Rückkehr Von Gundula Ludwig Walter Mehring: Sturm und Dada Von Manfred Papst Iren Baumann: An einem dieser Abende Von Manfred Papst Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden Von Claudia Mäder Während ich diesen Satz tippe, startet Deutschland einen Angriff auf Polen. Die Stimmung ist gut, Verletzte gibt’s keine: alle 22 Mann munter. Beileibe nicht immer gehen Wettkämpfe zwischen Nationen so glimpflich aus wie aktuell im Fussball und bald (hoffentlich) beim Kugelstossen oder Bogenschiessen. Der Sport lenkt den häufig fatalen nationalen Konkurrenzeifer in friedliche Bahnen und ermöglicht verlustarme Siege – das war eine der Überlegungen, die Baron Pierre de Coubertin anstellte, als er im ausgehenden 19. Jahrhundert die neuzeitliche Olympiade ersann. Nicht nur Geschichtsinteressierten, auch Freunden der Opernkunst möchten wir die Beschäftigung mit dem Leibeskult aber ans Herz legen, denn die Spiele atmen mit dem Geist des Nationalismus auch jenen von Richard Wagner. All das ist in Klaus Zeyringers Kulturgeschichte der Olympiade (S. 18) nachzulesen. Das Buch ist freilich nur eins von vielen, mit denen wir das Sommerloch zwischen Euro und Olympia zu füllen empfehlen. Fernwehgeplagten sei im Juli das Eintauchen in Oğuz Atays türkischen Jahrhundertroman (S. 7) oder das Schweben durch Jon Fosses Norwegen (S. 10) angeraten. Und wer Zeitreisen vorzieht, mag sich wahlweise in die Ära der Dinosaurier (S. 25) oder ins Jahr 1929 (S. 4) zurückversetzen. Dass Gabriele Tergit dort den Niedergang einer Zeitung beschreibt, soll Sie nicht beirren: Wir kommen wieder, wenn auch erst Ende August. Bis dahin wünschen wir anregende Lektüre. Claudia Mäder Jennifer Mathieu: Die Wahrheit über Amy Johanna Nilsson: Hass gefällt mir Von Daniel Ammann 13 Pernilla Stalfelt: Fang einfach an! Katarina Kuick, Ylva Karlsson: Schreib! Schreib! Schreib! Von Andrea Lüthi Bibi Dumon Tak, Fleur van der Weel: Mücke , Maus und Maulwurf Von Christine Knödler Caroline Eichenlaub, Beatrice Wallis (Hrsg.): Neu in der Fremde Von Sabine Sütterlin Nikolaus Nützel: Dein letzter Gottesdienst? Von Verena Hoenig Kerstin Unseld: Man sieht auch mit den Ohren gut Von Christine Knödler Interview 14 «Verleger arbeiten wie Förster. Sie brauchen Geduld» Jo Lendle, Leiter des Carl Hanser Verlags, im Gespräch mit Manfred Papst Kolumne 17 Charles Lewinsky Das Zitat von Stephen King Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Sachbuch 12 Sabine Ludwig, Astrid Henn: Warum Kater Konrad ins Wasser sprang Von Verena Hoenig Jenny Valentine: Durchs Feuer Von Andrea Lüthi Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus Von Christine Knödler Lorenz Pauli, Kathrin Schärer: Rigo und Rosa Von Verena Hoenig 17 Stefan Bollmann: Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist Von Kathrin Meier-Rust Da, wo etwas los ist. 15 Kulturorte in der Schweiz Von Simone Karpf Didier Eribon: Rückkehr nach Reims Von Claudia Mäder Niklas Luhmann: Der neue Chef Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch KATHRIN SCHÄRER Es lebe der Sport! 18 Klaus Zeyringer: Olympische Spiele Von Manfred Koch 20 Mark Mazower: Griechenland unter Hitler Kateřina Králová: Das Vermächtnis der Besatzung Von Claudia Kühner Svenja Flasspöhler: Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld Von Florian Oegerli 21 Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit Von Joachim Güntner 22 Roger Schawinski: Ich bin der Allergrösste Craig Malkin: Der Narzissten-Test Theodor Itten: Grössenwahn Von Kathrin Meier-Rust 23 Mario Casella: Schwarz Weiss Schwarz Von Claudia Mäder Jochen Raiss (Hrsg.): Frauen auf Bäumen Von Claudia Mäder 24 Karl Jaspers: Korrespondenzen Von Florian Bissig 25 Lisa Randall: Dunkle Materie und Dinosaurier Von André Behr Katharina Schüller: Statistik und Intuition Von George Szpiro 26 Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig Von Simone Karpf Das amerikanische Buch Moira Weigel: Labor of Love. The Invention of Dating Von Andreas Mink Agenda 27 Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois Von Manfred Papst Bestseller Juni 2016 Belletristik und Sachbuch Agenda Juli 2016 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Graf (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Gabriele Tergit hat 1931 einen sensationellen Roman über die Wirtschaftskrise, skrupellose Medien, den Niedergang einer Zeitung und den aufkommenden Nationalsozialismus publiziert. Endlich liegt ihr spannendes Werk wieder vor WennHasardeure dieGeschichte bestimmen wieder in sich zusammenfällt, beschreibt Gabriele Tergit mit pointiertem Spott und Sinn für die Satire. Das ist aber nur ein Aspekt des Buches. Es ist ein rasanter, polyfoner Berlin-Roman. Unter anderem spielt er auf der Redaktion der fiktiven, dem «Berliner Tageblatt» nachgebildeten «Berliner Rundschau», die von einem nassforschen Emporkömmling heruntergewirtschaftet wird. «Wer will Geist? Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement.» Wir sehen hier alle Seiten des komplexen Betriebs: die altgedienten Redaktoren, die an ihren Feuilletons feilen, aber auch den Metteur Miehlke, der die Texte der Edelfedern ungerührt kürzt und dabei sagt: «Och, Leser merken janischt. Die Herren denken immer, es kommt druff an. Es kommt aber nich druff an.» Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Hrsg. von Nicole Henneberg. Schöffling, Frankfurt 2016. 400 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.–. Von Manfred Papst 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 Neun Mark für den Mord Mit Sinn für Satire: Schriftstellerin Gabriele Tergit (1926). JENS BRÜNING Gebannt verschlingt man diesen Roman. Man kann es kaum glauben, dass das 1931 im Rowohlt-Verlag erschienene Werk damals von einer jungen Frau in nur sechs Wochen aufs Papier geworfen wurde. Und noch weniger kann man glauben, wie es dermassen in Vergessenheit geraten konnte. Denn dieser rasante Roman kann es mit den Büchern von Hans Fallada und Erich Kästner ohne Weiteres aufnehmen. Gabriele Tergit, die mit ihrem Erstling schlagartig, wenn auch nur für kurze Zeit, berühmt wurde, weil es bald nach seinem Erscheinen Nacht wurde über Deutschland, erzählt hier die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Volkssängers Käsebier, der von einem Reporter in einem billigen Variété entdeckt und von ihm aus eigenem Karrierekalkül systematisch zum Star hochgeschrieben wird. Plötzlich ist ganz Berlin im Käsebier-Fieber. Der «Rote Stern» äussert sich ebenso zu ihm wie der «Völkische Aufgang». Spekulanten wollen mitverdienen, Immobilienhaie sind flugs dabei, dem Sänger, der nicht weiss, wie ihm geschieht, ein eigenes Theater am Kurfürstendamm zu bauen. Es gibt eine Käsebier-Industrie mit Schallplatten und Gadgets wie bei heutigen Popstars, und es gibt juristische Streitigkeiten zwischen den Verwertungsgesellschaften und einen Plagiatsprozess um die Anfangszeilen von «Ach Mensch, ist Liebe schön». Die besseren Kreise der Hauptstadt, die ihre Langeweile mit hemmungsloser Promiskuität zu vertreiben suchen, haben nichts Dringenderes zu tun, als dem Volkssänger zuzujubeln. Diese Modemanie, die alsbald Das Panorama einer ganzen Epoche ersteht hier vor uns, obwohl der Roman einzig 1929 spielt, im Schicksalsjahr der Weltwirtschaftskrise. Tergit kennt sich in allen Milieus und sozialen Schichten aus. Handwerker, die von Herstellern billig gefertigter Massenware ruiniert werden, schildert sie ebenso wie Ladenmädchen, die sich nach einer Romanze sehnen, und wie das angeschlagene Grossbürgertum, das seine Bilder und Möbel, sein Silber und Porzellan weit unter Wert verkaufen muss. Mit scharfem Blick beobachtet sie den aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus. Gabriele Tergit, 1894 als Kind einer wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie in Berlin geboren, wurde gegen den Willen ihrer Eltern Journalistin. In der Weimarer Republik machte sie sich mit ihren Gerichtsreportagen einen Namen. In Deutschland war sie die erste Frau in diesem Fach. Ihre Reportagen überzeugen bis heute, weil sie Analyse mit Empathie verbinden. Im November 1933 emigrierte die Autorin nach Palästina. Fünf Jahre später floh sie, weil sie das Klima dort nicht vertrug, mit ihrem Mann weiter nach London. Drei Romane hat sie insgesamt geschrieben, dazu eine Autobiografie, die allerdings erst postum veröffentlicht wurde. Ihr Erstling ist ihr Meisterwerk. Der unglücklich gewählte Titel, der an Ludwig Thoma und dessen humoristische Brieferzählung «Käsebiers Italienreise» denken lässt, weist allerdings in eine falsche Richtung. Die Autorin selbst hat später eingeräumt, dass die Wahl des Titels ein Missgriff war. Er verbirgt, wie radikal, zynisch und schnell dieser Grossstadtroman mit seinen witzigen Dialogen, seinen Stakkato-Schilderungen Berlins und seinem illusionslosen Blick auf Zeitgeschichte ist. Die Kapitel des Buches, die auf der Redaktion spielen, sind nicht nur für Eingeweihte ein Vergnügen. Die Dialoge sitzen, und wir begegnen auf Schritt und Tritt überraschenden Formulierungen. «Der Beischlaf gehört zu den überschätztesten Angelegenheiten, trotzdem man ihm noch immer eine grosse Zukunft voraussagen kann», sagt beispielsweise Redaktor Gohlisch. Und die Spesenrechnung von Reporter Mielke lautet wie folgt: «Ein Mord recherchiert = 9 Mark. Auto hin zur Leiche = 3 Mark. Autorückfahrt von der Leiche = 3 Mark. Schnäpse, weil beim Anblick der Leiche so schlecht wurde = 3 Mark.» Gerlinde Tergit versteht sich auf ganz verschiedene Tonlagen. Wenn sie das Proletariat schildert, gelingt ihr eine Grossstadtprosa, die an Alfred Döblin erinnert. Die mit List und Tücke geführten Verhandlungen der Investoren, die sich gegenseitig über den Tisch zu ziehen versuchen, gestaltet sie als packenden Wirtschaftskrimi. Sie ist aber auch eine begnadete Pointillistin, wie folgende Passage, die einen Märzabend auf dem Kurfürstendamm schildert, zeigen mag: AKG IMAGES «Der Asphalt spiegelte. Die Frühlingsbäume hatten einen hellen Schleier im Licht der Bogenlampen, aus dem Tiergarten drang die Sehnsucht der vielen Paare auf den Bänken. Vor dem Café sassen Damen in hellen neuen Kostümen, die kleinen Hüte um die kleinen Köpfe, sie sassen da und tranken aus den Röhrchen Eiskaffee und Eisschokolade. Sie waren herrlich manikürt und massiert und gesalbt und gerötet und geweisst. Lambeck roch diese Luft aus Freiheit, Frechheit und Benzin.» Nichts ist Gabriele Tergit fremd. Sie lässt einige Figuren herrlich berlinern («Na Fräulein, warum denn so mit de frisierte Schnauze») und mokiert sich über den Metaphernsalat mancher Redaktoren («Rausgepickte Entgleisungen, an denen man jemanden festnagelt»). Auch die Redeweise der neuen Zeitungsmacher beherrscht sie: «Was ist Tradition? Gut für Schlösser und gestorbene Feudalherren. Weil ein Zeitungskopf einhundertsiebzig Jahre alt ist, ist er noch nicht gut für 1929. Im Gegenteil!». Beim Konsumenten schlummernde Bedürfnisse zu wecken: Das ist die Aufgabe des modernen Unternehmers. Sparwütiger Baulöwe Wenn wir die Diskussionen unter den Immobilienhaien verfolgen, die einen riesigen Gebäudekomplex mit Luxuswohnungen am Kurfürstendamm planen, glauben wir uns ins Jahr 2016 versetzt. Solche Etablissements dürften nur einen einzigen Fehler haben, sagt ein Berater, und das sei der Preis. Doch das Projekt geht an den gefürchtetsten Baulöwen Berlins. Und der spart gnadenlos. «Er baute Hof an Hof, Zimmer an Zimmer, die Hauptsache war die Feuersicherheit.» Er verstösst nicht gegen die Gesetze. Doch er baut Häuser, in deren Höfen die Kinder nicht spielen dürfen, «ohne Grünplätze, ohne Sandplätze, allen Gefahren ausgesetzt, ihn ging das nichts an.» Zu den Stärken von Tergits Roman gehört es, dass er nicht moralisiert und ohne kommentierende Erzählstimme auskommt. Die Protagonisten sprechen für beziehungsweise gegen sich selbst. Die Autorin ist ein Seismograf für die Schwingungen der Zeit. Ohne je plakativ zu werden, stellt sie dar, wie sich das Unheil über Deutschland zusammenbraut. In der Krise einer Zeitung spiegelt sie den Niedergang der Republik. Und ihre Figuren? Wir lieben und wir hassen sie. Keine bleibt uns gleichgültig. Keine ist ein blosser Funktionsträger. Gabriele Tergit ist mit diesem Berlin-Roman weit mehr gelungen als die Satire, die sie ursprünglich im Sinn hatte. l Berlin (hier: Potsdamer Platz, 1920er Jahre) spielt die Hauptrolle in Gabriele Tergits Grossstadtroman. 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman In seinem zweiten Roman untersucht der Frankfurter Autor Pete Smith, wie Erinnerungen auf die Identität einwirken, und erzählt gleichzeitig eine Liebesgeschichte mit viel Lokalkolorit ZurückindieZukunft Pete Smith: Das Mädchen vom Bethmannpark. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2016. 352 S., Fr. 16.90. Von Stefana Sabin Der Bethmannpark ist eine idyllische Oase inmitten der Bankenstadt Frankfurt am Main: eine Grünanlage, die Napoleon und Goethe gleichermassen begeistert durchschritten. Nun ist dieser Park zum literarischen Tatort geworden. Denn im zweiten Roman von Pete Smith wird ebendort eine Frau bewusstlos aufgefunden. Notarzt und Polizei gehen von einem Raubüberfall aus, denn die Frau hat keine Papiere und kein Geld bei sich, und obwohl ihre Kopfverletzung nicht schwer ist, kann sie sich an nichts erinnern – nicht einmal daran, wie sie heisst, wer sie ist und woher sie kommt. Und niemand vermisst sie. Die Frau ist jung und schön, aber zugleich gedächtnis- und also identitätslos, vergangenheits- und zukunftslos. Wer ohne Vergangenheit sei, dem fehle auch die Vorstellung einer eigenen Zukunft, überlegt der Ergotherapeut, der sich in der Rehaklinik um Patienten mit amnestischen Störungen kümmert. Ein Ent- wurf, selbst ein geborgter, berge immerhin die Hoffnung auf ein einheitliches Leben. Um diese Patienten zurück in die Zukunft zu holen, erzählt er ihnen von Schriftstellern, Wissenschaftern, Schauspielern und bietet ihnen die geborgten Biografien als Identifikationsmöglichkeiten an. Aber in der neuen Patientin glaubt er eine Geliebte aus der Jugend wiederzuerkennen und fängt an, ihr deren Identität anzutragen. So geht sein professionelles Engagement in persönliches Interesse über, und er versucht nicht nur, das Erinnerungsvermögen der Patientin zu reaktivieren, sondern auch vermeintliche gemeinsame Erinnerungen wieder aufzufrischen. Aus therapeutischen und detektivischen, nicht zuletzt aber aus romantischen Gründen führt er die junge Frau schliesslich zum Tatort, also zum Bethmannpark, zurück. Was wie ein Krimi anfängt und sich zur Liebesgeschichte entwickelt, wird zu einem psychologischen Roman, in dem Smith die Abgründe des Gedächtnisses absteckt und die unheimliche Verschränkung aus Erinnern und Vergessen zum narrativen Anker macht. Smith, der 1960 in Soest geboren wurde, in Münster studiert hat und in Frankfurt lebt, hatte schon in seinem ersten, preisgekrönten Roman «Endspiel» das Verhältnis zwischen privater Erinnerung und kollektivem Gedächtnis zum Thema gemacht und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. In seinem jetzigen zweiten Roman verzichtet Pete Smith auf einen derart brisanten historischen Hintergrund und greift stattdessen zu medizinischen – neuropsychologischen – Details, um der Handlung einen plausiblen Halt zu geben. Er benutzt Elemente des Arztromans, um den Ernst der Handlung mit einer komischen Tonlage zu konterkarieren, und versteht es, durch unerwartete Wendungen Spannung zu erzeugen. Dabei lenkt er das Geschehen als auktorialer Erzähler und wechselt geschickt zwischen der Perspektive der jungen Frau ohne Gedächtnis und derjenigen des Ergotherapeuten. Darüber hinaus ist Smith ein Meister des Lokalkolorits und entwirft in diesem Roman eine Topografie der Grossstadt zwischen Einkaufsstrassen und Parkidylle. Das Lokalkolorit und die Mischung aus verschiedenen Gattungen, auch die Figurenkonstellation und die gekonnt gefällige Sprache sind es, die dem Roman seinen Reiz geben. ● ANZEIGE Wo wollen Sie im Alter leben? – Selbstbestimmt leben am Bodensee Im Augustinum Meersburg gestalten Ilse und Wolfgang Biehler ihren Ruhestand aktiv chende Landschaft, an nichts sollte es fehlen. „Wir hatten schon hohe Ansprüche – und in unseren Augen hat das Augustinum Meersburg diese bestens erfüllt. Also haben wir unsere Sachen gepackt und sind von Bottmingen bei Basel nach Deutschland gezogen. Kein kleiner Schritt – aber einer, den wir sofort wieder gehen würden“, erzählt Wolfgang Biehler. 