Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Nr. 6 | 26. Juni 2016
NZZ am Sonntag
Jon Fosse
Archaische
Wucht aus
Norwegen
10
Cybermobbing
Schon bei
Jugendlichen
ein Thema
12
ICH!
Werden wir
immer mehr
zu Narzissten?
22
2000 Briefe
Charakterbild
desPhilosophen
KarlJaspers
24
Bücher
am Sonntag
N Z Z- LI B RO.C H
«Was Literatur für das Verständnis
von Geschichte leisten kann»
NEU
Urs Bitterli,
Licht und Schatten über Europa 1900–1945
Eine etwas andere Kulturgeschichte
352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Fr. 48.–* / € 48.–
ISBN 978-3-03810-151-2
Wer hat sie nicht gelesen, die wichtigen literarischen Zeugnisse des 20. Jahrhunderts: Professor Unrat, Im Westen
nichts Neues, Draussen vor der Tür oder Jakob der Lügner. Diese und 46 weitere Romane, Essays, Zeitungsartikel
und Berichte aus ganz Europa nutzt der Geschichtsforscher Urs Bitterli als neuartige Quellen, um die Jahre zwischen
1900 und 1945 darzustellen. Das Experiment seiner ‹etwas anderen Kulturgeschichte› gelingt meisterhaft.
«Urs Bitterli zeigt eindrücklich, was Literatur für das Verständnis von Geschichte zu leisten vermag.»
ANNA ROTHENFLUH, WATSON.CH
NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected].
* Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich
Inhalt
Nr. 6 | 26. Juni 2016
NZZ am Sonntag
Jon Fosse
Archaische
Wucht aus
Norwegen
10
Cybermobbing ICH!
2000 Briefe
Schon bei
Werden wir
Charakterbild
Jugendlichen immer mehr
desPhilosophen
ein Thema
zu Narzissten? KarlJaspers
24
12
22
Bücher
am Sonntag
Jon Fosse
(Seite 10).
Illustration von
André Carrilho
Belletristik
4
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den
Kurfürstendamm
Von Manfred Papst
6 Pete Smith: Das Mädchen vom Bethmannpark
Von Stefana Sabin
7 Oğuz Atay: Die Haltlosen
Von Janika Gelinek
8 Bilal Tanweer: Die Welt hört nicht auf
Von Simone von Büren
Federico Busonero: The Land That Remains
Von Gerhard Mack
9 Ursula Hasler: Blindgänger
Von Charles Linsmayer
10 Jon Fosse: Trilogie. Schlaflos. Olavs Träume.
Abendmattigkeit
Von Jürg Scheuzger
11 Joachim Sartorius: Für nichts und wieder alles
Von Angelika Overath
Kurzkritiken Belletristik
11 Rebecca West: Die Rückkehr
Von Gundula Ludwig
Walter Mehring: Sturm und Dada
Von Manfred Papst
Iren Baumann: An einem dieser Abende
Von Manfred Papst
Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden
Von Claudia Mäder
Während ich diesen Satz tippe, startet Deutschland einen Angriff auf Polen.
Die Stimmung ist gut, Verletzte gibt’s keine: alle 22 Mann munter. Beileibe
nicht immer gehen Wettkämpfe zwischen Nationen so glimpflich aus wie
aktuell im Fussball und bald (hoffentlich) beim Kugelstossen oder Bogenschiessen. Der Sport lenkt den häufig fatalen nationalen Konkurrenzeifer
in friedliche Bahnen und ermöglicht verlustarme Siege – das war eine der
Überlegungen, die Baron Pierre de Coubertin anstellte, als er im ausgehenden 19. Jahrhundert die neuzeitliche Olympiade ersann. Nicht nur
Geschichtsinteressierten, auch Freunden der Opernkunst möchten wir
die Beschäftigung mit dem Leibeskult aber ans Herz legen, denn die Spiele
atmen mit dem Geist des Nationalismus auch jenen von Richard Wagner.
All das ist in Klaus Zeyringers Kulturgeschichte der Olympiade (S. 18)
nachzulesen. Das Buch ist freilich nur eins von vielen, mit denen wir das
Sommerloch zwischen Euro und Olympia zu füllen empfehlen. Fernwehgeplagten sei im Juli das Eintauchen in Oğuz Atays türkischen Jahrhundertroman (S. 7) oder das Schweben durch Jon Fosses Norwegen (S. 10)
angeraten. Und wer Zeitreisen vorzieht, mag sich wahlweise in die Ära
der Dinosaurier (S. 25) oder ins Jahr 1929 (S. 4) zurückversetzen. Dass
Gabriele Tergit dort den Niedergang einer Zeitung beschreibt, soll Sie nicht
beirren: Wir kommen wieder, wenn auch erst Ende August. Bis dahin
wünschen wir anregende Lektüre. Claudia Mäder
Jennifer Mathieu: Die Wahrheit über Amy
Johanna Nilsson: Hass gefällt mir
Von Daniel Ammann
13 Pernilla Stalfelt: Fang einfach an!
Katarina Kuick, Ylva Karlsson: Schreib! Schreib!