40 Jahre lang haben Ilse und Wolfgang Biehler in der Schweiz gewohnt. Ihren Ruhestand wollten beide in einem inspirierenden Umfeld verbringen, in dem sie selbstbestimmt und aktiv am Leben teilnehmen und sich zugleich im Fall der Pflege bestens versorgt wissen. Kultur, Sport, eine anspre- Seit Sommer 2015 wohnen der promovierte Ingenieur und die Lehrerin, die beide in Deutschland geboren sind, in der modernen Seniorenresidenz am nördlichen Ufer des Bodensees. „Uns ging es gar nicht so sehr darum, ob wir im Alter in der Schweiz oder in Deutschland leben. Wir schätzen beide Länder sehr,“ betont Ilse Biehler. „Nach intensiven Recherchen, auch in der Schweiz, haben wir uns für die Vorteile des Augustinum Meersburg entschieden. Wir wohnen in einem Appartement, das wir ganz nach unseren Vorstellungen eingerichtet haben. Hier haben wir unsere Privatsphäre. Und wenn wir wollen, nehmen wir die vielen Angebote wahr, die das Haus bietet. Es finden hier exzellente klassische Konzerte statt, Sportkurse, Ausflüge und vieles mehr. Besonders haben es uns das hauseigene Schwimmbad, die Sauna und die angebotenen Fitness-Möglichkeiten angetan. Hinzu kommt die sehr gute ärztliche Versorgung in der Region. Und dabei haben wir immer die Sicherheit: Egal, wie es uns gesundheitlich geht, wir können in unserem Appartement bleiben und werden bestens versorgt.“ Hausbesichtigung in unseren 23 Residenzen jeden Mittwoch um 14 Uhr ohne Voranmeldung Zentrale Interessentenberatung Tel. +49 800 / 22 123 45, www.augustinum.de Interessentenberatung Meersburg Tel. +49 7532 / 4426-1810 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 Roman Oğuz Atay (1934–1977) schrieb mit «Die Haltlosen» ein Hauptwerk der modernen türkischen Literatur. Nach 45 Jahren ist es nun ins Deutsche übersetzt worden OrientalischesErzählen trifftaufwestlichesDenken Oğuz Atay: Die Haltlosen. Aus dem Türkischen übersetzt von Johannes Neuner. Binooki, Berlin 2016. 762 Seiten, Fr. 42.90. Von Janika Gelinek Zum Glück denkt man selbst als leidenschaftliche Leserin nur selten über all die Meisterwerke nach, die unübersetzt auf den fünf Kontinenten ihr Dasein fristen, ohne dass man je auch nur von ihnen gehört hätte. Doch wer nun Oğuz Atays «Die Haltlosen» in die Hände bekommt, hat Anlass zu der erschütternden Frage, wie es sein kann, dass dieser Roman 45 Jahre auf seine Übersetzung warten musste. Wie es sein kann, dass es über diesen Autor, der fraglos zu den Grössten seiner Zunft gehört, auf Deutsch kaum einen mageren Wikipedia-Eintrag und nur eine jahrzehntealte Dissertation gibt. Denn es handelt sich schliesslich nicht um irgendwen: Mit seinem Erstlingswerk gilt der 1934 in Inebolu an der Schwarzmeerküste geborene und bereits 1977 verstorbene Oğuz Atay vielmehr als Begründer der literarischen Moderne in der Türkei. Wie so oft, wenn man es mit einem literarischen Meisterwerk zu tun hat, fällt es schwer, den Plot nachzuerzählen, da es darum zwar auch, aber eben nur am Rande geht: Nach dem unerklärlichen Selbstmord seines Jugendfreundes Selim Işık macht sich der Familienvater und Bauingenieur Turgut Özben daran, das Leben Selims mit Hilfe von Freunden zu rekonstruieren. Viele Porträts entstehen so von Selim, der als «Haltloser» charakterisiert wird, als Angehöriger jener Spezies also, die ihren Platz im Leben, auf dem Schulhof, in der Liebe, in der Kunst und auf der Karriereleiter nicht kennen und erst recht nicht den Erwartungen gemäss ausfüllen wollen. Die Suche nach dem Wesen eines verlorenen Menschen gleicht in Oğuz Atays Roman einer uferlosen Reise (Fähre in Istanbul, 1970er Jahre). ein anderes Leben niemals in all seinen Facetten begreifen kann, selbst wenn man alle daran Beteiligten befragt und alle Tagebücher, Zettelchen, Vorlesungsmitschriften und Briefe dieses Lebens liest – ja, nicht einmal dann, wenn man, wie Turgut, der Recherche das eigene Leben widmet. Und noch weitere Merkmale literarischer Grosskaliber weist dieser Roman auf: Dass man nach einmal unterbrochener Lektüre Mühe hat, wieder einzusteigen, weil man sich erst neu orientieren muss in der grandiosen Architektur des Textes. Dass man unentwegt und seitenlang zitieren möchte, aber nicht kann, da die tiefsinnigsten und lustigsten Sätze so sehr in ihren jeweiligen Kontext eingelassen sind, dass sie sich jeder wirkungsbedachten Deklamation verschliessen. Und immer bleibt jene Differenz spürbar, mit der grosse Literatur sich auch schlichter Nacherzählung verweigert und nicht zuletzt dadurch ihre existenzielle Dimension offenbart. Auch der Übersetzung gebührt ein Superlativ, und es ist völlig unverständlich, warum Johannes Neuner nur winzig klein über dem Impressum erwähnt wird. Von osmanischer Rhetorik bis zum gereimten Langgedicht, von protokollarischer Amtssprache bis zum beschwipsten Bordellgespräch, von Standarddialogen ehelicher Tristesse bis zu studentischem Gequatsche, von seitenlangen punkt- und kommalosen Monologen bis zu enzyklopädischen Einträgen scheint es nichts zu geben, für das er keine Lösung fände. Kein Wunder also, dass dieser hochkomplexe Roman ohne Worterklärungen auskommt, ohne Voroder Nachwort, denn Joannes Neuners Übersetzung ist so klar und flüssig, ist eine solche Lust zu lesen, dass man leicht auf zusätzliche Informationen verzichtet. Natürlich gibt es innerhalb des Romans Hinweise und Insiderinformationen, die nur versteht, wer sich in der Türkei auskennt. Kenntnisse in türkischer Geschichte, Geografie und Literatur könnten, wie immer, auch nicht schaden – aber der ekstatischen Freude an der Lektüre tut das keinen Abbruch. Herrlich übergeschnappt Und wer sich wirklich nicht an die 762 Seiten traut, nimmt eben den Erzählungsband «Warten auf die Angst» zur Hand, gleichfalls beim bravourösen kleinen Binooki-Verlag erschienen, der zeigt, was dieser Autor kann. Aber am besten liest man beide Bücher. Denn wer wissen will, wozu Literatur in ihren herrlichsten, hellsichtigsten und übergeschnapptesten Momenten in der Lage ist, wer wissen will, wie schmerzlich genau und spielerisch zugleich sich menschliches Dasein in Sprache fassen lässt, wer neugierig ist, wie produktiv sich orientalisches Erzählen mit okzidentaler Bildung vermischen kann, wer sich hinreissen lassen will von der überragenden Brillanz, mit der in diesem Roman assoziiert, reflektiert und fabuliert wird, kurz, wer wirklich wissen will, wo der Hammer hängt – nämlich sehr, sehr weit oben –, der greife zu Oğuz Atays «Die Haltlosen». ● Nun ist der sensible Taugenichts in der Literatur der Moderne keine unbekannte Figur, doch Atay vollbringt das Kunststück, der Haltlosigkeit tatsächlich eine literarische Form zu geben. «All the world’s a stage», scheint es mit Shakespeare durch den in jeder Hinsicht spielerischen Roman zu wispern – «and one man in his time plays many parts.» In Turguts von Trauer, Selbstzweifeln und inniger Freundschaft getriebener Suche zeigt sich nämlich nicht zuletzt, wie unerschöpflich ein Mensch selbst für seine nächsten Freunde ist. Wie viele Versionen, Gesichter, Erinnerungen eines jeden von uns in der Erinnerung eines anderen aufgehoben sind. Vom Verlust handelt der Roman und davon, dass man WINFIELD PARKS / NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY Jeder hat viele Gesichter 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Der junge pakistanische Autor Bilal Tanweer beschreibt in seinem Erstling den harten Alltag in seiner Heimatstadt Karachi JedeBusfahrtbedeutetGefahr Bilal Tanweer: Die Welt hört nicht auf. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carl Hanser, München 2016. 192 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.–. Von Simone von Büren Einer der kindlichen Ich-Erzähler in Bilal Tanweers Debütroman «Die Welt hört nicht auf» malt in Gedanken auf einer «inneren Schultafel» Bilder und bringt sie zum Strahlen, indem er die Kreide mit Wasser benetzt. Diese glänzenden inneren Szenarien treffen auf den harten Alltag in Karachi, durch das der 33-jährige pakistanische Autor seine allesamt männlichen Ich-Erzähler in ausgeliehenen Autos und überfüllten Bussen fahren lässt. Das Verhältnis zwischen Vorstellung und Realität, Leben und Literatur ist ein zentrales Thema in diesem schlanken Erstling, den der Autor nicht in seiner Muttersprache Urdu, sondern auf Englisch geschrieben hat. Er solle sich nie gegen Räuber wehren, rät einer von vielen Vätern einem von vielen Söhnen in diesem Buch, nachdem ihr Bus überfallen worden ist. Derselbe Vater schreibt Geschichten «von mutigen Menschen, die gegen Bösewichte kämpften», Geschichten, in denen alles sauber Palästina Der Geschichte auf der Spur Wenn wir ans Westjordanland denken, haben wir schnell Bilder von Flüchtlingslagern, Check-Points und Bombardierungen mit vielen Toten im Kopf. Doch wie sieht das Land aus, das im Arabischen «Maschrek», «Land der aufgehenden Sonne», genannt wird und das Territorium östlich des Nils beschreibt? Zeigt es nicht viel mehr als die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen Israeli und Palästinensern? Der italienische Fotograf Federico Busonero unternahm 2008 und 2009 im Auftrag der UNESCO drei Reisen durch das besetzte Westjordanland und hielt mit einer Analogkamera Orte und Land8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 schaften fest, die in der Tagesberichterstattung kaum Erwähnung finden: Er zeigt uralte Olivenhaine wie denjenigen, vor dem ein Pendler wartet, ärmliche Wohnsiedlungen, Schafe, die sich in einen kargen Abhang schmiegen, und die Überreste vergangener Kulturen. Empathisch, elegisch und doch nüchtern macht er auf die Spuren aufmerksam, welche Imperien hinterlassen haben. Der aktuelle Konflikt setzt eine lange Reihe von Auseinandersetzungen fort. Gerhard Mack Federico Busonero: The Land That Remains. Hatje Cantz, Ostfildern 2016. 171 Seiten, 79 Abb., Fr. 55.90. verknüpft ist und gute Gründe hat. Er ist eine von sechs Figuren, die verschiedene Formen und Funktionen von Literatur repräsentieren. Der beste Freund des Vaters, ein alter Kommunist, der die Islamisierung Pakistans bedauert, sucht in seinen Gedichten «nach einer Sprache für seine Verletzungen». Dessen Sohn will in seiner Autobiografie alles Poetische vermeiden. Ein alter Mann notiert die Geschichten der Menschen, die ihm in der Stadt begegnen. Ein Mädchen erzählt seinem Bruder Märchen, die mit immer schwerer lösbaren Problemen enden. Und der kindliche Erzähler des Raubüberfalls, der uns als Schulschwänzer und später als Redakteur wieder begegnet, kommt zum Schluss, dass nur Fragmente «die Dinge abbildeten, wie ich sie wahrgenommen hatte». Letzteres scheint auch Tanweers Haltung zu sein, will er doch dem Leser «all jene Splitter und Späne der Zersprengung» vorführen, die er in seiner Heimatstadt gesammelt hat. Sein episodischer Roman ist eine Aneinanderreihung kurzer Ausschnitte aus dem gefährdeten Alltag von Figuren, die – wie viele von Karachis Strassen – keine Namen haben: Ein Mann bleibt mit seiner Geliebten auf der Fahrt ans Meer im Verkehr stecken; ein anderer wird nicht einmal im Angesicht des Todes die Wut auf seinen Vater los; ein dritter sucht nach mysteriösen glatzköpfigen Männern, die den Müll durchwühlen; und ein Junge begräbt ein totes Küken in einem Blumentopf. Die einzelnen Episoden werden dann aber in sich linear erzählt und ordentlich miteinander verbunden durch eine Bombenexplosion, Busfahrten, rote CocaCola-Mützen und Krähen, die aussehen «wie geflügelter Müll». Ausserdem wird uns in kurzen Prosagedichten genau gesagt, welche Metaphern wichtig sind und wie wir sie zu lesen haben. Tanweer, der an der Columbia University in New York Creative Writing studiert hat, kennt sein Handwerk. Das beweist seine Verwendung verschiedener Erzählperspektiven, literarischer Topoi und Stilmittel, vom Märchen über Gedichte und die psychologische Autobiografie bis zum magischen Realismus eines Salman Rushdie. Allerdings scheint er zwischendurch – wie sein kindlicher Ich-Erzähler – seine «Worte nicht unter Kontrolle» zu haben, weshalb sprachlich und stilistisch manches holperig ist. Und wie die Söhne in seinem Roman ist er noch damit beschäftigt, sein eigenes literarisches Selbstverständnis zu definieren. Deshalb ist «Die Welt hört nicht auf» nicht nur ein Roman über das heutige Pakistan, sondern vor allem einer über das Schreiben – im Speziellen über die Frage, ob man schreibt, um der Welt zu entfliehen oder um sich einen Zugang zu ihr zu erschaffen. Diese Frage wird besonders brisant in einer von Gewalt versehrten, sich selbst fremd gewordenen und zutiefst verunsicherten Heimatstadt, in der am besten überlebt, wer sich abschottet und verhärtet. ● Roman Die Zürcherin Ursula Hasler legt ein staunenswertes Debüt vor, das für viel Verwirrung sorgt Voneinem,derdasGedächtnis verliertundseinLebenfindet Ursula Hasler: Blindgänger. Limmat, Zürich 2016. 358 S., Fr. 39.90, E-Book 27.90. Der Mann, der nicht Marty sein will, erinnert zunächst unwillkürlich an jenen anderen, der nicht Stiller sein wollte. Auch diesen hielt die Umgebung ja unbeirrt für den, der er nicht (mehr) sein wollte, auch da spielte der Frust über die Karriere und das Zerbröseln der Ehe eine Rolle, und ein Satz wie «Er kommt aus einem Land, da sind immer alle unschuldig» könnte ebenso gut von Frisch stammen. Aber Ursula Haslers Roman über einen Mittfünfziger, der sich nach fünf albtraumhaften Monaten als «ins Leben geworfenen und nicht gezündeten Blindgänger» sieht, bewegt sich in eine völlig andere, ganz und gar nicht epigonale Richtung. Die Geschichte spielt 2003. Jean-Pierre Marty, ein Schweizer Französischlehrer, ist eben aus Royan an der Atlantikküste heimgekehrt – er hat da einen Kurs besucht und sich Klarheit über seine kriselnde Ehe und seinen ungeliebten Beruf verschaffen wollen –, als er nach einem Sturz das Gedächtnis verliert und nicht mehr weiss, wer er ist. Um ihn zu heilen, lässt Psychiater Klarer, der Hauptberichterstatter des auf viele Stimmen verteilten Romans, Marty die im Laptop gespeicherten Aufzeichnungen aus Royan nicht nur neu schreiben, sondern ganz bewusst neu erfinden: «Übernimm die Rolle des Autors in der Geschichte, nicht die des Schauspielers.» Romanze mit Hindernis In Royan, erfährt man aus den Texten, hat Marty vor allem nach seiner Herkunft geforscht, war er doch 1945 von einer Schweizer Familie als französischer Kriegswaise adoptiert worden. Hauptlieferantin von Fakten aus der Kriegszeit wird die Kursleiterin Françoise, mit der ihn schon bald eine späte, befreiende Liebesgeschichte verbindet und die ihm Kapitel für Kapitel ihre eigene Familiengeschichte zum Lesen gibt. Das etwas sperrig in die Romanze eingebaute, 80 Seiten umfassende Insert scheint die Ökonomie des Romans zu stören, bis man erkennt, dass die brillant recherchierte Geschichte der deutschen Besatzungszeit in einem überraschenden Bezug zu Martys Herkunft steht. Françoises Mutter Marie-Jeanne hat Gaston, dem stark an Lucien Lacombe aus Louis Malles Film von 1974 erinnernden Kollaborateur, eine sich am Ende bitter rächende Abfuhr erteilt und betrügt ihren in deutscher Gefangenschaft befindlichen Mann mit einem Besatzungsoffizier. Als sie nach der Befreiung öffentlich gedemütigt und von Gaston ertränkt wird, ist sie von dem Deutschen in Er- GAËTAN BALLY / KEYSTONE Von Charles Linsmayer Als er nach einem Sturz aufwacht, weiss Jean-Pierre Marty nicht mehr, wer er ist. Oder spielt er alles nur? Ursula Haslers Roman bietet Raum für verschiedenste Deutungen. wartung, und selbst Françoise erfährt erst 2003, dass ihre Mutter damals wunderbarerweise gerettet wurde und einem Bruder das Leben schenkte, der als «Kind der Schande» zur Adoption in die Schweiz freigegeben wurde. Françoise und Jean-Pierre, denen die geschilderten Umstände erst bekannt werden, als ihnen am Schluss des Romans der Brief einer verstorbenen Ärztin zugespielt wird, sind demnach Halbgeschwister. Der Ausweg an den «Sehnsuchtsort Royan», den er ins Auge gefasst hat, ist versperrt, und dem «Blindgänger» Marty bleibt nur die Weiterexistenz in einem ungeliebten Beruf und an der Seite einer ungeliebten Frau. Virtuoses Vexierspiel Sofern man denn alles für bare Münze nimmt, was in dem nachträglich erfundenen Bericht über den Aufenthalt in Royan steht. Und sofern man einer Autorin auf den Leim geht, die ein aus vielerlei Facetten und Ingredienzen komponiertes virtuoses Vexierspiel mit der Leserschaft treibt. Obwohl als literarisches Debüt angekündigt, hat das Buch bis auf ein paar harzig laufende Übergänge nämlich keineswegs die Schwächen eines Erstlings, sondern profitiert unverkennbar vom Know-how der 1940 geborenen Verfasserin als Germanistin, Psychologin, Historikerin und exzellenter Frankreich-Kennerin. Zwischen den Extremen, dass Marty wirklich sein Gedächtnis verloren hat bzw. dass er alles nur spielt, gibt es jede Menge Deutungsvarianten in diesem Text, den sein fiktiver Verfasser ja auf ärztliche Anordnung hin bewusst erfindet. So könnte die Liebesgeschichte mit Françoise, auch wenn es sie tatsächlich gab und sogar von einer Begegnung der Kursleiterin mit Martys Frau die Rede ist, ebenso eine Erfindung sein wie deren wundersame Familiengeschichte, mit der sich der frustrierte Schweizer Gymnasiallehrer eine abenteuerliche Herkunft zusammenphantasiert. «Nur einer, der fremd ist, sieht die Dinge», heisst es einmal, «nur einer, der selbst fremd wird, sieht sich wieder.» Und am Ende schreibt Marty – aus Frankreich! – dem Psychiater, jede Wahrheit sei imstande, noch eine andere zu verbergen. Nur durch Erfindungen rette man die Wahrheit. Also benötige er die Lizenz zum Lügen nicht mehr, womit er sie hiermit dankend zurückgebe. Die Amnesie halte ihn am Leben. «Royan, mon amour. Es geht mir gut. Wir schreiben weiter.» Wie immer man das virtuose Geflecht aus Erfindung, Lüge und Wahrheit deuten mag, das Ursula Hasler in dieser Geschichte eines am Leben scheinbar Gescheiterten vorlegt: mit der psychiatrisch verordneten Erfindung seines eigenen Lebens und Schicksals hat Marty sich selbst aus dem ungeliebten Schuldienst befreit und ist zum Erzähler geworden, zum Verfasser eines Romans, bei dem einem vor lauter Staunen und unerwarteten Wendungen Hören und Sehen vergeht und mit dem für einmal das Wunder des späten Debüts einer Autorin Wirklichkeit geworden ist, die gleich schon vor einem steht, als sei das vorgelegte Buch der Höhepunkt einer langen Reihe. ● 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Erzählungen Der norwegische Dramatiker Jon Fosse legt eine Prosa-Trilogie von archaischer Wucht und Schönheit vor. Sie handelt von roher Gewalt genauso wie von zärtlicher Liebe BaldMörder,baldMusikant Jon Fosse: Trilogie. Schlaflos. Olavs Träume. Abendmattigkeit. Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Reinbek 2016. 208 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.–. Von dem norwegischen Theaterautor und Erzähler Jon Fosse (*1959) erschien 2008 auf Deutsch die Erzählung «Schlaflos». Zwei 17-Jährige, Asle und Alida, gelangen darin mit einem Boot in die Stadt Bjørgvin (Bergen). Alida ist hochschwanger. Erschöpft suchen die beiden eine Unterkunft, überall werden sie abgewiesen. In einem Häuschen, das sich Asle mit Gewalt erobert, bringt Alida einen Sohn zur Welt. – Viele Rezensenten wiesen auf die biblischen Anklänge hin, waren beeindruckt davon, wie ruhig und sanft Jon Fosse diese Geschichte erzählt hatte. Nur wenige erkannten, dass es in der Erzählung einen gewalttätigen Subtext gibt. Nun erscheint, in der beeindruckend schönen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, das Buch «Trilogie». Drei Erzählungen, nämlich «Schlaflos», «Olavs Träume» und «Abendmattigkeit», bilden darin gemeinsam eine Art von Roman über Asle und Alida. In der zweiten Erzählung geht Asle, der sich aus Vorsicht nun Olav nennt, aus einem Dorf nach Bjørgvin, um für sich und Alida, die ihrerseits nun Åsta heissen soll, Ringe zu kaufen. Ein alter Mann, der sich später als Henker erweist, lässt ihn verhaften. Asle soll, um mit Alida nach Bjørgvin und dort in das kleine Haus zu gelangen, drei Menschen getötet haben. Ohne Prozess wird Asle-Olav hingerichtet. In der dritten Erzählung denkt Alidas Tochter Alise, alt geworden, über das Leben ihrer Mutter nach, um dann, wie zuvor schon Alida, ins Meer und in den Tod zu gehen. Land der Nässe und Kälte Die drei Erzählungen handeln von Leben, Lieben, Gebären, Töten und Sterben, und sie sind fast nie traurig und schon gar nicht dramatisch. Jon Fosse, der den Quäkern beitrat und sich nun zum Katholizismus bekennt, zeigt uns zwei liebende Menschen in der Gnade des Schwebens. Asle, der Totschläger, ist Spielmann mit einer Fiedel. «…und er fiedelt und spielt und wird nicht nachlassen, […], und dann schwebt das Spiel, ja, ja, ja es schwebt ja, und jetzt braucht er nicht mehr draufloszufiedeln, jetzt schwebt das Spiel ja ganz von selbst auf und davon und spielt seine eigene Welt und alle, die Ohren haben, die können es hören…» Auch die Liebe ist ein Schweben, «und sie spüren, dass sie nun zusammen schweben und zusammen sind im Schweben, und Asle spürt in sich, dass Alida ihm viel mehr wert ist als er 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 PHOTO: AXEL LINDAHL/NORWEGIAN MUSEUM OF CULTURAL HISTORY) Von Jürg Scheuzger Jon Fosses «Trilogie» ist in einem «ausserhistorischen» Norwegen angesiedelt. Hier: Haferernte in Jølster um 1890. selbst und dass er ihr alles Gute will, was es auf Erden gibt.» Als Asle gehängt wird, schwebt er über den Fjord hinaus, und als Alida ins Wasser geht, ist Asle mit seiner Musik um sie. Die drei Erzählungen spielen in einem ausserhistorischen Norwegen vor der Industrialisierung, einem Land mit vielen harten, mitleidlosen Menschen, einem Land der Nässe, der Kälte und des Hungers. Asle und Alida sind dem Treiben der Menschen nicht gewachsen – deshalb wohl wird Asle zum Totschläger –, aber sie sind nie im herkömmlichen Sinne unglücklich, denn sie leben nicht nur in einer Zeit. Alles geschieht gleichzeitig, das düsterste Elend und die schönste Liebeserfahrung, das Leben und das Sterben. Die Toten sind für die Lebenden anwesend, sie sprechen, sie mischen sich ein. Deshalb lebt Alida später mit dem fürsorglichen Fischer Åsleik zusammen; Asle hat diese Verbindung gesegnet. Wörter als Taktgeber Fosses Schreiben ist nicht psychologisch. Das kann dem Leser Probleme bereiten: Wie kann dieser junge Bursche Asle so lieb sein, so zärtlich, so sanft, ein so grosser Künstler, und gleichzeitig ein dreifacher Totschläger? Jedenfalls quält ihn selbst kein schlechtes Gewissen. Und Alida erschrickt nicht vor der Erkenntnis, was ihr toter Geliebter getan hat. Beide lassen sich von einer Schicksalsmacht treiben, ohne zu fragen, ohne zu zweifeln, und letztlich ist alles gut. Lesend kann man sich selbst treiben lassen, kann versuchen, auch zu schwe- ben. Man soll sich Jon Fosses Sprache anvertrauen: «… und dann bleibt Ǻsleik stehen und sieht sie an und macht eine Kopfbewegung in eine andere Gasse und dann geht er in die Gasse hinein und Alida geht ihm nach und vor der Brust hält sie den kleinen Sigvald und der schläft den süssesten und sichersten Schlaf und dann öffnet Åsleik eine Tür und hält sie ihr auf und sie geht hindurch und sieht sich um und dann bemerkt sie den Duft von Räucherfleisch und ausgelassenem Speck und es duftet so gut…» Diese parataktische Sprache mit dem Wörtchen «und» als Taktgeber ist das Ereignis von «Trilogie». Jon Fosse hat vor einiger Zeit angekündigt, keine Theaterstücke mehr schreiben zu wollen. Die zahlreichen Dialoge in den drei Erzählungen erinnern aber an den Dramatiker, sie bilden ein hartes Gegenstück zu den schwebenden Erzählstücken, vor allem in der düsteren Erzählung von Olavs Gang durch die Stadt. Diese Dialoge sind nicht immer zwingend interessant; beispielsweise ist der Dialog zwischen einer blonden Dirne und ihrer schmierigen Mutter recht öde. Wenn aber Olav dazu verführt wird, eine Kette zu kaufen, und niemand weiss, ob der Jüngling blossen Ramsch für sein letztes Geld erwirbt – für Alida –, oder ob er einmal in seinem Leben wahrhaft Schönes sehen darf, dann ist das von reinster schwebender Ambivalenz. Vielleicht ist das alles ein bisschen zu viel, zu viel des Schwebens, zu viele «und», zu viel parzivalische Ahnungslosigkeit. Aber es ist schön. ● Lyrik Joachim Sartorius setzt die Schönheit der Sprache gegen die Vergeblichkeit der Existenz «Fern immer wollte ich sein» Kurzkritiken Belletristik Rebecca West: Die Rückkehr. Deutsch von Britta Mümmler. dtv, 2016. 160 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 15.90. Walter Mehring: Sturm und Dada. Gedichte, Erinnerungen und Essays. Hrsg. von M. Dreyfus. Elster, 2016. 200 S., Fr. 35.90. Die britische Autorin Rebecca West (1892–1983) war eine engagierte Journalistin und Erzählerin. Sie arbeitete für die führenden amerikanischen und britischen Magazine ihrer Zeit. Für den «New Yorker» berichtete sie 1946 von den Nürnberger Prozessen. Zehn Jahre war sie mit H. G. Wells liiert, mit dem sie einen Sohn hatte. Hier liegt nun ihr Romandebüt von 1918 erstmals in deutscher Sprache vor. «Die Rückkehr» erzählt von einem britischen Soldaten, der traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg in Frankreich zurückkommt. Er hat einen Teil seines Gedächtnisses verloren und glaubt, wieder zwanzig Jahre alt zu sein. Seine Ehefrau, seine Cousine und eine Jugendliebe versuchen, ihn in die Gegenwart zurückzuholen. Das bewegende kleine Buch gilt als der einzige zeitgenössische Roman, in dem eine Frau von den Schrecken des Ersten Weltkriegs berichtet. Nicht nur deshalb ist es lesenswert. Gundula Ludwig Der deutsch-jüdische Schriftsteller Walter Mehring (1896–1981) zählte zu den bedeutendsten Satirikern und Essayisten der Weimarer Republik. Die Nazis trieben ihn ins Exil, erst nach Frankreich, dann in die USA. Seine späten Jahre verbrachte Mehring in Zürich, wo er auch begraben liegt. Der tapfere kleine Zürcher Elster-Verlag hat – stets in kundigen Editionen von Martin Dreyfus – bereits Mehrings Werke «Die verlorene Bibliothek» und «Dass diese Zeit uns wieder singen lehre» herausgebracht. Nun folgt eine Sammlung von Mehrings Schriften aus dem Umfeld des Dadaismus. Sie umfasst einerseits Gedichte, die dem Dadaismus zuzurechnen sind (Mehring war einer der Mitbegründer des Berliner Zweigs der Bewegung), andererseits Essays und Erinnerungen, die den Dadaismus kritisch reflektieren. Mehring erweist sich hier einmal mehr als pointierter Stilist und unbestechlicher Zeitzeuge. Manfred Papst Iren Baumann: An einem dieser Abende. Waldgut, 2016. 60 Seiten, Fr. 24.90. Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden. Unterwegs in meinem Brasilien. Diogenes, 2016. 384 S., Fr. 33.90. Plötzlich ist da das dumpfe Gefühl, es stünde jemand in der Küche. Ein Bekannter, ein Beamter? Und was will er? Eine Adresse, einen Teller Suppe? Hat er ein Messer in der Hand? – Solche kleinen Geschichten erzählt die Zürcher Lyrikerin Iren Baumann, die 1939 in England zur Welt kam, in ihren Gedichten. Sie sind in diesem Band ungereimt und bedienen sich einer unprätentiösen Sprache. Gleichwohl verdichten sie den Alltag auf ganz ungewöhnliche Weise. Sie bringen die Elefanten im Zoo sowie den Reiher auf dem Giebel ins Gedicht, aber auch das Kabel fürs Ladegerät und Reisende mit Rollkoffern. Unverwandt betrachtet Baumann ihre teils vertraute, teils fremde Welt, aufmerksam, doch ohne Gefühligkeit. Gerade das Herbe macht die Schönheit ihrer Verse aus. Ein Überhang an Gesinnung ist nicht zu befürchten. Diese Lyrik ruht in sich selbst. Manfred Papst Bald wird wieder alle Welt von Brasilien reden, weil sich dort die Athleten messen. Weil er das Leben dort liebte, hat Hugo Loetscher schon vor 50 Jahren über Brasilien geschrieben: Seit 1965 hat er das Land immer wieder bereist und seine Eindrücke zu literarischen Reportagen verarbeitet, die in der «Weltwoche», im «Magazin» oder in der «NZZ» erschienen. Gut 20 dieser Texte sind nun in einem Band greifbar und laden die Leser ein zu Schifffahrten auf dem Amazonas, Besuchen bei Mystikern oder Auseinandersetzungen mit der Rassenfrage – Loetscher liebt Brasilien, lässt die rosa Brille aber zusehends im Koffer. Präzise beschreibt er, wie sich Land und Leute im Zeichen des Fortschritts verändern, verliert dabei nie das literarische Schweben und weckt so beim Leser «saudade», eine leise Wehmut – nur schon über das Aussterben dieser wunderbaren Literaturgattung. Joachim Sartorius: Für nichts und wieder alles. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 91 Seiten, Fr. 21.90. MATTHIAS BOTHOR / PHOTOSELECTION Von Angelika Overath Was macht ein gutes Gedicht aus? Vielleicht wenn es mit Charme fremd bleibt, irritierend, wenn es einen unverstanden ergreift und mitnimmt wie eine uralte Stadt (am Meer, am Dnjepr, in der Wüste) oder wie eine Geliebte (mit ihrer «Haut weisser als Ricotta / und fest wie eine unreife Traube»). Wenn es also verführt. Zum 70. Geburtstag hat Joachim Sartorius (promovierter Jurist, Generalsekretär des Goethe-Instituts, Intendant der Berliner Festspiele, und: Dichter) neue Lyrik vorgelegt. «Für nichts und wieder alles» ist ein Zurückschauen auf gelebte Tage – allein, mit Freunden, Frauen in den west-östlichen Sehnsuchtspassagen, immer ein Buch in der Tasche. Gegen das grosse Umsonst des menschlichen Daseins setzen die Verse das Alles der Poesie. Den Skandal der Vergänglichkeit durchschlägt der radikale Augenblick, «denn / vom erinnerten Leben bleibt nichts als die Frische / einzelner Sinne». Das ist viel und in nuce eine Poetik. Seelenarbeit ist Sprachkalkulation im souveränen Wechsel der Töne. Da gelingt der abendliche Moment an der Pferdekoppel: «Am Zaun drei blonde und graue Rehe. / Die Landschaft wird unergründlicher. Die Wiese wird der unruhige Schlaf der Wiese.» Wieder anders das surreale Aufjubeln zu einer «Opera of the Orient», wo die arabische Königin im innersten Rot roter Zelte lebt, «Geschmeide um Hals und Leib. Im Schamhaar / Körner, nach denen Pfauen rastlos picken». Und Sartorius scheut nicht («Frühling in Aleppo») die Überblendung von fallenden Mandelblüten mit dem blutigen Terror: «Der Kopf in die Wolken gesprengt, / der Körper tausend Blütenfetzen, / nicht mehr zusammenzusetzen, schwarz.» Seine Poesie bringt das exotischste Land (auch die Mark Brandenburg) ganz nah und holt das Exterritoriale der eigenen Vergangenheit zurück. Mit einem empathischen, seiner selbst nie sicheren Ich, diesem immer kippenden Kaleidoskop: «Bin ich Tunesier? Der Fellache aus FortSud? Fügen die Kacheln den Traum der afrikanischen Jahre?» Es bleibt in diesen Gedichten der schöne Trost osmanischer Ornamente: «Rispe, Kelch, Speer: Fern immer wollte ich sein.» ● Claudia Mäder 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Kinder- und Jugendbuch Kurzkritiken Sabine Ludwig (Text), Astrid Henn (Illu.): Warum Kater Konrad ins Wasser sprang. cbj, 2016. 160 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 J.). Cybermobbing Zwei Bücher erzählen von der vernichtenden Wirkung falscher Gerüchte in den Social Media Jenny Valentine: Durchs Feuer. Aus dem Englischen von Klaus Fritz. dtv, 2016. 260 Seiten, Fr. 21.90 (ab 14 J.). Am medialen Pranger Jennifer Mathieu: Die Wahrheit über Amy. dtv, München 2016. 239 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 8.80 (ab 14 Jahren). Johanna Nilsson: Hass gefällt mir. Beltz & Gelberg, Weinheim 2016. 169 S., Fr. 18.90, E-Book 13.90 (ab 14 Jahren). Wie Mäuseohren beim Hineinbeissen so schön «knurpseln»! Katerjunge Konrad verspeist die Nager gerne – nur tot müssen sie sein. Die Maus auf seinem Pausenbrot jedoch erweist sich als höchst lebendig. Marie Antoinette heisst sie und hängt fortan wie eine Klette an ihm. Aus Versehen geraten die beiden unter die Hunde und Konrad macht die Entdeckung, dass diese keineswegs Beisser und Schüttler sind, wie man ihm beigebracht hat. Das Abenteuer verhilft dem Kater zu einem neuen Selbstbild. Endlich kann er seiner überbesorgten Mutter und gemeinen Schulkameraden Paroli bieten. Konrads Wandlung wird aberwitzig erzählt und ist grandios illustriert. Aber die meisten Lacher erntet wohl die kecke Mäusedame, die sich von Unfreundlichkeiten und Gefahren unbeeindruckt zeigt. Eigenbrötlerische Figuren mit unglücklichen Familiengeschichten sind die Spezialität der britischen Autorin Jenny Valentine. Hier ist die jugendliche Hauptfigur eine Pyromanin: Immer wenn Iris wütend und verzweifelt ist, macht sie ein Feuer, und das wird rasch gefährlich. Sie lebt bei ihrer Mutter, und die beiden können sich nicht ausstehen. Trotzdem glaubt Iris, der Vater habe sie im Stich gelassen, als sie vierjährig war. Als die Mutter ein Treffen arrangiert, um das Erbe zu sichern, ist Iris skeptisch. Doch der schwerkranke Vater nutzt die kurze Zeit, um seiner Tochter die Wahrheit zu erzählen. Langsam kommen sie sich näher. Manche Figuren, wie die kaltherzige und berechnende Mutter sind stark überzeichnet, aber auch in diesem packenden Roman erzählt Valentine Tragisches mit Witz und Ironie. Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus. Peter Hammer, 2016. 148 Seiten, Fr. 20.90 (ab 12 Jahren). Lorenz Pauli (Text), Kathrin Schärer (Bild): Rigo und Rosa. Atlantis, 2016. 128 Seiten, Fr. 26.80 (Vorlesen ab 6 Jahren). Kein anderes Thema hat das (Bücher-) Frühjahr so bestimmt wie die Migration. Auch Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt von ihrer Flucht aus dem Iran, vor Krieg und Bomben. Bereits im Prolog macht die Autorin eine weitreichende Aussage: Nichts anderes hat neben dem eigenen Überleben Platz, nicht einmal eine Jahrhundertkatastrophe. «So verpassten wir Tschernobyl», heisst es lapidar. Genau dieses Beiseite-Sprechen wird zur literarischen Antwort auf erlittene Wirklichkeit. Angst, babylonische (Sprach-)Verwirrung, Verlorenheit, der Neuanfang in Deutschland sind konsequent aus Kindersicht für Kinder aufgezeichnet, bis die individuellen Erfahrungen der Familie zu einem universalen Stück Menschheitsgeschichte werden: Zeugnis und Parabel zugleich. Ein herausragender Roman, der bleibt. Leopard Rigo ist alt und wohnt im Zoo. Maus Rosa dagegen ist jung und frei. Obwohl Nager auf dem Speiseplan der Grosskatzen stehen, bittet Rosa Rigo, ihr Beschützer zu werden. Von so viel Naivität überrumpelt, willigt dieser ein und eine Freundschaft beginnt, die das Leben beider Tiere bereichert. Wieder einmal hat sich die Zusammenarbeit von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer zu einem kleinen Wunder gefügt. Die Illustratorin charakterisiert die Mimik des manchmal griesgrämigen Rigo genial mit abertausend Fellhaarstrichen, und die liebenswürdige Rosa tobt so munter über die Seiten, dass es ein Fest ist. Für die Figur des Rigo liess Pauli sich von einem Leopard inspirieren, der bis 2010 im Berner Tierpark lebte. Die Zwiegespräche bringen Kinder zum Lachen und stiften sie zu eigenen Gedankenflügen an. Verena Hoenig Christine Knödler 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 Andrea Lüthi Verena Hoenig Von Daniel Ammann Amys Ruf ist ruiniert. Seit die 15-Jährige sich an Elaines Party hintereinander mit zwei Jungs eingelassen hat, hört das Gerede nicht mehr auf. Ihre Schuld soll es auch sein, dass einer der beiden jetzt tot ist, weil er durch ihre SMS abgelenkt wurde. Sein Kumpel Josh muss es wissen, denn er sass ebenfalls im Wagen und hat den Unfall überlebt. Doch jetzt rutscht Amy auf der Beliebtheitsskala rasant nach unten. Sogar ihre langjährige Freundin Kelsie muss auf Distanz gehen, um nicht selber in Verruf zu geraten. In der Schlampenkabine auf dem Mädchenklo kann inzwischen jeder lesen, was von Amy zu halten ist. Kein Wunder, dass sich am Ende nur noch ein Nerd wie der hochbegabte Aussenseiter Kurt mit ihr abgibt. Was rund um die besagte Partynacht tatsächlich geschehen ist, was in den Köpfen der Beteiligten vorgeht und wie Geheimnisse durch neue Lügen vertuscht werden, enthüllt sich erst nach und nach in den bekenntnishaften Erzählungen von Elaine, Kelsie, Josh und Kurt. Autorin Jennifer Mathieu zieht die Schraube langsam an und setzt einen effektvollen Schlusspunkt, wenn sie im letzten Kapitel Amy eine Stimme gibt. Auch die Schwedin Johanna Nilsson lässt in einer dichten Geschichte über sexuelle Nötigung, Cybermobbing und überforderte Eltern ihre jugendlichen Protagonisten selbst zu Wort kommen. Da ist in erster Linie die unscheinbare Jonna mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ihre hübsche Freundin Gloria, die nach einem Übergriff und öffentlicher Blossstellung erbarmungslos zurückschlägt, und schliesslich der Peiniger Robin, der zwischen sektiererischem Elternhaus und populärer Heldenrolle jeglichen emotionalen Halt zu verlieren droht. Eine eskalierende Hetzjagd im Internet führt der ganzen Schule vor Augen, wie schnell Anführer zu Hassobjekten, Mitläufer zu Vollstreckern und Opfer zu Tätern werden. Beide Romane erlauben durch mehrfache Perspektivenwechsel tiefere Einblicke in seelische Abgründe und zeigen, was gedankenloses Mittun auf dem Tummelplatz sozialer Medien anrichten kann, wenn Erwachsene wegschauen oder zu sehr mit sich beschäftigt sind. ● Schreiben Hinsitzen und anfangen: So einfach lassen sich Geschichten erfinden Keine Angst vor dem leeren Blatt Pernilla Stalfelt: Fang einfach an! Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer. Moritz, Frankfurt 2016. 32 Seiten, Fr. 16.90 (ab 7 Jahren). Katarina Kuick, Ylva Karlsson: Schreib! Schreib! Schreib! Aus dem Schwedischen von Gesa Kunter. Beltz & Gelberg, Weinheim 2016. 144 S., Fr. 21.90 (ab 14 J.). Von Andrea Lüthi Aufsatzschreiben stösst nicht bei allen Kindern auf Begeisterung. Zwei Sachbücher aus Schweden zeigen, dass Schreiben lustvoll sein kann, fernab von Pflichtthemen. «Schreib! Schreib! Schreib!» von Katarina Kuick und Ylva Karlsson ist ein Sammelsurium an Anregungen, ergänzt mit Berichten aus der eigenen Textwerkstatt und Interviews mit schreibenden Jugendlichen. Jeder lässt sich von anderem inspirieren, und dem tragen die Autorinnen Rechnung. Das Buch lädt zum Schmökern ein; es ist wild gestaltet und ohne Ordnung und Konzept. Da gibt es zahlreiche Ideen für Themenwahl, Erzählperspektiven oder Figurenfindung: Die Augenzahl eines Würfels bestimmt die Stimmung in einem Gedicht, ein Mensch im Bus wird zur Hauptfigur einer Geschichte – oder ein Kaninchen zum Erzähler-Ich. Die Autorinnen erklären zudem, was einen lustigen oder langweiligen Text ausmacht. Der unbeschwerte Ton schafft eine persönliche Note, und man wähnt sich unter Schreibkomplizen, ohne dass dies anbiedernd wirkt. «Fang einfach an!» von Pernilla Stalfelt richtet sich an jüngere Kinder, für die es noch kaum Bücher zum Thema gibt. Die Autorin ist auch Illustratorin und zeigt, wie sich Geschichten auch in Bildern erzählen lassen. Sie erklärt, wie Comics funktionieren oder wie man die Stimmung einer Figur verdeutlicht. Ihr eigener Stil wirkt fast naiv; sie zeichnet einfach und mit wenigen Strichen. So lässt sich sofort erkennen, welche Details die jeweilige Stimmung einer Figur ausmacht: Stirnrunzeln und ein Punkt als Mund lassen eine Schnecke bekümmert wirken, Sterne um den Kopf bedeuten, dass ihr «kotzübel» ist. Absurd-komische Ideen dienen als Anregungen für eine Geschichte; sei dies ein Mädchen, das über eine Banane lacht oder eine Sonne, die Gitarre spielt. Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie keine Schritt-für-SchrittAnleitungen oder Regeln liefern, sondern Mut machen, zu kritzeln, zu erzählen und drauflos zu schreiben, ohne Angst, etwas falsch zu machen. ● Kurzkritiken Bibi Dumon Tak, Fleur van der Weel: Mücke, Maus und Maulwurf. Hanser, 2016. 88 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 Jahren). Carolin Eichenlaub, Beatrice Wallis (Hrsg.): Neu in der Fremde. Beltz & Gelberg, 2016. 208 Seiten, Fr. 23.90 (ab 14 Jahren). Sie sind ein eingespieltes Team: die Zeichnerin Fleur van der Weel und die Autorin Bibi Dumon Tak. Ihr Spezialgebiet: Tiere. In ihrem neuesten Band sind das «Mücke, Maus und Maulwurf. Die allernormalsten Tiere der Welt.». Normal? Allernormalst? Was soll das sein? Eine Verheissung natürlich! Und die wird eingelöst. Denn das ist die zweite Spezialität der Künstlerinnen: ihr eigenwilliger Blick, der immer wieder neue Ein- und Ansichten ermöglicht, etwa auf das Besondere im vermeintlich Bekannten. Nicht zu vergessen die dritte Spezialität: die sagenhaften Geschichten, die sich von Nacktschnecke, Wanderratte und all den anderen erzählen lassen. In stetem Dialog mit den Lesern – «Hallo, uns wird schlecht! Aufhören!» – entwickeln die 40 Tierporträts eine hinreissende Komik, informieren und überraschen. Luna ist als 14-Jährige mit ihrer Familie aus Syrien nach Wien gekommen. Es hat Jahre gedauert, bis sie erkannte, dass eine neue Heimat zu finden nicht bedeutet, die alte zu verleugnen. Die 64-jährige Friederike hingegen ist in ihrem Leben nur einmal innerhalb Deutschlands umgezogen. Mit Flucht und Migration bekam sie erst zu tun, als ihr Sohn ihr einen syrischen Mitstudenten auf Wohnungssuche vorbeischickte. 19 Menschen beschreiben in diesem Band die harsche Erfahrung, die ein kompletter Neuanfang in unbekannter Umgebung stets bedeutet. Diese wird nachvollziehbar, weil nicht nur Flüchtlinge zu Wort kommen, sondern auch Eingesessene, die sich ungewollt oder sogar mit Absicht in der Fremde zurechtfinden mussten. Das steigert den Mehrwert der Lektüre über die Tagesaktualität hinaus. Nikolaus Nützel: Dein letzter Gottesdienst? cbj, 2016. 184 Seiten, Fr. 24.90 (ab 12 J.). Kerstin Unseld: Man sieht auch mit den Ohren gut. Illus. von Leonard Erlbruch. dtv, 2016. 180 S., Fr. 18.90 (ab 10 Jahren). Konfirmation und Firmung machen Jugendliche zu «vollwertigen Christen». Und doch lassen sie sich nach dem Fest so gut wie nie mehr in der Kirche blicken, als ob die Sache mit dem Glauben jetzt abgehakt wäre. Aber kann man diesem christlichen Verein mit seinen rund zwei Milliarden Mitgliedern einfach so entkommen? Nikolaus Nützel tritt in direkten Dialog mit dem Leser und stellt bohrende Fragen. Die Antworten, die er findet, sind Etappen und führen zu weiteren Überlegungen. Dabei passiert das Unglaubliche: Der Leser steigt ein und die gemeinsame Suche nach dem Vorher, dem Nachher und dem Warum interessiert plötzlich brennend. Auch die Fotos werfen durch Nützels trockene Kommentare Fragen auf. Der Autor selbst ist mit 18 aus der evangelischen Kirche ausund 34 Jahre später wieder eingetreten. Lehr- und Wanderjahre haben Tradition, in «Sophies Welt» etwa wurde der Kosmos der Philosophie abgeschritten, aktuell tritt ein weiterer Erkenntnissucher auf: Mathis liebt die Musik. Für ihn gilt in besonderem Masse «Man sieht auch mit den Ohren gut. Eine kleine Reise in die Musik», denn Mathis ist blind. Mit seinem Hund Muks reist er kreuz und quer durch Länder, Zeiten, Epochen, auf der Suche nach der Königin der Instrumente. Unterwegs haben Hildegard von Bingen, Herr Stamitz, Louis Armstrong und andere mehr den beiden viel zu sagen. Überhaupt ist das alles lehrreich, interessant und unverkennbar aus der Feder einer leidenschaftlichen Kennerin. Und doch geht die Absicht erst zum Schluss auf, wenn die dort genannten Hörbeispiele ohne Worte leisten, was das ganze Buch will: mit und für Musik begeistern. Christine Knödler Verena Hoenig Sabine Sütterlin Christine Knödler 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Hanser zählt zu den führenden Verlagshäusern Deutschlands. Seit Anfang 2014 ist Jo Lendle hier für die Programme zuständig. Wie hat sich der nüchterne Niedersachse in München eingelebt, und wie führt er das Erbe von Michael Krüger in die Zukunft? Interview: Manfred Papst «Verlegerarbeiten wieFörster.Sie brauchenGeduld» Bücher am Sonntag: Herr Lendle, Sie leiten jetzt seit zweieinhalb Jahren die Geschicke der HanserVerlage; davor waren Sie erst Lektor, dann Programmleiter und schliesslich verlegerischer Geschäftsführer bei DuMont. Was unterscheidet die beiden Unternehmen und die beiden Aufgaben? Jo Lendle: Die Häuser sind von unterschiedlicher Grösse. Das betrifft die Titel- und die Umsatzzahlen, aber fast mehr noch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Hinzukommt, dass zu Hanser weitere Verlage gehören, Hanser Berlin, Nagel & Kimche in Zürich sowie Zsolnay und Deuticke in Wien. Da spielt Koordination eine gewisse Rolle. Eilen Sie ständig zwischen den vier Städten hin und her? So dramatisch ist es nicht. Vieles lässt sich schriftlich oder am Telefon erledigen, aber von Zeit zu Zeit gehört das persönliche Gespräch dazu. Gerade haben wir eine neue Runde von Treffen eingeführt, in denen wir bereits ein Vierteljahr vor den berühmten Vertretersitzungen zu jedem einzelnen Buch unsere Lektüreeindrücke austauschen und mit allen Abteilungen Pläne entwickeln. Das bedeutet zusätzliche Reisen und zusätzlichen Aufwand, aber auf manche Ideen kommt man eben nur im Rahmen solcher Zusammenkünfte. Verleger und Erzähler Jo Lendle wurde 1968 in Osnabrück geboren und wuchs in Göttingen auf. In Hildesheim und Montreal studierte er Kulturwissenschaften. 1997 war er als Lektor bei DuMont am Aufbau des literarischen Programms beteiligt, 2006 übernahm er die Programmleitung für den Bereich deutschsprachige Literatur und 2010 die verlegerische Geschäftsführung. Seit Anfang 2014 ist er in der Nachfolge von Michael Krüger Chef des Carl Hanser Verlags in München. In der Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlichte er die Romane «Die Kosmonautin» (2008), «Mein letzter Versuch die Welt zu retten» (2011) und «Was wir Liebe nennen» (2013). Auch als Übersetzer und Herausgeber ist er hervorgetreten. Jo Lendle lebt mit seiner Familie in München. Sehen Sie die die gewaltige Backlist von Hanser eher als Kapital oder eher als Belastung? Das ist ein Schatz. Einer, der lebendig gehalten werden will, auch wenn der Bestand der lieferbaren Bücher es zunehmend schwer hat, Sichtbarkeit zu bewahren. Wir haben gerade in langen Verhandlungen die Verträge einiger Gesamtwerke verlängert, etwa von Borges, da zeigt sich, wie weit die Erwartungen der Agenten von dem abweichen, was sich in der buchhändlerischen Wirklichkeit dafür tun lässt. Einzigartig wird es, wo Backlist und Verlagsgegenwart sich berühren – eine der vielen Autorenreisen der Anfangszeit führte mich nach Paris, wo mir Milan Kundera die Pläne für seinen ersten Roman nach dreizehn Jahren erzählte. Ich bin dankbar, mit Umberto Eco und Lars Gustafsson noch einmal Romane publiziert haben zu können, auch wenn es nun leider ihre letzten bleiben werden. Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gesagt, dass Sie das Programm reduzieren wollten. War das nicht eine zu defensive Botschaft? Ich denke nicht. Auswählen gehört zum Wesen eines Verlags. Und von Zeit zu Zeit die Programmgrösse mit den aktuellen Kapazitäten von Handel und Literaturkritik abzugleichen, ist nicht verkehrt. Vor allem aber geht es darum, jedes Buch einzeln zu begleiten, es genügt ja Hanser steht für Literatur, es müssen nicht alle alles machen. Das Krimi- und Thriller-Genre ist unglaublich stark vom Marketing getrieben, weil manches austauschbar ist. nicht, sie in die Welt auszusetzen. Wir publizieren im allgemeinen Programm 180 Titel pro Jahr, ein gutes Dutzend weniger als zuvor, das bleibt eine stolze Zahl. Als Sie Ihr Amt antraten, sagten Sie der «FAZ», Sie wollten mehr Frauen, weniger Krimis und mehr junge Stimmen im Programm. Haben Sie diese Vorsätze realisiert? Das war eine schön verkürzte Headline. Trotzdem würde ich sagen: Ja, man sieht das in den Programmen. Dass Autorinnen und jüngere Stimmen hinzutreten, ist selbstverständlich. Die stärkere Auswahl bei den Krimis war eine verlegerische Entscheidung. Hanser steht für Literatur, es müssen nicht alle alles machen. Wir haben bei Zsolnay eine Tradition von Spannungsliteratur, das führen wir fort, aber nicht so ausgeprägt wie in früheren Jahren. Welche Konsequenz hat das? Das Krimi- und Thriller-Genre ist unglaublich stark vom Marketing getrieben, weil manches austauschbar ist. Da kommen Sie zum Teil auf absurde Resultate. Bevor ich das Geld dort verbrenne, nutze ich es lieber für das, was wir am besten können und was das Hanser-Versprechen über das einzelne Buch hinaus transportiert. Da lässt sich mit gleichem Aufwand mehr bewegen. In diesem Frühjahr hatten wir das Glück, mit zwölf Titeln auf der Bestsellerliste zu stehen – alles literarische Bücher, sie haben von dieser Konzentration profitiert. Welche Titel im Herbstprogramm liegen Ihnen besonders am Herzen, auf welche setzen Sie? Ein Beispiel: Schon bevor ich zu Hanser kam, habe ich die Breite der internationalen Literatur hier im Programm geschätzt, es gibt eine ▲ 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 War es schwierig für Sie, ins Haus Hanser mit seinen festgefügten Strukturen einzutreten? Da hatte Michael Krüger über Jahrzehnte die Geschicke geprägt. Insgesamt war er 45 Jahre für den Verlag tätig. Er war eine übermächtige Figur. Dieses Erbe und die Strukturen des Hauses habe ich nicht als Belastung empfunden, es schenkt einem ja vor allem die Möglichkeit, etwas fortzuführen, etwas zu bewegen. Im Verlag gab es eine eindrucksvolle Bereitschaft, Routinen in Frage zu stellen, andererseits sind viele der hiesigen Standards wirksam und erhaltenswert. Das haben wir im ersten Jahr überprüft, manches angepasst, ein paar neue Ideen entwickelt und das meiste bewahrt. In eine solche Tradition einzusteigen, verlangt in erster Linie, Zugänge zu finden, mit den Autoren, mit allen, die sich im Verlag für die Bücher einsetzen. Ich bin nach wie vor überrascht, wie selbstverständlich das vor sich ging. ROBERT HAAS / SZ PHOTO Jo Lendle hält das geschriebene Wort hoch und verfasst neben eigenen Büchern täglich auch Dutzende Briefe. 