Schreib!
Von Andrea Lüthi
Bibi Dumon Tak, Fleur van der Weel: Mücke ,
Maus und Maulwurf
Von Christine Knödler
Caroline Eichenlaub, Beatrice Wallis (Hrsg.):
Neu in der Fremde
Von Sabine Sütterlin
Nikolaus Nützel: Dein letzter
Gottesdienst?
Von Verena Hoenig
Kerstin Unseld: Man sieht
auch mit den Ohren gut
Von Christine Knödler
Interview
14 «Verleger arbeiten wie Förster.
Sie brauchen Geduld»
Jo Lendle, Leiter des Carl Hanser Verlags,
im Gespräch mit Manfred Papst
Kolumne
17 Charles Lewinsky
Das Zitat von Stephen King
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken Sachbuch
12 Sabine Ludwig, Astrid Henn: Warum Kater
Konrad ins Wasser sprang
Von Verena Hoenig
Jenny Valentine: Durchs Feuer
Von Andrea Lüthi
Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und
ein Teehaus
Von Christine Knödler
Lorenz Pauli, Kathrin Schärer: Rigo und Rosa
Von Verena Hoenig
17 Stefan Bollmann: Warum ein Leben ohne
Goethe sinnlos ist
Von Kathrin Meier-Rust
Da, wo etwas los ist. 15 Kulturorte in der
Schweiz
Von Simone Karpf
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims
Von Claudia Mäder
Niklas Luhmann: Der neue Chef
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
KATHRIN SCHÄRER
Es lebe
der Sport!
18 Klaus Zeyringer: Olympische Spiele
Von Manfred Koch
20 Mark Mazower: Griechenland unter Hitler
Kateřina Králová: Das Vermächtnis
der Besatzung
Von Claudia Kühner
Svenja Flasspöhler: Verzeihen. Vom Umgang
mit Schuld
Von Florian Oegerli
21 Harald Welzer: Die smarte Diktatur. Der Angriff
auf unsere Freiheit
Von Joachim Güntner
22 Roger Schawinski: Ich bin der Allergrösste
Craig Malkin: Der Narzissten-Test
Theodor Itten: Grössenwahn
Von Kathrin Meier-Rust
23 Mario Casella: Schwarz Weiss Schwarz
Von Claudia Mäder
Jochen Raiss (Hrsg.): Frauen auf Bäumen
Von Claudia Mäder
24 Karl Jaspers: Korrespondenzen
Von Florian Bissig
25 Lisa Randall: Dunkle Materie und Dinosaurier
Von André Behr
Katharina Schüller: Statistik und Intuition
Von George Szpiro
26 Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig
Von Simone Karpf
Das amerikanische Buch
Moira Weigel: Labor of Love. The Invention
of Dating
Von Andreas Mink
Agenda
27 Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des
Monsieur Vieux Bois
Von Manfred Papst
Bestseller Juni 2016
Belletristik und Sachbuch
Agenda Juli 2016
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hanspeter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Graf (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Gabriele Tergit hat 1931 einen sensationellen Roman über die Wirtschaftskrise,
skrupellose Medien, den Niedergang einer Zeitung und den aufkommenden Nationalsozialismus
publiziert. Endlich liegt ihr spannendes Werk wieder vor
WennHasardeure
dieGeschichte
bestimmen
wieder in sich zusammenfällt, beschreibt
Gabriele Tergit mit pointiertem Spott
und Sinn für die Satire.
Das ist aber nur ein Aspekt des Buches. Es ist ein rasanter, polyfoner Berlin-Roman. Unter anderem spielt er auf
der Redaktion der fiktiven, dem «Berliner Tageblatt» nachgebildeten «Berliner
Rundschau», die von einem nassforschen Emporkömmling heruntergewirtschaftet wird. «Wer will Geist? Tempo,
Schlagzeile, Sensation, das wollen die
Leute. Amüsement.» Wir sehen hier alle
Seiten des komplexen Betriebs: die altgedienten Redaktoren, die an ihren
Feuilletons feilen, aber auch den Metteur
Miehlke, der die Texte der Edelfedern
ungerührt kürzt und dabei sagt: «Och,
Leser merken janischt. Die Herren denken immer, es kommt druff an. Es kommt
aber nich druff an.»