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Interview ▲ grosse Weltzuständigkeit. In der Entdeckung wichtiger neuer Autoren aus den USA hatte der Verlag zuletzt jedoch ein wenig den Anschluss verloren. Und Philip Roth hat zu meinem Unglück keine weiteren Schreibpläne. Die amerikanische Literatur ist aber so interessant, dass ich da dranbleiben will. Deshalb freut es mich, in diesem Herbst die beiden zentralen jüngeren Stimmen bei Hanser und Hanser Berlin zu haben: Emma Clines Debüt «The Girls» ist in den USA eben erschienen und begeistert Leser und Kritiker, Lauren Groffs «Licht und Zorn» war dort die literarische Entdeckung des vergangenen Jahres. Hanser war in den letzten Jahren praktisch abonniert auf Nobelpreisträger. Wie wichtig ist das? Es setzt dem Programm ein Glanzlicht auf – im Renommee wie im Umsatz. Natürlich habe ich mich gefreut, als diese Serie weiterging, dass Hanser bei den Nobelpreisen abräumt, gehört ja schon fast zur Folklore. Auch wenn dies natürlich nicht meine Meriten sind, Patrick Modiano und Swetlana Alexijewitsch waren bereits im Verlag, als ich kam. Verleger arbeiten wie Förster. Sie brauchen Geduld. Man pflanzt und sieht Jahrzehnte später, was daraus geworden ist. Mit Ihrem Vorgänger Michael Krüger verbindet Sie, dass Sie beide auch sehr produktive Schriftsteller sind. Sie haben mehrere Romane publiziert. Kommen Sie noch zum Schreiben, seit Sie bei Hanser sind? Im ersten Jahr habe ich mir das verboten. Es geht einem auch einfach zu viel durch den Kopf. Inzwischen reserviere ich mir wieder eine frühe Morgenstunde für eigenes, der konzentrierte Moment am Tageseinstieg tut mir einfach gut. Allerdings würde ich lügen, wenn ich behauptete, dass das gerade nur so fliesst oder dass ich da nicht manchmal heimlich doch schon etwas anderes mache. Wobei es ja auch schön ist, in der Früh einfach mal eine halbe Stunde in die Luft zu schauen. Zu den neuen Dingen, die Sie ausprobiert haben, gehören die «Hanser Box»-Publikationen, kürzere Texte, die ausschliesslich als E-Books erscheinen. Wir hatten ein Buch zu den Pariser Anschlägen, wir hatten ein Buch zu Pegida, als es in Dresden hochkochte. Das alles ginge nicht mit gedruckter Vorschau und langen Vorläufen. In der Branche munkelt man, sie seien ein Flop. Was sagen Sie dazu? Unter dem jetzt entstehenden E-only-Markt sollte man sich keinen trubeligen, dicht besuchten Marktplatz vorstellen. Vieles ist im Entstehen, gerade bildet sich zum Beispiel ein eigenes Rezensionswesen heraus. Für uns ist es wichtig, dort mitzumischen, zu lernen, unseren Autoren eigene Angebote zu machen, bevor irgendwelche Onlinehäuser es tun. Das Format gibt uns die Möglichkeit, auszuprobieren, wohin sich das Publizieren entwickeln könnte, das ist ein wichtiger Schritt. Wir haben dafür jeden Ablauf im Verlag neu bestimmt, so dass nun statt zehn Monaten Vorbereitung nur noch drei Wochen zwischen Manuskriptabgabe und Erscheinen liegen. Gerade bei Reportagen ist das ein relevanter Unterschied. Wir hatten ein Buch zu den Pariser Anschlägen, wir hatten ein Buch zu Pegida, als es in Dresden hochkochte, wir haben jetzt ein Buch von einer Autorin, die in den Zeltlagern von Idomeni war. Das alles ginge nicht mit einer gedruckten Vorschau und langen Vorläufen. Haben Sie Ihre Ziele mit diesem Format nicht zu hoch gesteckt? Die Ziele waren sehr pointiert: Wir haben von Anfang an auf Bezahlangebote gesetzt, um nicht in die Fallen zu tappen, in denen der Onlinejournalismus steckt. Das ist ein recht überschaubares Geschäftsmodell, immerhin mit einem kleinen Vorschuss und mit Unterstützung der Presse- und Vertriebsabteilungen – alles noch im Sandkastenformat, aber dafür sind Forschungs- und Entwicklungsinitiativen ja da. Auch wenn der Bereich nicht zu unserem Gewinn beiträgt, nimmt er auch nichts davon weg. Da gibt es im digitalen Publikationswesen der Gegenwart ganz andere Fälle. Sie haben mehrere Reihen in Ihrem Programm, darunter die renommierten Hanser-Klassiker. Neue Übersetzungen, akribisch dokumentiert. Nun haben Sie da unlängst mit Wolfgang Schlüters Übertragung der «Wuthering Heights» von Emily Brontë eine modernistische Kraftmeierei herausgebracht, die dem Ruf der Reihe nicht gerecht wird. Was haben Sie sich dabei gedacht? Einspruch! Ich finde die Übersetzung von Schlüter augenöffnend. Natürlich geht sie sehr entschieden vor, aber das wird der Rasanz des Originals gerecht. Ich halte ihr zugute, dass sie versucht, einen Roman, der zu Unrecht als verstaubt und betulich gilt, in unsere Gegenwart zu holen. Eine persönliche Frage: Wie haben Sie den Umzug von Köln nach München erlebt? Erstaunlich gut. Obwohl ich skeptisch war. Ich bin Niedersachse, da war Bayern weit weg. In Köln habe ich mich mit meiner Familie lange Jahre sehr wohl gefühlt. Zum Glück hat sie die Umzugsentscheidung mitgetragen, und es ist leicht, in München Fuss zu fassen, solange man im Hinterkopf behält, dass der Reichtum der Stadt kein echtes Abbild der Wirklichkeit ist. Überall liest man, dass die Verlage unter Spardruck stehen und es deshalb im Lektorat und Korrektorat an der traditionellen Sorgfalt fehlen lassen. Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses Hamburg, hat diesen Missstand unlängst in der «NZZ» beklagt. Ich schätze Rainer Moritz sehr, aber mit seiner pauschalen Attacke verrennt er sich. Druckfehler gab es immer. Jeder einzelne ärgert uns, deshalb haben wir vor kurzem einen zweiten Korrekturlauf eingeführt. Aber wer ältere Bücher liest, stellt fest, dass es in früheren Jahrzehnten keineswegs besser war. Und wir sparen nicht beim Lektorat, die arbeiten mit ausserordentlichem Einsatz. Wenn Sie sich mit Verlegern wie Siegfried Unseld vergleichen, der den Suhrkamp Verlag über Jahrzehnte paternalistisch geführt hat: Was hat sich verändert? Das Geschäft verändert sich, aber das hat es immer schon getan. Wenn ich die Briefwechsel von Siegfried Unseld mit seinen Autoren lese, stelle ich allerdings fest, dass die Grundlagen identisch geblieben sind. Es geht um Buchpläne, Manuskripteinschätzungen, Umgang mit Erfolg und Niederlage, ums Geld. Im Nachhinein zu lesen, wie Details diskutiert wurden, etwa der Titel für Johnsons «Das dritte Buch über Achim», ist aufschlussreich. Zu sehen, dass sich auch die heute ausgehärtete, kanonisierte Literatur mal in einem ganz offenen, flüssigen Zustand befand. Beim paternalistischen Umgang in Verlagen hat sich inzwischen sicherlich etwas getan, alles andere wäre auch eine Überraschung. Kommt hinzu, dass Unseld das Haus gehörte. Das ist in Verlagen dieser Grössenordnung heute die Ausnahme. Macht Ihnen das Kummer? Es ist nun einmal so. Aber ich versuche, mich so zu verhalten, als ginge es um mein eigenes Geld. Das hilft in Zweifelsfällen. Siegfried Unseld war ein unermüdlicher Briefschreiber. Er stand Tag und Nacht in Kontakt mit seinen Autoren. Wie sieht das bei Ihnen aus? Ein paar Dutzend Briefe am Tag schreibe ich auch und ein paar noch in der Nacht, wobei das heute in der Regel elektrisch rausgeht. Es gibt Kollegen, die den ganzen Tag telefonieren, wogegen nichts spricht. Ich hänge halt am geschriebenen Wort. l Der Buchplanet und seine zwei Geschwister Alte Ansichtskarten aus der Schweiz, dem Ausland und Motivkarten www.kartenplanet.ch +41 71 371 11 73 Grösster Onlineshop für gelesene Bücher www.buchplanet.ch +41 71 393 41 71 Online Kunstwerke kaufen www.bilderplanet.ch +41 71 371 29 57 Soziale Projekte der Stiftung Tosam in Herisau – www.tosam.ch 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Wenn du nicht weisst, was als nächstes passiert, hast du eine gute Chance, dass es der Leser auch nicht erraten kann. Kurzkritiken Sachbuch Stefan Bollmann: Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist. DVA, 2016. 282 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.90. Da, wo etwas los ist. 15 Kulturorte in der Schweiz. Hrsg. vom Schweizer FeuilletonDienst. Limmat, 2016. 168 S., Fr. 35.90. Ausgerechnet Goethe, dieses verstaubte Denkmal, soll uns Lebenssinn geben? Der Titel des Buches kommt als Witz daher – doch dann hält der Germanist Stefan Bollmann unvermutet sein Versprechen: So frisch tritt uns Goethe hier entgegen, dass sein Exempel eines erfolgreichen Lebens begeistert. Goethe, der das bürgerliche Leben als junger Stürmer zunächst weit von sich weist. Der dann plötzlich doch Karriere macht und damit erwachsen wird. Der sich im Sabbatical der Italienreise vom Druck der Statusfragen befreit. Der eine Familie ohne Trauschein gründet, weil Sex zur Liebe gehört. Der sich eine Umgebung schafft, die konzentriertes Arbeiten ermöglicht. Der auf Schicksalsschläge mit Produktivität antwortet und auf Zerstreuung mit hartnäckigem Dranbleiben – und vieles mehr. Ein kluges, immer wieder überraschendes Lebensbild mit vielen wunderbaren Goethe-Zitaten! Es muss nicht immer das KKL, das Schauspielhaus oder die Fondation Beyeler sein. Abseits der sogenannten Hochkultur, aber auch des Mainstreams, finden sich schweizweit viele engagierte Menschen, die sich mit Herzblut der Organisation und Förderung von Kunstprojekten widmen. 15 solcher Kulturorte werden im vorliegenden Buch vorgestellt. Neben den Hinter- und Beweggründen der Betreiber erfahren wir auch einiges über die Eigentümlichkeiten der Regionen und darüber, wie den Kulturorten der Spagat zwischen Verwurzelung und Austausch mit der Welt gelingt. Die Vielfalt ist gross: Lesungen rätoromanischer Literatur in Lavin, Konzerte von Jazzmusikern aus New York im Ochsen in Muri oder Tanzperformances in Kiesgruben in der Genfer Peripherie – um nur wenige zu nennen. Ein schön gestalteter Band, der zu einer Entdeckungsreise in die lebendige Schweizer Kulturszene einlädt. Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Franz. von T. Haberkorn. Suhrkamp, 2016. 238 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 22.–. Niklas Luhmann: Der neue Chef. Hrsg. von Jürgen Kaube. Suhrkamp, 2016. 120 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 12.–. In Reims wurden einst die Könige gekrönt. Die Rückkehr, die Didier Eribon in die Stadt unternimmt, ist jedoch keine historische Kaffeefahrt, sondern eine Reise ins französische Arbeitermilieu. Nach dem Tod seines Vaters begann sich der renommierte Soziologe mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen und die Welt der Fabrikarbeiter zu besuchen, aus der er, obschon glühender Vertreter des «Volks», vor Jahrzehnten ins Pariser Intellektuellenleben geflüchtet war. Was autobiografisch anhebt, entwickelt sich zur soziopolitischen Untersuchung: In ebenjenem Umfeld, in dem vormals die Kommunisten dominierten, trifft der Rückkehrer auf Wähler des Front National. Kritisch geht Eribon den Gründen für diese Verschiebung nach, und auch wenn man nicht all seinen Erklärungen folgen mag, nimmt man von dieser Reise nach Reims viele Denkanstösse mit. Der Aufsatz eines vollkommen unbekannten Verwaltungsbeamten schlug in den 1960er Jahren wie ein Blitz in die Soziologenwelt ein. Er trug den Titel «Der neue Chef», der unbekannte Autor hiess Niklas Luhmann. Dieser und zwei weitere frühe, nie publizierte Texte des grossen Soziologen hat Jürgen Kaube, ein neuer Chef der FAZ, mit einem Nachwort versehen und in einem leuchtendorangen Suhrkamp-Büchlein versammelt, das sofort auf die Bestsellerliste sprang. Weil es darin um so heitere Dinge geht wie die «Unterwachung des Chefs durch seine Untergebenen». Oder um die für letztere «hilfreiche Vorstellung, der Vorgesetzte habe keine Kleider an». Oder darum, dass die nirgends vermittelte Kunst, Vorgesetzte zu lenken, weit wichtiger sei als die allen Chefs beigebrachte Kunst des Führens. Keine ganz leichte, aber brillante Kost! LUKAS MAEDER Stephen King Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuer Roman «Andersen» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Ein kleines Sonntagsquiz zu den frischen Gipfeli und dem Orangensaft: Wer hat den Cliffhanger erfunden? Sie wissen schon, was ich meine: diesen Erzählertrick, seinen Helden zum Schluss eines Buchkapitels, einer Filmszene oder einer Serienepisode in eine scheinbar so aussichtslose Situation zu bringen, dass der Leser (oder Zuschauer) unbedingt wissen will, wie die Geschichte weitergeht. Und deshalb weiterliest oder die nächste Folge der Serie einschaltet. Also, wer war’s? a) Edgar Wallace, auf dessen Buchumschlägen stand, es sei unmöglich, von ihm nicht gefesselt zu werden? b) The master of suspense Alfred Hitchcock? Oder c) jemand ganz anderes? Wenn Sie Antwort c angekreuzt haben, sind Sie schon mal in der nächsten Runde und haben, wie es in Werbeflyern immer so schön heisst, die Chance, den Hauptpreis zu gewinnen. Sie müssen dazu noch nicht einmal eine Rheumadecke bestellen, sondern nur den Namen des tatsächlichen Erfinders dieses literarischen Tricks nennen. Und das Erscheinungsjahr des allerersten Cliffhangers. Es war überraschenderweise schon 1873, und es hing jemand ganz wörtlich an einer Klippe. Der englische Autor Thomas Hardy hatte den Auftrag angenommen, für die Zeitschrift «Tinsleys’s Magazine» einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Er hiess «A Pair of Blue Eyes», und am Ende eines Kapitels liess Hardy seinen Helden über den Rand einer Klippe stolpern und nur noch an den Fingerspitzen über dem Abgrund hängen. (Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe von «Tinsley’s Magazine». Wenn Sie noch nicht Abonnent sind, sollten Sie es dringend werden.) Wie im braven viktorianischen Zeitalter gar nicht anders möglich: Einen Monat später wurde der Held am Anfang des nächsten Kapitels gerettet. Man hätte diesen glücklichen Ausgang schon an seinem Namen ablesen können. Kein Autor der Welt lässt eine Figur mit dem schönen Namen Knight vor dem Happy End wegsterben. (Die Heldin, die ihn rettet, hiess übrigens Elfride. Ohne i-e.) Thomas Hardy schrieb 14 Romane, jede Menge Kurzgeschichten und an die tausend Gedichte. Aber die literarische Unsterblichkeit und einen Platz im Wörterbuch hat er sich mit einer einzigen Szene gesichert, eben mit dem originalen Cliffhanger. Wenn Sie es gewusst haben, haben Sie folgenden wertvollen Preis gewonnen: (Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe von «Bücher am Sonntag». Wenn Sie also noch nicht Abonnent sind…) Kathrin Meier-Rust Claudia Mäder Simone Karpf Kathrin Meier-Rust 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Sport Die Olympischen Spiele der Neuzeit gehen auf einen besorgten Franzosen zurück. Geboren aus dem Geist des Nationalismus, führten sie Konkurrenzkämpfe in friedlichen Wettstreit über und zelebrierten den Körper in liturgischen Ritualen: Klaus Zeyringer erzählt die Geschichte eines modernen Kults DieReligionderRinge Klaus Zeyringer: Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute. Band 1: Sommer. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 608 Seiten, Fr. 38.90, E-Book 27.–. Von Manfred Koch Frankreich schwächelte, da erfand der Baron Pierre de Coubertin eine «Muskelreligion». Der 1863 geborene Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit war ein glühender Patriot. Aber sein Heimatland wurde ausgangs des 19. Jahrhunderts von ökonomischen und politischen Krisen gebeutelt, in Coubertins Augen die Spätfolge zweier verlorener Kriege. 1815 war Napoleon I. in der Schlacht von Waterloo unterlegen, 1870 Napoleon III. in der Schlacht von Sedan. Auf der Suche nach Gründen für diese Demütigungen kam Coubertin auf eine verblüffend einfache Antwort: Die Gegner waren fitter! 1815 hatten die Franzosen einem Heer von sportlichen Engländern nichts entgegenzusetzen, 1870/71 zerrieb sie eine Armee von turnenden Deutschen. Frankreich musste, schloss der Baron, die Leibeserziehung intensivieren, um wieder eine Vorrangstellung unter den Nationen zu erlangen. Internationale Muskelschau An welchem Vorbild sollte man sich aber orientieren? Coubertin setzte klar auf die Briten. Das preussische Turnen war für ihn im Grunde nur ein erweitertes militärisches Exerzieren, bei dem stumpfsinniger Korpsgeist eintrainiert wurde. Der britische Sport hingegen, wie er ihn 1883 auf einer Besichtigungstour durch die berühmten Public Schools der Insel (Rugby, Harrow, Eton) studiert hatte, förderte die Wettkampfstärke freier Individuen. Wer hier etwas erreichen wollte, musste nicht nur über Kraft, sondern auch über Geschicklichkeit, Einfallsreichtum und persönlichen Wagemut verfügen. Eigenschaften, die – wie Coubertin gleich anmerkte – generell hilfreich seien für Karrieren in der modernen Konkurrenzgesellschaft. Eindrucksvoll schildert der österreichische Germanist Klaus Zeyringer in den Eingangskapiteln seines rechtzeitig 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 vor Rio 2016 erschienenen Buchs die Geburt der Olympischen Spiele der Neuzeit aus dem Geist des modernen Nationalismus und des modernen Leistungsprinzips. Der Baron war freilich kein aggressiver Nationalist. Eine Welt ohne Kriege wäre schön, erklärte er 1892 in einer Rede, in der er sein Olympia-Projekt erstmals öffentlich vorstellte. Da der ewige Friede jedoch vorerst eine Utopie bleibe, sei es den Völkern nicht zu verdenken, wenn sie sich für den Ernstfall durch Sporterziehung wappneten (1919, als Frankreich wieder zu den Siegern gehörte, meinte er dementsprechend stolz, man habe der deutschen Invasion «einen muskelgestählten Wall» entgegengestellt). Möglich sei jedoch eine partielle Umlenkung der kriegerischen Energien in friedliche Konkurrenz. Das bewiesen für Coubertin die seit 1851 abgehaltenen Weltausstellungen. Die Nationen versuchten hier, einander durch Darbietung ihrer grossartigsten Industrieprodukte zu übertrumpfen. Analog zu dieser Warenschau entwickelte er seine Idee einer Körperschau der Nationen. Zeyringer zeigt, wie Coubertin geschickt zusammenführte, was seine Zeit an Anregungen bot. «Olympic Games» gab es vor allem in England schon lange – aber eben nur als lokale Sportfeste. In den Jahren 1875–1881 legten deutsche Archäologen das antike Olympia frei; das brachte ihn auf den Gedanken, die panhellenischen Spiele der alten Griechen als Sportevent für ganz Europa und letztlich die ganze Welt wiederzubeleben (womit – welch schöner Nebeneffekt! – ein Franzose der eigentliche «Ausgräber» von Olympia war). Tief beeindruckt war er ferner von Ri- chard Wagners Bayreuther «Weihefestspielen». Aus dem Dunstkreis von Wagner (mehr als aus dem alten Griechen- PHOTONICA WORLD / GETTY IMAGES Vom Sportfieber befallen: Ein Chinese trägt olympischen Schmuck für eine Autowaschanlage herbei (Peking, 2005). land) stammt die kultische Überhöhung der Sportveranstaltungen. Denn Coubertin wollte den Olympismus ausdrücklich zu einer neuen, universellen Religion machen, die nach dem «Tod Gottes» wenigstens alle vier Jahre für eine Wiederverzauberung unserer ausgenüchterten, von Wissenschaft und Technik beherrschten Zivilisation sorgen sollte. Zu einer Religion aber gehören Rituale, Symbole, feierliche Inszenierungen. Mehr als drei Dezennien tüftelte Coubertin nach den ersten Spielen von Athen 1896 an der Gestaltung der Eröffnungs- und der Schlusszeremonie herum. Der Einmarsch der Athleten (Coubertin wehrte sich lange