Gabriele Tergit: Käsebier erobert den
Kurfürstendamm. Hrsg. von Nicole
Henneberg. Schöffling, Frankfurt 2016.
400 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.–.
Von Manfred Papst
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
Neun Mark für den Mord
Mit Sinn für Satire:
Schriftstellerin
Gabriele Tergit (1926).
JENS BRÜNING
Gebannt verschlingt man diesen Roman.
Man kann es kaum glauben, dass das 1931
im Rowohlt-Verlag erschienene Werk damals von einer jungen Frau in nur sechs
Wochen aufs Papier geworfen wurde.
Und noch weniger kann man glauben,
wie es dermassen in Vergessenheit geraten konnte. Denn dieser rasante Roman
kann es mit den Büchern von Hans Fallada und Erich Kästner ohne Weiteres
aufnehmen.
Gabriele Tergit, die mit ihrem Erstling
schlagartig, wenn auch nur für kurze
Zeit, berühmt wurde, weil es bald nach
seinem Erscheinen Nacht wurde über
Deutschland, erzählt hier die Geschichte
vom Aufstieg und Fall des Volkssängers
Käsebier, der von einem Reporter in
einem billigen Variété entdeckt und von
ihm aus eigenem Karrierekalkül systematisch zum Star hochgeschrieben wird.
Plötzlich ist ganz Berlin im Käsebier-Fieber. Der «Rote Stern» äussert sich ebenso
zu ihm wie der «Völkische Aufgang».
Spekulanten wollen mitverdienen, Immobilienhaie sind flugs dabei, dem Sänger, der nicht weiss, wie ihm geschieht,
ein eigenes Theater am Kurfürstendamm
zu bauen. Es gibt eine Käsebier-Industrie
mit Schallplatten und Gadgets wie bei
heutigen Popstars, und es gibt juristische
Streitigkeiten zwischen den Verwertungsgesellschaften und einen Plagiatsprozess um die Anfangszeilen von «Ach
Mensch, ist Liebe schön». Die besseren
Kreise der Hauptstadt, die ihre Langeweile mit hemmungsloser Promiskuität
zu vertreiben suchen, haben nichts Dringenderes zu tun, als dem Volkssänger zuzujubeln. Diese Modemanie, die alsbald
Das Panorama einer ganzen Epoche ersteht hier vor uns, obwohl der Roman
einzig 1929 spielt, im Schicksalsjahr der
Weltwirtschaftskrise. Tergit kennt sich in
allen Milieus und sozialen Schichten aus.
Handwerker, die von Herstellern billig
gefertigter Massenware ruiniert werden,
schildert sie ebenso wie Ladenmädchen,
die sich nach einer Romanze sehnen,
und wie das angeschlagene Grossbürgertum, das seine Bilder und Möbel, sein Silber und Porzellan weit unter Wert verkaufen muss. Mit scharfem Blick beobachtet sie den aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus.
Gabriele Tergit, 1894 als Kind einer
wohlhabenden deutsch-jüdischen Familie in Berlin geboren, wurde gegen den
Willen ihrer Eltern Journalistin. In der
Weimarer Republik machte sie sich mit
ihren Gerichtsreportagen einen Namen.
In Deutschland war sie die erste Frau in
diesem Fach. Ihre Reportagen überzeugen bis heute, weil sie Analyse mit Empathie verbinden.
Im November 1933 emigrierte die Autorin nach Palästina. Fünf Jahre später
floh sie, weil sie das Klima dort nicht vertrug, mit ihrem Mann weiter nach London. Drei Romane hat sie insgesamt geschrieben, dazu eine Autobiografie, die
allerdings erst postum veröffentlicht
wurde. Ihr Erstling ist ihr Meisterwerk.
Der unglücklich gewählte Titel, der an
Ludwig Thoma und dessen humoristische Brieferzählung «Käsebiers Italienreise» denken lässt, weist allerdings in
eine falsche Richtung. Die Autorin selbst
hat später eingeräumt, dass die Wahl des
Titels ein Missgriff war. Er verbirgt, wie
radikal, zynisch und schnell dieser
Grossstadtroman mit seinen witzigen
Dialogen, seinen Stakkato-Schilderungen Berlins und seinem illusionslosen
Blick auf Zeitgeschichte ist.
Die Kapitel des Buches, die auf der Redaktion spielen, sind nicht nur für Eingeweihte ein Vergnügen. Die Dialoge sitzen, und wir begegnen auf Schritt und
Tritt überraschenden Formulierungen.
«Der Beischlaf gehört zu den überschätztesten Angelegenheiten, trotzdem man
ihm noch immer eine grosse Zukunft
voraussagen kann», sagt beispielsweise
Redaktor Gohlisch. Und die Spesenrechnung von Reporter Mielke lautet wie
folgt: «Ein Mord recherchiert = 9 Mark.
Auto hin zur Leiche = 3 Mark. Autorückfahrt von der Leiche = 3 Mark. Schnäpse,
weil beim Anblick der Leiche so schlecht
wurde = 3 Mark.»
Gerlinde Tergit versteht sich auf ganz
verschiedene Tonlagen. Wenn sie das
Proletariat schildert, gelingt ihr eine
Grossstadtprosa, die an Alfred Döblin erinnert. Die mit List und Tücke geführten
Verhandlungen der Investoren, die sich
gegenseitig über den Tisch zu ziehen versuchen, gestaltet sie als packenden Wirtschaftskrimi. Sie ist aber auch eine
begnadete Pointillistin, wie folgende
Passage, die einen Märzabend auf dem
Kurfürstendamm schildert, zeigen mag:
AKG IMAGES
«Der Asphalt spiegelte. Die Frühlingsbäume hatten einen hellen Schleier im
Licht der Bogenlampen, aus dem Tiergarten drang die Sehnsucht der vielen
Paare auf den Bänken. Vor dem Café sassen Damen in hellen neuen Kostümen,
die kleinen Hüte um die kleinen Köpfe,
sie sassen da und tranken aus den Röhrchen Eiskaffee und Eisschokolade. Sie
waren herrlich manikürt und massiert
und gesalbt und gerötet und geweisst.
Lambeck roch diese Luft aus Freiheit,
Frechheit und Benzin.»
Nichts ist Gabriele Tergit fremd. Sie
lässt einige Figuren herrlich berlinern
(«Na Fräulein, warum denn so mit de frisierte Schnauze») und mokiert sich über
den Metaphernsalat mancher Redaktoren («Rausgepickte Entgleisungen, an
denen man jemanden festnagelt»). Auch
die Redeweise der neuen Zeitungsmacher beherrscht sie: «Was ist Tradition?
Gut für Schlösser und gestorbene Feudalherren. Weil ein Zeitungskopf einhundertsiebzig Jahre alt ist, ist er noch nicht
gut für 1929. Im Gegenteil!». Beim Konsumenten schlummernde Bedürfnisse
zu wecken: Das ist die Aufgabe des modernen Unternehmers.
Sparwütiger Baulöwe
Wenn wir die Diskussionen unter den
Immobilienhaien verfolgen, die einen
riesigen Gebäudekomplex mit Luxuswohnungen am Kurfürstendamm planen, glauben wir uns ins Jahr 2016
versetzt. Solche Etablissements dürften
nur einen einzigen Fehler haben, sagt ein
Berater, und das sei der Preis. Doch das
Projekt geht an den gefürchtetsten
Baulöwen Berlins. Und der spart gnadenlos. «Er baute Hof an Hof, Zimmer an
Zimmer, die Hauptsache war die Feuersicherheit.» Er verstösst nicht gegen
die Gesetze. Doch er baut Häuser, in
deren Höfen die Kinder nicht spielen
dürfen, «ohne Grünplätze, ohne Sandplätze, allen Gefahren ausgesetzt, ihn
ging das nichts an.»
Zu den Stärken von Tergits Roman gehört es, dass er nicht moralisiert und
ohne kommentierende Erzählstimme
auskommt. Die Protagonisten sprechen
für beziehungsweise gegen sich selbst.
Die Autorin ist ein Seismograf für die
Schwingungen der Zeit. Ohne je plakativ
zu werden, stellt sie dar, wie sich das Unheil über Deutschland zusammenbraut.
In der Krise einer Zeitung spiegelt sie den
Niedergang der Republik. Und ihre Figuren? Wir lieben und wir hassen sie. Keine
bleibt uns gleichgültig. Keine ist ein blosser Funktionsträger. Gabriele Tergit ist
mit diesem Berlin-Roman weit mehr gelungen als die Satire, die sie ursprünglich
im Sinn hatte. l
Berlin (hier:
Potsdamer Platz,
1920er Jahre) spielt
die Hauptrolle in
Gabriele Tergits
Grossstadtroman.