gegen die Teilnahme von Frauen) in Nationalgruppen, die olympische Hymne, die Flagge mit den fünf Ringen, der olympische Eid, die olympische Flamme – all dies wurde sukzessiv im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eingeführt, um den Zuschauern ein gottesdienstähnliches Erlebnis zu bieten. Den traurigen Schlusspunkt setzten die Nationalsozialisten bei den Berliner Spielen von 1936. Es war ihre Idee, das Feuer in Olympia entfachen zu lassen und in einem Staffellauf von Griechenland zum Austragungsort zu bringen. Wer Zeyringers Buch aufmerksam liest, begreift, dass die sogenannten olympischen Ideen von der Grundanlage der Spiele her gar nicht zu verwirklichen waren. Wie sollten sie als Nationenwettkampf zugleich ein politikfreier Raum sein? Wie sollten sie als Schau der grenzenlosen Leistungssteigerung im Zeitalter der modernen Medizin unberührt bleiben von den Möglichkeiten künstlicher Körperoptimierung? Wie sollten sie – deutlich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als Spektakel für ein internationales Massenpublikum nicht ein Bestandteil jener milliardenschweren Unterhaltungsindustrie werden, in der Fernsehanstalten und Sponsoren den Ton angeben? Klaus Zeyringer informiert gründlich über die düstere Seite der olympischen Medaille, die politischen Boykotte, die Dopingfälle, die Spiele als Werbeplattform für Diktatoren oder für Coca Cola. Und nicht zuletzt die sinistren Machenschaften des IOC, das so gerne mit den Gewalt- und den Geldherrschern kungelt. Halbgötter und Helden Und doch bleibt Olympia ein Faszinosum, weil es tatsächlich, wie dies nur eine Religion vermag, Millionen von Menschen zu einer Erlebnisgemeinschaft vereinigen kann: immer dann nämlich, wenn die Körperwunder der Athlet(inn)en Zuschauer gleich welcher Nation in ein und demselben Augenblick in Verzückung versetzen. Von solchen Wundern erzählt Zeyringer ohne Vorbehalt, und der Leser freut sich unweigerlich über die zahlreichen Heldengeschichten, an die das Buch erinnert. Jesse Owens, der zum Ärger Hitlers den Ariern einfach davonlief. Wilma Rudolph, die an Kinderlähmung litt und als Erwachsene zur grazilsten Sprinterin der Leichtathletikgeschichte wurde. Dick Fosbury, der 1968 den Hochsprung gewann, indem er frecherweise verkehrt herum hüpfte. Die tollste Geschichte aber ist die einer heute vergessenen französischen Athletin. Micheline Ostermeier, eine ausgebildete Konzertpianistin und mehrfache Siegerin in internationalen Klavierwettbewerben, gewann 1948 bei den ersten Nachkriegsspielen in London zuerst die Goldmedaillen im Diskuswerfen und Kugelstossen, drei Tage später holte sie noch Bronze im Hochsprung. Als man sie fragte, wie sie derart Widersprüchliches unter einen Hut brächte (sie war auch noch eine der schnellsten Sprinterinnen ihrer Zeit), antwortete sie lakonisch, sie verdanke dem Klavier «starke Bizepse und ein gutes Gefühl für Bewegung und Rhythmus». Am Ende klappt man das Buch nostalgisch gerührt und mit einer bangen Frage zu: Wie lange können wir angesichts der verheerenden Doperei noch unbefangen an diese Körperwunder glauben? Verlieren die Halbgötter und Helden des modernen Sports endgültig den Zauber des Authentischen, wird uns etwas fehlen. ● 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Geschichte Weshalb der Zweite Weltkrieg das griechisch-deutsche Verhältnis bis heute belastet Mark Mazower: Griechenland unter Hitler. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 580 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 30.–. Kateřina Králová: Das Vermächtnis der Besatzung. Böhlau, Wien 2016. 264 Seiten, Fr. 42. 90. Von Claudia Kühner Wir haben noch die wütenden griechischen Karikaturen von Angela Merkel in NS-Uniform vor Augen, die auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise entstanden. So deplaziert er hier wirkte, der Rückgriff auf die Geschichte hat einen realen Hintergrund: Unter den westlichen Ländern hat Griechenland mit am stärksten unter der deutschen Besetzung und den Kriegsfolgen gelitten. Nur geriet das vor allem in Deutschland gründlich in Vergessenheit, und die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich wenig für das Thema interessiert. So stammen denn auch die zwei aktuellsten Werke zur Besatzung und ihren Folgen von nichtdeutschen Historikern. Der britisch-amerikanische Professor Mark Mazower und die tschechische Historikerin Kateřina Králová führen mit ihren Büchern vor Augen, weshalb das griechisch-deutsche Verhältnis nur dem Schein nach jahrzehntelang unbelastet war. Beide benennen aber auch die historischen Fehler, Defizite und Versäumnisse auf der griechischen Seite, die viel zu tun haben mit der Schwäche des Staates, wie sie sich bis heute zeigt. Mark Mazower zeichnet eine Gesamtdarstellung eines veritablen deutschen Besatzungsterrors von 1941 bis 1944. 1941/42 starben über hunderttausend Menschen in einer verheerenden Hungersnot – die auch dadurch ausgelöst wurde, dass die deutschen Besatzer das Land restlos ausplünderten und der ohnehin schwache Staat unfähig war, seinen Bürgern irgendwie noch zu helfen. Weitere Tausende starben im Partisanenkampf, 1500 Dörfer wurden zerstört, 30000 Menschen fielen «Sühnemassnahmen» zum Opfer, 90 Prozent der 80000 Juden wurden im Holocaust ermordet. Oradour oder Lidice gab es in Griechenland hundertfach, Dörfer, wo Frauen, Kinder, Alte niedergemacht wurden, während wir allenfalls von Distomo gehört haben. Mazower versteht es gut, einzelne Schicksale und Zeugnisse mit dem grossen Geschehen zu verbinden. So macht er die Traumata verständlich, die bis heute wirken. Der Zweite Weltkrieg ging in einen vierjährigen Bürgerkrieg zwischen bürgerlichem und kommunistischem Lager über, den Mazower als Epilog miteinbezieht. Er zeigt, wie massgeblich der Bürgerkrieg dafür verantwortlich war, dass auch das Land selber mit seiner Geschichte nie ins Reine kam. Mitverhindert haben das Briten und Amerikaner mit ihrer einseitigen Parteinahme für die griechischen Rechte im Kalten Krieg, so Mazowers These. An der fundamentalen Bedeutung der Besatzung ändert das aber nichts, in seinem Resumée benennt AKG IMAGES FremderTerrorund eigeneSchwäche Im Frühling 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht die Insel Kreta. Mazower die kausalen Zusammenhänge in aller Deutlichkeit: «Alles, was in Griechenland auf den Zweiten Weltkrieg folgte – der Bürgerkrieg, die bleibenden Narben, die er hinterliess, ja sogar die Demokratisierung des Landes nach 1974 –, ist nur vor dem totalen Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft zu begreifen, den die deutsche Besatzung und ihre tödliche Folgen mit sich brachten.» Kateřina Králová schreibt quasi die Fortsetzung von Mazowers Geschichte: Im Zentrum ihres Buches steht der Umgang der politischen Elite Deutschlands und Griechenlands mit dem Vermächtnis der Besatzung. Wie wurden Kriegsverbrechen geahndet, was wurde bei Restitution und Wiedergutmachung wogegen aufgerechnet? Kralova arbeitet scharf heraus, wie rasch das wirtschaftlich wiedererstarkte Deutschland seine Dominanz ausspielte. Tabakexporte gegen Verfahrenseinstellungen war nur eine von vielen «Rechnungen». Královás Darstellung ist nüchterner, manchmal etwas sehr juristisch. Weniger eindrücklich ist sie deswegen nicht. Diese Geschichte sollte mitbedenken, wer heute griechische Empfindlichkeiten kritisiert. ● Gesellschaft Die Philosophin Svenja Flasspöhler geht Fragen rund ums Verzeihen nach Ist es nobel, zu vergeben – oder ungerecht? Svenja Flasspöhler: Verzeihen. Vom Umgang mit Schuld. DVA, München 2016. 222 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 16.90. Von Florian Oegerli Gewiss, wer im Tram aus Versehen jemanden anrempelt, dem kommt ein «Verzeihung» schnell über die Lippen. In anderen Fällen dagegen fällt es schwer, zu vergeben. Wie verzeiht eine Mutter dem Mörder der eigenen Tochter? Was, wenn ein Straftäter sich selbst nicht zu verzeihen vermag? Und gibt es Verbrechen, die – man denke etwa an die Shoah – niemals vergeben werden können? Diesen Fragen geht die Philosophin Svenja Flasspöhler in ihrem Buch nach. Dabei verwebt sie theoretische Ausführungen neben Begegnungen mit Gefängnisinsassen und Holocaust-Überleben20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 den auch mit der eigenen Biografie: Als die Autorin vierzehn war, hat ihre Mutter den Kontakt zur Familie abgebrochen. Die Frage, ob sie ihr verzeihen kann, stand am Anfang des Buches, das in drei Teile gegliedert ist, in denen die Autorin herauszufinden versucht, wie das Verzeihen mit dem Verstehen, dem Lieben und dem Vergessen zusammenhängt. Wer verzeiht, provoziert. Das zeigt sich etwa am Fall von Eva Mozes Kor. Als Kor, die Mengeles Experimente überlebte, Oskar Gröning, der zur Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen angeklagt war, seine Verbrechen vergab, distanzierten sich ihre 49 Nebenkläger scharf von ihr. Vielleicht hat Nietzsche, mutmasst Flasspöhler, recht, und die Gerechtigkeit baut auf Vergeltung auf: Jeder Schaden will durch einen Schmerz des Schädigers abbezahlt sein. Wer verzeiht, handelt also ungerecht. Und nicht nur das: Das Verzeihen ist auch unökonomisch; eine (nach Bataille) «unproduktive Verausgabung», weil man dem Täter seine Schuld erlässt. Die Lektüre des Buches lohnt, zeigt die Autorin doch nicht nur, wie schwierig der Begriff des Verzeihens ist, sondern entdeckt auch dessen subversives Potenzial. Einen Wermutstropfen gibt es dabei allerdings: Oft räumt die Philosophin der Position eines Kollegen bloss einen Absatz ein, bevor sie ihn bereits zu widerlegen versucht. Das ist wohl auch der Grund, weshalb es vor allem die persönlichen Begegnungen sind, die nachhallen, z.B. ihr Gespräch mit einer Mutter, deren Tochter beim Amoklauf von Winneden zu Tode kam. Oder der alte Mann, seit 26 Jahren im Gefängnis, der gefragt, worin der Wert des Verzeihens liege, lapidar meint: «Das Verzeihen macht den Menschen grösser.» ● Gesellschaft Während die Datenberge wachsen, schwindet unsere Privatsphäre: Harald Welzer warnt vor den totalitären Konsequenzen der Digitalisierung ZwitscherndindieKatastrophe Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 320 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.-. Ein Smartphone ist ein Handy, das viele Funktionen in sich vereint, die man ihm nicht ansieht. Eine «smarte Diktatur» ist eine, wo die Starken beständig mehr Macht erlangen, sei es durch wachsendes Kapital, sei es durch wachsende Verfügung über Daten, ohne dass das Auseinandertreten von Mächtigen und Ohnmächtigen als monströs wahrgenommen wird. «Die Auflösung der Demokratie geschieht im Rahmen der Demokratie», schreibt Harald Welzer. Mit «Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit» liefert der Sozialpsychologe und Zukunftsforscher das schwarze Panorama einer Lebensform, die ihre eigenen Grundlagen frisst. Man könnte ihn einen Weltuntergangspropheten nennen. Doch wo die Wanderprediger früherer Jahrhunderte apokalyptische Visionen verkündeten, da ist Welzer Empiriker, der Beobachtungen und Nachrichten notiert und wissenschaftliche Studien heranzieht. «Liest das ausser mir eigentlich niemand?», fragt er einmal im Gestus des einsamen Rufers. Nicht also, dass Welzer grundstürzend Neues sagte. Er muss nur die Tendenzen des Weltenlaufs zu grossen Haufen zusammenfegen, sie mit kritischer Urteilskraft beleuchten, und alsbald beginnen diese Haufen zu stinken. Selbstzwang nimmt zu Privatheit, die stärkste Bastion gegen totalitäre Herrschaft, schwindet. Die Digitalisierung ermöglicht, immer mehr Daten über unsere Vorlieben, unser Kaufverhalten, unsere Bewegungsmuster, unsere Ansichten zu sammeln. Staatliche und kommerzielle Überwachung konvergieren. Und wir machen mit, liefern Informationen über uns frei Haus. Soziale Netzwerke sind für Welzer weniger hilfreiche Kommunikationsmittel denn Foren der Selbstentblössung. Und solche der Domestizierung durch Beschämung und Ausgrenzung. Dramatisch sind die Verhältnisse in China. Dort werden Meinungen, Aktivitäten, Sozialkontakte, Einkommen oder die Strafpunkte auf dem Führerschein gemäss einem «Sozialen Kreditsystem» erfasst. Firmen, Banken und Sozialnetzwerke tauschen die Daten der Bürgerinnen und Bürger aus und verknüpfen sie mit einer Identifikationsnummer. China ist eine Schamkultur. Wehe, jemand hat etwas getan, wofür er sich schämen müsste, und es kommt heraus. Dann fällt der Info-Mob der Netzwerke über ihn her, wüst und unbarmherzig und unter Offenlegung seiner Adresse, Arbeitsstelle, der Familienverhältnisse. QILAI SHEN / BLOOMBERG Von Joachim Güntner Längst nicht so smart, wie es tut: Im Herstellungsprozess verschlingt das moderne Handy so viel Energie wie ein Kühlschrank (Produktionsstätte in Dongguan, China, 2015). Die Hatz hat einen eigenen Namen: «renrou souso», zu Deutsch «die Suche nach Menschenfleisch». Sie kann in Totschlag, Vergewaltigung oder Selbstmord des Opfers enden. Michel Foucault hat in «Überwachen und Strafen» die Geschichte der Moderne als eine erzählt, in der sich die äussere Gewalt in den Menschen hinein verlagert. Welzer spinnt diesen Faden fort. Die innere Disziplinierung, der Selbstzwang nimmt zu. Die Forderung nach totaler Transparenz, sinnigerweise oft als Verlangen nach Bürgerbeteiligung erhoben, durchdringt unsere Gesellschaften. Mit der Sichtbarkeit des Bürgers steigt der Druck, sich konform zu verhalten. Und wieder machen wir mit, tragen zum Beispiel als «Lifelogger» und Jünger des «Quantified Self» Geräte am Leib, die ermitteln, wie es um unseren Schlaf, unsere Stimmung, unsere Pulsfrequenz, unseren Kalorienverbrauch bestellt ist. Man nutzt sie, um darauf hinzuarbeiten, dass es einem besser geht. Tatsächlich aber, so Welzer, erzeugen die Geräte «ein permanentes Grundgefühl des Nichtgenügens». Ein Akt der Unterwerfung unter äusserliche Standards. Welzer nimmt uns Illusionen. Das heissgeliebte Smartphone ist gar nicht smart, denn seine Gestehungskosten an Material und Energie kommen denen eines Kühlschranks gleich – nur ist das halt kaschiert und kein Käufer fragt danach. Die «Cloud» als scheinbar körperloser Datenspeicher braucht riesige Serverfarmen, die Strom fressen, dessen Erzeugung nur durch Raubbau an den Ressourcen geliefert werden kann. Das Versprechen der Green Economy, Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit seien vereinbar – für Welzer eine Lebenslüge. Die Sharing Economy, hochgelobt als Modell sozialen Teilens? Für den Autor ein Beispiel für die Monetarisierung von Sozialbeziehungen. Wenn früher eine studentische WG einfach einmal Gäste aus dem Ausland beherbergte, so vermietet diese WG heute ihre Bleibe lieber über Airbnb. Folgen des Hyerkonsums Bei uns sind politische Errungenschaften der Moderne wie Rechtsstaatlichkeit und Freiheit gefährdet, und Schwellenländer werden den westlichen Weg nicht nachholen können. Kapitalismus funktioniert auch ohne Demokratie – als «Neofeudalismus». Den Preis unseres Wohlstands zahlen Billiglohnländer. In Welzers Buch würde gut ein Diktum des Soziologen Stephan Lessenich passen: «Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse der anderen.» Und Welzer würde sagen: Wir machen uns zudem blind dagegen, wie sehr sich unsere Existenz im Stoffwechsel mit der Natur vollzieht. Die Grenzen des Wachstums sind längst überschritten, der ökologische Kollaps vollzieht sich, nur trifft er die Armen schneller und härter als die Reichen. Ohne Verzicht keine Abwendung der Katastrophe. Wer Schuld hat, ist für Harald Welzer klar: eine auf «Überproduktion und Hyperkonsum» geeichte, letzlich letale Wachstumswirtschaft. Das Buch ist radikal in seiner Schärfe und der Zusammenschau der Probleme. Und es ruft zu Widerstand auf, ist schwungvoll, polemisch, bisweilen nostalgisch mit persönlichen Reminiszenzen und flott zu lesen. ● 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Psychologie Grassiert in unserer Selfie-Kultur eine Narzissmusepidemie? Drei Autoren setzen sich mit dem Phänomen der Selbstverliebtheit auseinander HybriskommtvordemFall Roger Schawinski: Ich bin der Allergrösste. Warum Narzissten scheitern. Kein & Aber, Zürich 2016. 224 Seiten, Fr. 25.90, E-Book 18.90. Craig Malkin: Der Narzissten-Test. Wie man übergrosse Egos erkennt… und überraschend gute Dinge von ihnen lernt. Dumont, Köln 2016. 285 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 22.–. Theodor Itten: Grössenwahn. Ursachen und Folgen der Selbstüberschätzung. Orell Füssli, Zürich 2016. 211 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 21.