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman In seinem zweiten Roman untersucht der Frankfurter Autor Pete Smith, wie Erinnerungen auf
die Identität einwirken, und erzählt gleichzeitig eine Liebesgeschichte mit viel Lokalkolorit
ZurückindieZukunft
Pete Smith: Das Mädchen vom
Bethmannpark. Societäts-Verlag,
Frankfurt am Main 2016. 352 S., Fr. 16.90.
Von Stefana Sabin
Der Bethmannpark ist eine idyllische
Oase inmitten der Bankenstadt Frankfurt am Main: eine Grünanlage, die Napoleon und Goethe gleichermassen begeistert durchschritten. Nun ist dieser
Park zum literarischen Tatort geworden.
Denn im zweiten Roman von Pete Smith
wird ebendort eine Frau bewusstlos aufgefunden. Notarzt und Polizei gehen von
einem Raubüberfall aus, denn die Frau
hat keine Papiere und kein Geld bei sich,
und obwohl ihre Kopfverletzung nicht
schwer ist, kann sie sich an nichts erinnern – nicht einmal daran, wie sie heisst,
wer sie ist und woher sie kommt. Und
niemand vermisst sie.
Die Frau ist jung und schön, aber zugleich gedächtnis- und also identitätslos,
vergangenheits- und zukunftslos. Wer
ohne Vergangenheit sei, dem fehle auch
die Vorstellung einer eigenen Zukunft,
überlegt der Ergotherapeut, der sich in
der Rehaklinik um Patienten mit amnestischen Störungen kümmert. Ein Ent-
wurf, selbst ein geborgter, berge immerhin die Hoffnung auf ein einheitliches
Leben. Um diese Patienten zurück in die
Zukunft zu holen, erzählt er ihnen von
Schriftstellern, Wissenschaftern, Schauspielern und bietet ihnen die geborgten
Biografien als Identifikationsmöglichkeiten an. Aber in der neuen Patientin
glaubt er eine Geliebte aus der Jugend
wiederzuerkennen und fängt an, ihr
deren Identität anzutragen.
So geht sein professionelles Engagement in persönliches Interesse über, und
er versucht nicht nur, das Erinnerungsvermögen der Patientin zu reaktivieren,
sondern auch vermeintliche gemeinsame Erinnerungen wieder aufzufrischen. Aus therapeutischen und detektivischen, nicht zuletzt aber aus romantischen Gründen führt er die junge Frau
schliesslich zum Tatort, also zum Bethmannpark, zurück.
Was wie ein Krimi anfängt und sich
zur Liebesgeschichte entwickelt, wird zu
einem psychologischen Roman, in dem
Smith die Abgründe des Gedächtnisses
absteckt und die unheimliche Verschränkung aus Erinnern und Vergessen zum
narrativen Anker macht. Smith, der 1960
in Soest geboren wurde, in Münster studiert hat und in Frankfurt lebt, hatte
schon in seinem ersten, preisgekrönten
Roman «Endspiel» das Verhältnis zwischen privater Erinnerung und kollektivem Gedächtnis zum Thema gemacht
und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse
in den Mittelpunkt der Handlung gestellt. In seinem jetzigen zweiten Roman
verzichtet Pete Smith auf einen derart
brisanten historischen Hintergrund und
greift stattdessen zu medizinischen –
neuropsychologischen – Details, um der
Handlung einen plausiblen Halt zu
geben. Er benutzt Elemente des Arztromans, um den Ernst der Handlung mit
einer komischen Tonlage zu konterkarieren, und versteht es, durch unerwartete
Wendungen Spannung zu erzeugen.
Dabei lenkt er das Geschehen als auktorialer Erzähler und wechselt geschickt
zwischen der Perspektive der jungen
Frau ohne Gedächtnis und derjenigen
des Ergotherapeuten.
Darüber hinaus ist Smith ein Meister
des Lokalkolorits und entwirft in diesem
Roman eine Topografie der Grossstadt
zwischen Einkaufsstrassen und Parkidylle. Das Lokalkolorit und die Mischung aus verschiedenen Gattungen,
auch die Figurenkonstellation und die
gekonnt gefällige Sprache sind es, die
dem Roman seinen Reiz geben. ●
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Wo wollen Sie im Alter leben? – Selbstbestimmt leben am Bodensee
Im Augustinum Meersburg gestalten Ilse und Wolfgang Biehler ihren Ruhestand aktiv
chende Landschaft, an nichts sollte es fehlen.
„Wir hatten schon hohe Ansprüche – und
in unseren Augen hat das Augustinum
Meersburg diese bestens erfüllt. Also haben
wir unsere Sachen gepackt und sind von
Bottmingen bei Basel nach Deutschland gezogen. Kein kleiner Schritt – aber einer, den
wir sofort wieder gehen würden“, erzählt
Wolfgang Biehler.
40 Jahre lang haben Ilse und Wolfgang
Biehler in der Schweiz gewohnt. Ihren Ruhestand wollten beide in einem inspirierenden
Umfeld verbringen, in dem sie selbstbestimmt und aktiv am Leben teilnehmen
und sich zugleich im Fall der Pflege bestens
versorgt wissen. Kultur, Sport, eine anspre-
Seit Sommer 2015 wohnen der promovierte
Ingenieur und die Lehrerin, die beide in
Deutschland geboren sind, in der modernen
Seniorenresidenz am nördlichen Ufer des
Bodensees. „Uns ging es gar nicht so sehr
darum, ob wir im Alter in der Schweiz oder
in Deutschland leben. Wir schätzen beide
Länder sehr,“ betont Ilse Biehler. „Nach intensiven Recherchen, auch in der Schweiz, haben
wir uns für die Vorteile des Augustinum
Meersburg entschieden.
Wir wohnen in einem Appartement, das
wir ganz nach unseren Vorstellungen eingerichtet haben. Hier haben wir unsere
Privatsphäre. Und wenn wir wollen, nehmen
wir die vielen Angebote wahr, die das Haus
bietet. Es finden hier exzellente klassische
Konzerte statt, Sportkurse, Ausflüge und
vieles mehr. Besonders haben es uns das
hauseigene Schwimmbad, die Sauna und
die angebotenen Fitness-Möglichkeiten
angetan. Hinzu kommt die sehr gute ärztliche Versorgung in der Region. Und dabei
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es uns gesundheitlich geht, wir können in
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6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
Roman Oğuz Atay (1934–1977) schrieb mit «Die Haltlosen» ein Hauptwerk der modernen türkischen
Literatur. Nach 45 Jahren ist es nun ins Deutsche übersetzt worden
OrientalischesErzählen
trifftaufwestlichesDenken
Oğuz Atay: Die Haltlosen. Aus dem
Türkischen übersetzt von Johannes
Neuner. Binooki, Berlin 2016.
762 Seiten, Fr. 42.90.
Von Janika Gelinek
Zum Glück denkt man selbst als leidenschaftliche Leserin nur selten über all die
Meisterwerke nach, die unübersetzt auf
den fünf Kontinenten ihr Dasein fristen,
ohne dass man je auch nur von ihnen gehört hätte. Doch wer nun Oğuz Atays
«Die Haltlosen» in die Hände bekommt,
hat Anlass zu der erschütternden Frage,
wie es sein kann, dass dieser Roman
45 Jahre auf seine Übersetzung warten
musste. Wie es sein kann, dass es über
diesen Autor, der fraglos zu den Grössten
seiner Zunft gehört, auf Deutsch kaum
einen mageren Wikipedia-Eintrag und
nur eine jahrzehntealte Dissertation gibt.
Denn es handelt sich schliesslich nicht
um irgendwen: Mit seinem Erstlingswerk gilt der 1934 in Inebolu an der
Schwarzmeerküste geborene und bereits
1977 verstorbene Oğuz Atay vielmehr
als Begründer der literarischen Moderne
in der Türkei.
Wie so oft, wenn man es mit einem
literarischen Meisterwerk zu tun hat,
fällt es schwer, den Plot nachzuerzählen,
da es darum zwar auch, aber eben nur am
Rande geht: Nach dem unerklärlichen
Selbstmord seines Jugendfreundes Selim
Işık macht sich der Familienvater und
Bauingenieur Turgut Özben daran, das
Leben Selims mit Hilfe von Freunden zu
rekonstruieren. Viele Porträts entstehen
so von Selim, der als «Haltloser» charakterisiert wird, als Angehöriger jener Spezies also, die ihren Platz im Leben, auf
dem Schulhof, in der Liebe, in der Kunst
und auf der Karriereleiter nicht kennen
und erst recht nicht den Erwartungen gemäss ausfüllen wollen.
Die Suche nach
dem Wesen eines
verlorenen Menschen
gleicht in Oğuz
Atays Roman einer
uferlosen Reise (Fähre
in Istanbul, 1970er
Jahre).
ein anderes Leben niemals in all seinen
Facetten begreifen kann, selbst wenn
man alle daran Beteiligten befragt und
alle Tagebücher, Zettelchen, Vorlesungsmitschriften und Briefe dieses Lebens
liest – ja, nicht einmal dann, wenn man,
wie Turgut, der Recherche das eigene
Leben widmet.