–. In der griechischen Mythologie verliebt sich der schöne Göttersohn Narziss in sein eigenes Spiegelbild. (Gemälde von John William Waterhouse, 1903). Von Kathrin Meier-Rust «Ich bin der Allergrösste» – von Roger Schawinski. Nein, es ist keine Fortsetzung seiner Autobiografie. Der Untertitel seines neuen Buches lautet «Warum Narzissten scheitern». Doch das ironische Doppelspiel mit dem Titel ist ebenso entwaffnend wie das freimütige Bekenntnis des Autors, dass er das Thema Narzissmus nicht ganz zufällig gewählt habe. Zu seiner Verblüffung nähmen ihn nämlich andere Menschen nicht selten als narzisstisch wahr. Und weil es ein Merkmal des übersteigerten Narzissmus sei, dass er «anderen mehr ins Auge fällt als einem selbst», habe sich eine gewisse Introspektion geradezu aufgedrängt… Die Dosis macht das Gift Dem amüsanten Auftakt folgt ein amüsantes Buch. Denn wie anders als mit Amüsement, allerdings einem halb mitleidsvollen, halb entsetzten Amüsement, lassen sich diese flüssig präsentierten Porträts von Menschen lesen, die sich durch eigene Eitelkeit, groteske Selbstüberschätzung, masslose Arroganz oder grenzenlose Gier selbst ins Unglück stürzten? Menschen wie Lance Armstrong und Sepp Blatter, Marcel Ospel, Joe Ackermann und Daniel Vasella, Jörg Kachelmann oder auch Steve Jobs, der die rechtzeitige Behandlung seines Krebses verpasste, weil er weder Ärzten noch Wissenschaft, sondern nur der eigenen Intuition vertraute. Der Kern der dreizehn Porträts dieses Buches ist mithin die narzisstische Hybris, jene kolossale Selbstüberschätzung, die diesen Geschichten von Aufstieg und Fall zu Grunde liegt. Auch andere Gemeinsamkeiten arbeitet Schawinski interessant heraus – alle der Porträtierten waren ehrgeizig und fleissig, alle verstanden es, die Gunst der Stunde ebenso zu nutzen wie verwandtschaftliche Beziehungen. Viele von ihnen sind gutaussehend, charismatisch und überaus kommunikationsfähig, alle sind Männer. Und alle erwiesen sich als arrogant, unempathisch und letztlich ohne Bodenhaftung. Eine kurze Einführung in den psychologischen Hintergrund der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie ein Interview mit dem Psychiater Mario Gmür verleihen dieser Hitparade 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 der gefallenen Narzissten einen erklärenden Rahmen. Ist Narzissmus also ein Defekt, eine Krankheit, oder gar eine Kulturkrankheit, wie es die Rede von der angeblich grassierenden Narzissmusepidemie suggeriert, die eine egozentrische Selfie- und Facebook-Kultur ausgelöst haben soll? Nein, sagt der amerikanische Psychologe Craig Malkin. Wohltuend unaufgeregt, genau und verständlich beschreibt er den heutigen Erkentnisstand zum Phänomen Narzissmus. Sich selbst als etwas Besonderes vorzukommen – die Grundlage jedes Narzissmus – ist ein ganz normales menschliches Phänomen. Wie zahlreiche Studien aus allen Ländern der Welt zeigen, hält sich fast niemand für ganz gewöhnlichen Durchschnitt, sondern nahezu alle Menschen halten sich selbst für «etwas besser» als die meisten anderen Menschen. Dieses rosige Selbstbild hat grosse Vorteile: Es macht nämlich gesünder, geselliger, kreativer – kurz glücklicher, als es jene sind, denen es fehlt. Denn diese leiden meist an Angst und Depression. Sie mögen zwar richtig liegen mit ihrem Selbstbild – aber sie opfern diesem Realismus ihr Glück. Allerdings kommt es auf den Grad dieses «sich besonders fühlen» an. Wenn wir umgangssprachlich von Narzissmus sprechen, meinen wir meist die extremen Narzissten, die die Welt nur aus dem eigenen Blickpukt wahrnehmen, weder Empathie noch Reue zeigen und einen Hang zum Manipulieren haben. Aber auch zu wenig Narzissmus ist schädlich. Malkin nennt die entspre- chenden Menschen «Echoisten», nach der Nymphe Echo, die sich in den schönen Narziss verliebte und von diesem verstossen wurde, weil sie nur seine Worte nachsprechen konnte und keine eigene Sprache hatte. Während extreme Narzissten anderen schaden, schaden sich extreme Echoisten selbst. Gesundheit dagegen liegt in der Mitte dieser Skala zwischen Selbstverleugnung und Selbstgefälligkeit. Und damit sich jede Leserin auf dieser Skala selbst einordnen kann,enthältdasBuchdenNarzisstentest zum Selbstausfüllen. Gene und Umweltprägung Die verschiedenen Theorien zum Narzissmus seit Freud stellt Malkin ebenso dar wie dessen verschiedene Erscheinungsweisen: nämlich extrovertierte, introvertierte, subtile und soziale Narzissten. Die Ursache des Narzissmus sieht der Autor im Zusammenspiel von genetischer Anlage mit Umweltprägung, wobei er in der Erziehung einen entscheidenden Faktor für eine extreme Ausprägung sieht: Nicht wenn Kinder übertrieben gelobt und verwöhnt werden, entwickeln sie sich zu Narzissten, sondern wenn dieses Lob das einzige ist, was sie von ihren Eltern bekommen. Die angebliche Narzissmusepidemie unter verwöhnten, egozentrischen Millenials sieht Malkin skeptisch: Natürlich seien junge Menschen heute selbstsicherer als früher. Doch gleichzeitig zeige diese Generation auch mehr Empathie und Altruismus. Woran man Narzissten erkennt, wie man mit ihnen umgehen Kaukasus Ein Schweizer durchquert die höchsten Berge Europas VulkaneaufPulverfässern Mario Casella: Schwarz Weiss Schwarz. Eine abenteuerliche Reise durch das Gebirge und die Geschichte des Kaukasus. AS, Zürich 2016. 304 Seiten, Fr. 31.90. kann, inwieweit sie sich verändern können – dieses Buch deckt alle Fragen mit sorgfältigen Antworten ab. Der St.Galler Psychotherapeut Theodor Itten hat ein originelles Buch zum Phänomen des Jähzorns geschrieben, das kulturgeschichtliche und individuelle Zeugnisse mit einer eigenen Jähzornumfrage kombinierte. Mit «Grössenwahn» will uns dieser Autor nun «diverse Betrachtungen eines irrigen Verhaltens im sozialen Kontext» vorstellen. Was dann folgt, scheint der Methode auf der Couch entsprungen zu sein. In einer Art assoziativem Freistil wird hier alles mit allem durcheinander gewirbelt: Interviews mit etymologischen Erklärungen, das Unheil von «Facebook, Twitter, Instagram, Homepage und Tumblr» mit dem «Verrat» von Fidel Castro, nacherzählte Märchen mit einem imaginierten Besuch des mythischen Narziss bei Freud, sowie Hegel-Anekdoten, Kindheitserlebnissen des Autors und, leider, vieles vieles mehr. Ein Buch zu schreiben, bleibt selbstverständlich jedem Berufenen unbenommen. Doch wenn der Autor dieses skurrilen Gedankenstroms voll verquaster Sätze, Ungenauigkeiten und Fehler (Ariadne, die Tochter des Königs Minos, heisst durchwegs «Adriane» und Aschenputtel kehrt heim «zu den Zwergen») am Schluss Verlag und Lektor für die «verfeinerte Kunst des Sprachschaffens» dankt – dann reibt man sich erstaunt die Augen. Ist das nun Grössenwahn oder Narzissmus oder Hybris, oder vielleicht einfach Selbstverliebtheit? ● Den Kaukasus zu durchqueren, ist ein ziemlich abenteuerliches Unterfangen. Auf den rund 1000 Kilometern zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer reiht sich Unruheherd an Unruheherd; ethnische Konflikte und ungelöste Territorialfragen ziehen sich von Dagestan bis Abchasien, machen den Menschen das postsowjetische Leben schwer – und den Besuchern das Reisen zur Lotterie. Den Kaukasus auf Skiern zu durchqueren, ist ein vollkommen verrücktes Unterfangen. In dem Gebiet, das für die Alten Griechen das Ende der Welt bezeichnete, türmen sich über 150 Viertausender und zwischen sieben und zwölf Fünftausender – so genau weiss man das nicht. Präzises Kartenmaterial gibt’s im Kaukasus ebenso wenig wie Wettervorhersagen oder Lawinenbulletins. Auf solche Dinge pflegt Mario Casella als Schweizer Bergführer in der Regel zurückzugreifen. Im Frühling 2009 hat er aber jeden alpinen Komfort hinter sich gelassen und zusammen mit einem russischen Freund das sportlich-logistische Doppelabenteuer im Kaukasus gesucht. Amateurfotografie Posieren im Blätterwerk SAMMLUNG JOCHEN RAISS SUPERSTOCK / GETTY IMAGES Von Claudia Mäder Was die beiden während rund einem Monat auf ihrem Weg über die Schneeberge zwischen Baku (wo das schwarze Gold sprudelt) und Sotschi (das am Schwarzen Meer liegt) erlebt haben, ist in «Schwarz Weiss Schwarz» nachzulesen. Dem Titel zum Trotz, handelt es sich dabei um ein differenziertes Buch, das Raum für Grautöne lässt. Tagebuchartige Kapitel, in denen Casella den Fortgang der Reise schildert und also von der eisigen Schönheit der Berge, den Bausünden der aufkeimenden Tourismusindustrie oder der legendären kaukasischen Gastfreundschaft berichtet, kontrastieren mit Einschüben, die Schlaglichter auf die Geschichte des Gebiets werfen. Wie die imperiale Expansion des Zarenreichs, die Unterwerfung unter das Sowjetsystem oder die stalinistischen Deportationen den Kaukasus zerfurcht haben, deuten die kurzen Ausführungen zwar nur an. Sie vermitteln aber immerhin einen Eindruck von den unzähligen Bruchlinien, die den Boden durchlaufen, auf dem Europas höchste Berge stehen – viele davon sind sinnigerweise wie der Elbrus erloschene Vulkane. Ihre Gipfel erreicht man beschwingt, wenn man sich lesend an Casellas Seilschaft hängt. Und hoch oben von der Ferne träumend, sieht man denn auch über die vielen sprachlichen Unzulänglichkeiten des Buchs hinweg. Am Schluss zählt schliesslich nur das Überleben. ● Viel kann eine Frau auf die Palme bringen. Was aber treibt sie auf Bäume? Jochen Raiss’ Buch zu glauben, befand sich die Damenwelt zwischen 1920 und 1950 ziemlich oft im Geäst. Bei einem Streifzug über den Flohmarkt ist der Sammler per Zufall auf das Foto einer Frau auf einem Baum gestossen; später ist ihm das Motiv auf Amateurbildern immer wieder begegnet, und nun hat er ihm einen ganzen Band gewidmet. Er zeigt Frauen, die entspannt wie Faultiere in den Bäumen liegen, keck wie Bergsteigerinnen die Stämme hochklettern oder drapiert wie Models im Blätterwerk posieren. Vor allem aber zeigen die künstlerisch anspruchslosen Bilder Momente privaten Glücks: Die schäumende Leichtigkeit des Lebens ist es, die die Frauen in die Höhe trägt, denkt man beim Blättern und lächelt leise, auch wenn man mit beiden Füssen auf dem Boden steht. Claudia Mäder Jochen Raiss (Hrsg.): Frauen auf Bäumen. Hatje Cantz, Berlin 2016. 112 Seiten, 55 Abbildungen, Fr. 21.90. 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Briefe Karl Jaspers hat nicht enthusiastisch, aber rege korrespondiert. Eine Auswahl von 2000 Briefen zeigt den Philosophen als kritischen Ratgeber und macht Hintergründe seines Schaffens fassbar KeinebilligeAutorität, keinefalscheHarmonie Karl Jaspers: Korrespondenzen. Hrsg. von M. Bormuth, C. Dutt, D. Engelhardt, D. Kaegi, R. Wiehl, E. Wolgast. Wallstein, Göttingen 2016. 3 Bde., 2292 S., Fr. 121.–. Von Florian Bissig Kurz, bündig, ehrlich Zahllose Anfragen um Rat, Referenzen oder anderen Sukkurs richteten sich an Jaspers. Er hilft – aber nie, ohne genau hinzuschauen. Hans-Georg Gadamers Bitte von 1949, einen Beitrag zu einer Heidegger-Festschrift zu leisten, lehnt er ab. Mit dem Band sollte Heidegger rehabilitiert werden, weshalb die Mitarbeiterliste möglichst breit sein und auch «aus Deutschland Vertriebene und von Heidegger Gekränkte» enthalten sollte. Jaspers stösst sich an Gadamers banalisierender Wortwahl: «Das sind nicht Kränkungen, sondern Ereignisse in der Tiefe, wo Ethos und Philosophie wurzeln. Nichts geschieht dort, was nicht zu heilen wäre. Aber die Heilung muss in der gleichen Tiefe geschehen und nicht durch den Schein einer Überdeckung.» In den Briefwechseln mit Philosophenkollegen, die Dominic Kaegi und Reiner Wiehl ausgewählt haben, ist Jaspers oft in der Rolle des Mentors und warnt etwa frischgebackene Professoren vor der «Verkapselung in die billige Autorität des Amtes». Zu fachlichen Fragen antwortet er meist knapp. Der junge Gadamer etwa berichtet ihm ausführlich von einem Kolloquium, das er in Marburg zu Jaspers’ Buch «Die geistige Situa- Einzelkämpfer geblieben Karl Jaspers mit seiner Frau Gertrud in der gemeinsamen Wohnung in Basel, 1968. THOMAS HOEPKER / MAGNUM Wenn Briefe oder Notizen eines Autors postum erscheinen, ergänzen sie sein zu Lebzeiten gepflegtes Bild nicht immer vorteilhaft. So geschah es unlängst mit Martin Heideggers «Schwarzen Heften», die belegten, dass seine Philosophie und sein Antisemitismus eben doch unauflöslich verstrickt sind. Da ist Karl Jaspers – den Überschneidungen im philosophischen Denken zum Trotz – eine Gegenfigur zu Heidegger, der sich als Rektor in den Dienst des Nationalsozialismus stellte und seine jüdischen Kollegen verriet. Als «jüdisch Versippter» stand Jaspers selbst im Visier des Regimes. Er lehnte die Trennung von seiner jüdischen Frau ab, wurde so von seiner Heidelberger Professur abgesetzt und erhielt Publikationsverbot. Das Ehepaar lebte jahrelang in der Angst vor der Verhaftung. Für diesen Fall waren sie mit Zyankali-Kapseln ausgerüstet: Jaspers wäre mit seiner Frau in den Tod gegangen. Nach Kriegsende bemühte er sich um den Wiederaufbau der Universität Heidelberg und trat als engagierter Publizist hervor, etwa zur Schuldfrage, zur Wiedervereinigung oder zur Atombombe. Die hier anzuzeigenden Briefbände, eingeteilt in Philosophie, Politik und Universität, Psychiatrie, Medizin und Naturwissenschaften, präsentieren zwar tion der Zeit» abgehalten hat. Als er Jaspers eigene Aufsätze zuschickt, lässt ihn dieser lediglich wissen, er nehme Kenntnis von Gadamers «Haltung im Philosophieren – vorbereitend, wie mir scheint, die Geschichte ernst nehmend und zunächst das aneignende Verstehen der philosophischen Werke der Vergangenheit als gemässen Weg des Vorangehens wählend». Das musste dem Begründer der philosophischen Hermeneutik als Feedback genügen. Auch im Dialog mit Karl Löwith, mit dem er in Nietzsche ein gemeinsames Exegese-Thema hat, sucht Jaspers keine falsche Harmonie. Nachdem ihm Löwith begeistert von seiner Zarathustra-Relektüre berichtet, informiert er ihn bündig: «Ich vermute eine radikale Differenz zwischen uns in der Nietzsche-Auffassung, die wiederum gründet in einer Differenz über den Sinn von Philosophie überhaupt.» «nur» rund 2000 von etwa 35000 überlieferten Briefen. Doch die von drei Herausgeberduos nach Kriterien der Relevanz und Wirkmächtigkeit der Briefpartner zusammengestellte Auswahl vermag zu zeigen, dass Jaspers seine aufrechte Haltung auch unter schwierigsten Umständen wahrte. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 Jaspers war kein enthusiastischer Briefeschreiber. Aufgrund einer lebenslangen Atemwegserkrankung musste er seine Kräfte einteilen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Briefe schrieb er aus Notwendigkeit, um Kontakt mit Kollegen und Freunden zu halten. So bietet die dreibändige Auswahl kaum Substanzielles zu Jaspers’ Werk. Doch eine Vielzahl seiner Themen, von der Beschreibung psychopathologischer Phänomene über die philosophische Existenzerhellung bis hin zur Idee der Universität, werden hier in ihren biografischen, akademischen und gesellschaftlichen Kontexten greifbar. Knappe Fussnoten verweisen den Leser auf verwandte Stellen und Zitate aus dem publizierten Werk. Im von Matthias Bormuth und Dietrich von Engelhardt besorgten Band zur Psychiatrie lässt sich nachvollziehen, wie sich Jaspers bei den führenden Forschern teilweise widerwillig über die Entwicklungen der Seelenheilkunst informierte, um seine «Allgemeine Psychopathologie» aufzudatieren, wobei er sowohl die Psychosomatik wie die Psychoanalyse immer vehementer ablehnt. Die Korrespondenzen mit den Chefredaktoren von «Spiegel», «FAZ» und «Zeit» sind im Band zur Politik von Carsten Dutt und Eike Wolgast nachzulesen. Dass Jaspers auch in der Kommunikation mit der breiteren Öffentlichkeit ein Einzelkämpfer blieb, zeigt sich, als ihn Max Frisch und Alfred Andersch 1960 bitten, eine Petition von Intellektuellen zum Algerienkrieg an die französische Regierung zu unterzeichnen. Solche Sachen hätten keine Wirkung, schrieb er ihnen. Ausserdem sei er der Ansicht, «dass ‚Intellektuelle’, die ihrerseits corporativ auftreten, vielleicht immer einen etwas wunderlichen Anblick bieten». ● Kosmologie Die amerikanische Physikerin Lisa Randall erläutert die Zusammenhänge zwischen dem Aussterben der Dinosaurier und der Existenz des Homo sapiens MehrLichtindieDunkleMaterie Lisa Randall: Dunkle Materie und Dinosaurier. Die erstaunlichen Zusammenhänge des Universums. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 459 S., Fr. 31.90, E-Book 24.