Und noch weitere Merkmale literarischer Grosskaliber weist dieser Roman
auf: Dass man nach einmal unterbrochener Lektüre Mühe hat, wieder einzusteigen, weil man sich erst neu orientieren
muss in der grandiosen Architektur des
Textes. Dass man unentwegt und seitenlang zitieren möchte, aber nicht kann, da
die tiefsinnigsten und lustigsten Sätze so
sehr in ihren jeweiligen Kontext eingelassen sind, dass sie sich jeder wirkungsbedachten Deklamation verschliessen.
Und immer bleibt jene Differenz spürbar,
mit der grosse Literatur sich auch schlichter Nacherzählung verweigert und nicht
zuletzt dadurch ihre existenzielle Dimension offenbart.
Auch der Übersetzung gebührt ein Superlativ, und es ist völlig unverständlich,
warum Johannes Neuner nur winzig
klein über dem Impressum erwähnt
wird. Von osmanischer Rhetorik bis zum
gereimten Langgedicht, von protokollarischer Amtssprache bis zum beschwipsten Bordellgespräch, von Standarddialogen ehelicher Tristesse bis zu
studentischem Gequatsche, von seitenlangen punkt- und kommalosen Monologen bis zu enzyklopädischen Einträgen
scheint es nichts zu geben, für das er
keine Lösung fände. Kein Wunder also,
dass dieser hochkomplexe Roman ohne
Worterklärungen auskommt, ohne Voroder Nachwort, denn Joannes Neuners
Übersetzung ist so klar und flüssig, ist
eine solche Lust zu lesen, dass man leicht
auf zusätzliche Informationen verzichtet. Natürlich gibt es innerhalb des Romans Hinweise und Insiderinformationen, die nur versteht, wer sich in der Türkei auskennt. Kenntnisse in türkischer
Geschichte, Geografie und Literatur
könnten, wie immer, auch nicht schaden
– aber der ekstatischen Freude an der
Lektüre tut das keinen Abbruch.
Herrlich übergeschnappt
Und wer sich wirklich nicht an die
762 Seiten traut, nimmt eben den Erzählungsband «Warten auf die Angst»
zur Hand, gleichfalls beim bravourösen
kleinen Binooki-Verlag erschienen, der
zeigt, was dieser Autor kann. Aber am
besten liest man beide Bücher. Denn wer
wissen will, wozu Literatur in ihren herrlichsten, hellsichtigsten und übergeschnapptesten Momenten in der Lage
ist, wer wissen will, wie schmerzlich
genau und spielerisch zugleich sich
menschliches Dasein in Sprache fassen
lässt, wer neugierig ist, wie produktiv
sich orientalisches Erzählen mit okzidentaler Bildung vermischen kann, wer
sich hinreissen lassen will von der überragenden Brillanz, mit der in diesem
Roman assoziiert, reflektiert und fabuliert wird, kurz, wer wirklich wissen will,
wo der Hammer hängt – nämlich sehr,
sehr weit oben –, der greife zu Oğuz Atays
«Die Haltlosen». ●
Nun ist der sensible Taugenichts in der
Literatur der Moderne keine unbekannte
Figur, doch Atay vollbringt das Kunststück, der Haltlosigkeit tatsächlich eine
literarische Form zu geben. «All the
world’s a stage», scheint es mit Shakespeare durch den in jeder Hinsicht spielerischen Roman zu wispern – «and one
man in his time plays many parts.» In
Turguts von Trauer, Selbstzweifeln und
inniger Freundschaft getriebener Suche
zeigt sich nämlich nicht zuletzt, wie unerschöpflich ein Mensch selbst für seine
nächsten Freunde ist. Wie viele Versionen, Gesichter, Erinnerungen eines
jeden von uns in der Erinnerung eines
anderen aufgehoben sind. Vom Verlust
handelt der Roman und davon, dass man
WINFIELD PARKS / NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY
Jeder hat viele Gesichter
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Der junge pakistanische Autor Bilal Tanweer beschreibt in seinem Erstling den harten Alltag
in seiner Heimatstadt Karachi
JedeBusfahrtbedeutetGefahr
Bilal Tanweer: Die Welt hört nicht auf.
Aus dem Englischen von Henning
Ahrens. Carl Hanser, München 2016.
192 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 19.–.