–. Stadtmenschen erscheint ein Nachthimmel selbst bei vermeintlich klarer Sicht als ziemlich leer. Wer jedoch beispielsweise in der auf über 2000 Meter gelegenen Hochebene beim Teide auf Teneriffa einmal eine «Sternenführung» miterleben durfte, weiss aus sinnlicher Erfahrung, dass unsere stolze Erde nicht mehr als ein Staubkorn im All sein kann. Die US-amerikanische Physikerin Lisa Randall hatte ein analoges Erlebnis in einem Wüstengebiet von Colorado, als sie durch eine militärische Nachtsichtbrille schaute. Von dem, was sie dabei sah, erstaunten die heute 54-jährige Harvard-Professorin vor allem die vielen herumsausenden Sternschnuppen. Täglich tritt in solcher Form an die 50 Tonnen ausserirdisches Material in die Atmosphäre ein, ohne ernsthaft Schaden anzurichten. Auf der Erdoberfläche gelandete, nicht verglühte Reste davon nennt man Meteoriten. Es sind Steine mit Sammlerwert. Vereinzelt kommt es jedoch zu Einschlägen von viel grösseren Brocken mit verheerenden Folgen. Geradezu apokalyptisch muss vor 66 Millionen Jahren das jüngste solcher Ereignisse gewesen sein, als ein mindestens 10 Kilometer grosser Himmelskörper auf die Uferregion der Yukatan-Halbinsel im Golf von Mexiko prallte und uns den 180 Kilometer breiten Krater Chicxulub hinterliess. Jene Kollision setzte die Energie von einer Milliarde Atombomben frei, die Erdoberfläche wurde buchstäblich ge- MARK GARLICK / GETTY IMAGES Von André Behr Vor 66 Millionen Jahren prallte ein 10 Kilometer grosser Himmelskörper auf das heutige Mexiko und löschte die Hälfte aller Arten aus. braten, und etwa die Hälfte aller biologischen Arten dürfte ausgestorben sein – darunter auch die landlebenden Dinosaurier. In ihrem neusten Buch beschreibt Lisa Randall (*1962) diese gigantische Katastrophe ausführlich und mit Bezug zur sogenannten Dunklen Materie. Danach hat eine Scheibe aus Dunkler Materie in der Ebene unserer Milchstrasse das Ungetüm auf die für die Erde fatale Bahn gelenkt. Die Existenz Dunkler Materie wurde in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts als waghalsige Hypothese formuliert. Jan Hendrik Oort aus Holland und der in den USA forschende Schwei- zer Fritz Zwicky konnten gewisse gemessene Bewegungs- und Dichtemuster in Galaxien und deren Haufen nicht erklären und vermuteten im Zentrum von Galaxien zusätzliche Massen, die gravitativ wirken, wie unsere Sonne auf die Planeten, aber direkt nicht nachweisbar sind. Inzwischen gehört diese These zum Standardmodell der Kosmologie und ist Gegenstand weltweiter Grundlagenforschung. Dunkle Materie war entscheidend bei der Entstehung von schweren Atomkernen und Sternen sowie für die Einbindung in Galaxien von in Supernovae gebildeten schweren Elementen, die für das Leben auf unserem Planeten unentbehrlich sind. Indem Lisa Randall das Massensterben von Dinosauriern, die zuvor mehr als 100 Millionen Jahre lang eine beherrschende Rolle auf unserem Planeten gespielt hatten, in Zusammenhang mit unserer Umwelt im Sonnensystem bringt, arbeitet sie an einem Entwurf für ein Gesamtbild von unserem Leben. Auch der Dunklen Materie, so lautet Randalls Botschaft, verdanken wir mit unsere Existenz. Die amerikanische Forscherin interessiert sich seit ihrer Kindheit für die ganze Palette der Naturwissenschaften. Ihre ungebrochene Neugier äussert sich besonders in diesem dritten Buch, in dem sie über die Physik hinaus auch die Forschungswege der Geologen und Biologen detailliert nachzeichnet. Es umfasst wieder an die 500 Seiten und verlangt beim Lesen Ausdauer. Dafür erhält man einen tiefen Einblick in das Innenleben von Wissenschaft. Denn Fortschritt in den Naturwissenschaften braucht beides: Mutige Spekulationen über vermeintliche Grenzen hinweg und akribisch genaue Detailüberprüfung, die meist sehr viel Zeit beansprucht. ● Wissenschaft Daten können so manches belegen – ein Plädoyer für Bedacht im Umgang mit Statistiken Zahlenreihen sind voller Stolpersteine Katharina Schüller: Statistik und Intuition. Springer Spektrum, Berlin 2016. 294 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 12.40. Von George Szpiro «Big Data» ist zum Modewort geworden. Nicht nur Firmen wie Google, Amazon, Facebook oder Apple sammeln Unmengen von Daten, auch Amtsstellen, Meinungsforscher, universitäre Labors tun dies. Auf Grundlage der angeblich gewonnenen Erkenntnisse sollen wir Bürger dann entscheiden, wen wir wählen, welches Medikament wir nehmen und welches Auto wir kaufen. Nicht zu Unrecht misstrauen Menschen diesen Erkenntnissen, denn jeder weiss inzwischen, dass nicht nur die Auswahl von Daten, sondern auch die Darstellung der Resultate manipuliert werden kann. Aus diesem Misstrauen heraus verlasse sich der Durchschnittsbürger dann oft auf sein Bauchgefühl, auf anekdotische Einzelbeobachtungen oder Daumenregeln, meint Katharina Schüller, die eine Unternehmensberatung mit Fokus auf Statistik gegründet hat. Diesem Missstand will sie in ihrem anregenden, aber auch nachdenklich stimmenden Buch «Statistik und Intuition» entgegenwirken. Schüller beginnt ihr Buch mit einer Einführung in kritisches Denken. In Dutzenden von Beispielen zeigt sie dann im Detail, wo sich in der langen Kette vom Erfassen und Beschreiben der Daten bis zu den Schlüssen, die aus ihnen gezogen werden, ungeahnte Stolpersteine verbergen können. Ein Kinderunfallatlas zum Beispiel vergleicht die Zahl der Unfälle mit der Anzahl der in den Gebieten lebenden Kinder. Tourismusregionen kommen dabei schlechter weg, weil die Zahlen zwar alle Unfälle, aber bloss die dort wohnhaften Kinder – und nicht die Ferienkinder – einbeziehen. Dies ist zwar beeindruckend, aber die Lektüre lässt auch ein wenig ratlos. Denn das böse Wort, dass man mit Statistik alles, was man will, beweisen kann, lässt sich ja auch auf die Kritik an ihr anwenden: Mit entsprechender Absicht lässt sich jede statistische Untersuchung bemängeln. Mit ihrer Aufforderung, «alles» anzuzweifeln, scheint die Autorin etwas zu viel des Guten getan zu haben. Am Ende fragt sich der Leser, ob es überhaupt statistisch belegte Hypothesen gibt, denen man trauen darf, oder ob schlichtweg jede statistische Analyse in irgendeiner Weise irreführend sei. ● 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Gesellschaft Michael Nast erklärt, was Männern seines Alters das Eingehen von Bindungen erschwert Vorsicht vor Kosenamen! Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Edel, Berlin 2016. 239 Seiten, Fr. 19.90. Von Simone Karpf Was sind die Charakteristiken einer Generation? Generation Babyboom, Generation X oder Y – seit je suchen Autoren nach griffigen Bezeichnungen für ganze Altersklassen. Michael Nast (*1975), Autor und Kolumnist, reiht sich in diese Tradition ein und nimmt sich das Beziehungsverhalten als generationenprägendes Merkmal vor. Im Vorwort macht Nast klar, dass er weder Psychologe noch Soziologe sei, auch Ratgeberliteratur schreibe er nicht, vielmehr sieht er sich als scharfer Beobachter seiner Zeit. Diese ausgeprägte Beobachtungsgabe führt ihn zum Schluss, dass er selbst, sein Umfeld und somit eine ganze Generation «beziehungsunfähig» sei. Was auf den 240 Seiten seines Buches quasi als Beweisführung für diesen Befund folgt, ist eine Reihe von Anekdoten, die Michael Nast entweder selbst oder aber Freunde von ihm erlebt haben. So quält etwa Christian das Problem, dass er seit einem halben Jahr keinen Sex mehr mit seiner Freundin hat. Der Grund dafür sind Kosenamen wie «Schnüsel» oder «Puschel», die ihm seine Freundin gibt. Sie haben dazu geführt, dass sich Christian von seiner Partnerin sexuell nicht mehr angezogen fühlt. An einer anderen Stelle erläutert Nast, warum die Wohnungen von Frauen ordentlicher sind als jene von Männern – was in Liebesbeziehungen zu Problemen führe. «Ich betrachte Putzen als Zeitverschwendung. Es gibt mir nichts. (...) Frauen haben mir erklärt, warum sie gerne ihre Wohnung putzen. Um sich zu erden, um runterzukommen...» Gegen den Rückgriff auf eigene Erfahrungen und veranschaulichende Beispiele ist im Grunde nichts einzuwenden. Nur vermag Nast nicht über diese Einzelfälle hinauszukommen – und fühlt sich dennoch befähigt, Aussagen über eine ganze Generation zu machen. Seine Konklusionen gipfeln folglich in Banalitäten sondergleichen: «Wie gesagt, Sex ist eine sensible Angelegenheit.» oder «Und darum geht es: sein Leben nicht zu verschwenden, denn wir haben nur eins.». Das ist schade, denn die Themen, die er anschneidet, wären durchaus interessant. So zum Beispiel die Frage, wie Dating-Apps wie Tinder, die einem die permanente Verfügbarkeit und eine endlose Auswahl an möglichen Partnerinnen und Partnern suggerieren, sich auf das Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen auswirken. Aber anstatt solche Praktiken in grössere Zusammenhänge zu stellen, inszeniert sich Nast lieber selbst, und zwar als zweifelnder Intellektueller und als Mann, der sich, verwirrt durch veränderte Rollenbilder, erst selbst finden muss «Auch ich bin einer dieser schwierigen Fälle, an dem Frauen verzweifeln.» ● Wohin mit Hut, Handschuhen und Spazierstock? Diese bange Frage beutelte Ende des 19. Jahrhunderts junge Männer aus den besseren Ständen Amerikas, wenn sie im Hause einer Angebeteten vorsprachen. War das Mädchen zu einer Begegnung im Salon bereit, durfte der Besucher die Utensilien im Vorraum ablegen. In der frühen Kolonialzeit waren die Rituale der Paarbildung noch merkwürdiger. Da durften zwar gemeinsame Probenächte in einem Bett stattfinden – zuvor mussten sich die Eheaspiranten jedoch bis zum Hals in grobe Stoffsäcke einnähen lassen. Der Brauch war als «bundling» bekannt. Das nach 1900 zunehmend auch in der Öffentlichkeit populäre Petting war so ausgeschlossen. So anschaulich führt Moira Weigel in ihrem weithin beachteten Erstling Labor of Love. The Invention of Dating (Farrar, Straus and Giroux, 292 Seiten) durch die Geschichte des «Dating». Im Zusammenhang mit Liebeswerben und Eheanbahnung taucht der Begriff «date» erstmals 1896 in einer Chicagoer Zeitung auf, so Weigel. Damit war eine feste Verabredung zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeint. Diese Art von erotischer Buchführung war durch die rapide Industrialisierung der USA möglich und notwendig geworden. Nach dem Bürgerkrieg fanden Mädchen aus ärmeren Schichten in grosser Zahl Anstellungen als Verkäuferinnen, Dienstmädchen oder in Fabriken. Der Kontrolle der Eltern entronnen, aber meist eingepfercht in Wohnheimen, begegneten sie ständig unbekannten und ledigen Männern. Besonders Angestellte in Kaufhäusern nahmen die Gelegenheit wahr, Herren aus höheren Schichten zu 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016 TEGRA NUESS / GETTY IMAGES Das amerikanische Buch Lebensbund und Liebesbündel: Dating in den USA Moira Weigel (unten), Yale-Doktorandin der Philosophie, widmet sich in ihrem Buch dem Dating-Verhalten der Amerikaner. beeindrucken. Auch für diese Dates standen neuartige Örtlichkeiten wie Cafés bereit. Die Initiative ging jedoch meist von den Männern aus, die dank besserer Gehälter die Kosten eines Abends oder Sonntagnachmittags übernahmen. So zerflossen die Grenzen zwischen Dating und Prostitution. Dass die von Medien und Moralinstanzen bis heute idealisierte romantische Liebe den rauen Winden der wirtschaftlichen Realität ausgesetzt war und bleibt, bildet eine Erkenntnis des Buchs. Dating wurde zu einer Form von Konkurrenzkampf, der besonders auf Mädchen und Frauen lastete. Gipfel dieser Entwicklung waren die Millionen-Seller von Helen Gurley Brown in den 1960er Jahren, die Sekretärinnen in ein Beauty-Wettrüsten um die Gunst der Chefs trieben. Zeigte sich dieses Rollenverständnis noch 1995 im Erfolgsbuch «The Rules» von Ellen Fein und Sherrie Schneider, so stellt Weigel in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine andere Tendenz fest: Seit 1910 und verstärkt in der Depressions- und Weltkriegsära zeigte sich eine dramatische Lockerung der Sitten, nicht zuletzt an den zunehmend von Mädchen besuchten Universitäten. Dabei halfen legaler und illegaler Gin, aber auch körpernahe Tänze und nicht zuletzt das Automobil als bundle-freier Bettersatz. Dahinter erkennt Weigel als Ursachen unsichere Lebens- und Einkommensverhältnisse, die in den 1950ern Wohlstand und dem neuen Ideal fester Beziehungen schon für Teenager wichen. Heute klingt «Going Steady» wie ein Begriff aus der Steinzeit: Die auch in gebildete Kreise vordringende Unsicherheit der «GigÖkonomie» mit ihren ständig wechselnden Jobs und Wohnsitzen nimmt Amerikanern beiden Geschlechtes zunehmend die Grundlage für Lebensbünde. Dank Apps und Internet stehen dafür endlose Möglichkeiten für Dates zur Verfügung. Diese erzeugen aber neue Zwänge der Selbstvermarktung. Moira Weigel bietet diese Übersicht in einem flotten Stil. Als Yale-Doktorandin der Philosophie demonstriert die 31-Jährige ihre Lehrjahre an den EliteUniversitäten Cambridge (England) und Harvard auch mit Seitenhieben gegen Social-Media-Mogule wie Mark Zuckerberg, der von den emotionalen Nöten seiner Kundschaft profitiere. Allerdings liegen Kritiker richtig, die Weigel einen Fokus auf elitäre und heterosexuelle Weisse wie sich selbst vorwerfen. Doch auch so erscheint Liebe als Luxus, den sich immer weniger Amerikaner leisten können. ● Von Andreas Mink Agenda Bildergeschichten Stürmischer Hagestolz Agenda Juli 16 Basel Freitag, 1. Juli, 20 Uhr Sofa-Sommer-Sause: Trampeltier of Love. Text und Tuba mit Matto Kämpf, Simon Hari und Marc Unternäher, Eintritt frei, Kollekte. Nachthafen / Warteck, Burgweg 15. Infos: www.literaturhaus-basel.ch. Freitag, 1., bis Sonntag, 3. Juli 21. Internationales Literaturfestival Leukerbad. Lesungen und Gespräche an verschiedenen Orten, literarische Spaziergänge etc., Autorinnen und Autoren: Adolf Muschg, Dragica Rajcić, Monique Schwitter, Benedict Wells, Clemens J. Setz (Bild), u.a. Detailliertes Programm, Infos zu Veranstaltungsorten und Ticketpreise: www.literaturfestival.ch. HANS HOCHSTÖGER Leukerbad Rütli unsere Abbildung entstammt, erzählt er die Geschichte eines verliebten Hagestolzes. Auf unserem Bild will dieser sich aus Liebeskummer erhängen. Zum Glück ist der Strick zu lang. Doch dann will der Held wieder der Geliebten hinterher stürzen, vergisst, dass er noch immer den Hals in der Schlinge hat, und stranguliert sich um ein Haar. Doch wiederum kommt er davon, denn in seinem Furor reisst er den Dachbalken mit. Manfred Papst Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois. Avant-Verlag, Berlin 2016. 280 S., Fr. 55.–. Bestseller Juni 2016 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Donna Leon: Ewige Jugend. Diogenes. 336 Seiten, Fr. 30.90. Blanca Imboden: Schwingfest. Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 25.90. Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores. Piper. 512 Seiten, Fr. 30.90. Hazel Brugger: Ich bin so hübsch. Kein & Aber. 176 Seiten, Fr. 13.90. Martin Walker: Eskapaden. Diogenes. 400 Seiten, Fr. 30.90. Guillaume Musso: Vierundzwanzig Stunden. Pendo. 384 Seiten, Fr. 15.90. Jonas Jonasson: Mörder Anders und seine Freunde. Carl’s Books. 352 Seiten, Fr. 26.90. Harlan Coben: Ich schweige für dich. Goldmann. 416 Seiten, Fr. 20.90. Viveca Sten: Tödliche Nachbarschaft. Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 19.90. Viola Shipman: Für immer in deinem Herzen. Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 21.90. Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90. Roland Gohl: Unser Weltrekord-Tunnel Gotthard. Weltbild. 144 Seiten, Fr. 35.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90. Thomas Widmer: Schweizer Wunder. Echtzeit. 272 Seiten, Fr. 26.90. Shindy, Josip Radovic: Der Schöne und die Beats. Riva. 240 Seiten, Fr. 28.90. Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier. Campus. 292 Seiten, Fr. 27.90. Berthold Budde: Chronik der Schweiz. Weltbild. 256 Seiten, Fr. 37.90. Jesper Juul: Leitwölfe sein. Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90. Lisbeth Herger: Unter Vormundschaft. Hier und Jetzt. 200 Seiten, Fr. 42.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 14.06.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Winterthur Dienstag, 5. Juli, 19.30 Uhr Vea Kaiser (Bild), Catalin Dorian Florescu: Familienromane. Lesung und Gespräch. Moderation: Tom Gisler, Fr. 25.–. Rosengarten, Hochwachtstrasse. Reservation: 052 267 68 60. INGO PETRAMER Der Genfer Zeichner und Erzähler Rodolphe Töpffer (1799–1846) war mit seinen Bildergeschichten ein Vorläufer des Comic. Eigentlich wollte er Maler werden. Ein Augenleiden stand dem im Wege. Töpffer wurde Lehrer, eröffnete ein Knabenpensionat und wirkte als konservativer Parlamentarier. In seiner Freizeit zeichnete er skurrile Bildergeschichten, die nicht nur den alten Goethe begeisterten. Rasch wurde er populär. Töpffer karikierte die feine Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. In «Les Amours de Monsieur Vieux-Bois» (1839), der Samstag, 2. Juli, 17.30 Uhr Arno Camenisch: Die Kur. Lesung mit Apéro und 3-Gang-Menu, Fr. 91.–. Rütlihaus. Info: www.ruetlihaus.ch. Freitag, 22. Juli, 14 Uhr Slam-Poetry-Workshop mit Lars Ruppel. Für Jugendliche ab 12 Jahren, Fr. 25.–. Sonnenbad Wolfensberg, Wolfensbergstrasse. Infos: www.lauschig.ch. Zürich Mittwoch, 13. Juli, 20 Uhr Schorsch Kamerun: Die goldenen Zitronen. Lesung, Fr. 30.–. Openair Literatur Festival im Alten Botanischen Garten, Talstrasse. Reservation: www.literaturhaus.ch. Donnerstag, 14. Juli, ab 20 Uhr Nell Zink: Der Mauerläufer / Ralf König: Pornstory. Buchpräsentation und Lesung, Fr. 30.–. Alter Botanischer Garten (siehe oben). Samstag, 16. Juli, 20 Uhr David Mitchell: Lesung und Gespräch. Moderation: Blas Ulibarri, Lesung der deutschen Texte: Thomas Sarbacher, Fr. 35.–. Alter Botanischer Garten (siehe oben). Bücher am Sonntag Nr. 7 erscheint am 28.08.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Geschichtsunterricht bei einer 236-Jährigen. Während die Franzosen im September 1799 die Schlacht um Zürich für sich entscheiden konnten, sass in ebendieser Stadt bereits einer unserer Redaktoren bei seiner Arbeit im stillen Kämmerlein. Wir verstehen etwas von Geschichte, weil wir selbst Teil von ihr sind. Jetzt Abo bestellen: 4 Ausgaben für Fr. 58.– (Einzelverkauf Fr. 72.–) nzz.ch/geschichte91
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