Von Simone von Büren
Einer der kindlichen Ich-Erzähler in Bilal
Tanweers Debütroman «Die Welt hört
nicht auf» malt in Gedanken auf einer
«inneren Schultafel» Bilder und bringt
sie zum Strahlen, indem er die Kreide mit
Wasser benetzt. Diese glänzenden inneren Szenarien treffen auf den harten Alltag in Karachi, durch das der 33-jährige
pakistanische Autor seine allesamt
männlichen Ich-Erzähler in ausgeliehenen Autos und überfüllten Bussen fahren lässt. Das Verhältnis zwischen Vorstellung und Realität, Leben und Literatur ist ein zentrales Thema in diesem
schlanken Erstling, den der Autor nicht
in seiner Muttersprache Urdu, sondern
auf Englisch geschrieben hat.
Er solle sich nie gegen Räuber wehren,
rät einer von vielen Vätern einem von
vielen Söhnen in diesem Buch, nachdem
ihr Bus überfallen worden ist. Derselbe
Vater schreibt Geschichten «von mutigen
Menschen, die gegen Bösewichte kämpften», Geschichten, in denen alles sauber
Palästina Der Geschichte auf der Spur
Wenn wir ans Westjordanland denken, haben wir schnell
Bilder von Flüchtlingslagern, Check-Points und Bombardierungen mit vielen Toten im Kopf. Doch wie sieht das
Land aus, das im Arabischen «Maschrek», «Land der aufgehenden Sonne», genannt wird und das Territorium
östlich des Nils beschreibt? Zeigt es nicht viel mehr als
die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen
Israeli und Palästinensern? Der italienische Fotograf Federico Busonero unternahm 2008 und 2009 im Auftrag
der UNESCO drei Reisen durch das besetzte Westjordanland und hielt mit einer Analogkamera Orte und Land8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
schaften fest, die in der Tagesberichterstattung kaum
Erwähnung finden: Er zeigt uralte Olivenhaine wie denjenigen, vor dem ein Pendler wartet, ärmliche Wohnsiedlungen, Schafe, die sich in einen kargen Abhang
schmiegen, und die Überreste vergangener Kulturen.
Empathisch, elegisch und doch nüchtern macht er auf
die Spuren aufmerksam, welche Imperien hinterlassen
haben. Der aktuelle Konflikt setzt eine lange Reihe von
Auseinandersetzungen fort. Gerhard Mack
Federico Busonero: The Land That Remains. Hatje Cantz,
Ostfildern 2016. 171 Seiten, 79 Abb., Fr. 55.90.
verknüpft ist und gute Gründe hat. Er ist
eine von sechs Figuren, die verschiedene
Formen und Funktionen von Literatur
repräsentieren. Der beste Freund des Vaters, ein alter Kommunist, der die Islamisierung Pakistans bedauert, sucht in seinen Gedichten «nach einer Sprache für
seine Verletzungen». Dessen Sohn will in
seiner Autobiografie alles Poetische vermeiden. Ein alter Mann notiert die Geschichten der Menschen, die ihm in der
Stadt begegnen. Ein Mädchen erzählt
seinem Bruder Märchen, die mit immer
schwerer lösbaren Problemen enden.
Und der kindliche Erzähler des Raubüberfalls, der uns als Schulschwänzer
und später als Redakteur wieder begegnet, kommt zum Schluss, dass nur Fragmente «die Dinge abbildeten, wie ich sie
wahrgenommen hatte».
Letzteres scheint auch Tanweers Haltung zu sein, will er doch dem Leser «all
jene Splitter und Späne der Zersprengung» vorführen, die er in seiner Heimatstadt gesammelt hat. Sein episodischer
Roman ist eine Aneinanderreihung kurzer Ausschnitte aus dem gefährdeten Alltag von Figuren, die – wie viele von Karachis Strassen – keine Namen haben: Ein
Mann bleibt mit seiner Geliebten auf der
Fahrt ans Meer im Verkehr stecken; ein
anderer wird nicht einmal im Angesicht
des Todes die Wut auf seinen Vater los;
ein dritter sucht nach mysteriösen glatzköpfigen Männern, die den Müll durchwühlen; und ein Junge begräbt ein totes
Küken in einem Blumentopf.
Die einzelnen Episoden werden dann
aber in sich linear erzählt und ordentlich
miteinander verbunden durch eine Bombenexplosion, Busfahrten, rote CocaCola-Mützen und Krähen, die aussehen
«wie geflügelter Müll». Ausserdem wird
uns in kurzen Prosagedichten genau gesagt, welche Metaphern wichtig sind und
wie wir sie zu lesen haben.
Tanweer, der an der Columbia University in New York Creative Writing studiert hat, kennt sein Handwerk. Das beweist seine Verwendung verschiedener
Erzählperspektiven, literarischer Topoi
und Stilmittel, vom Märchen über Gedichte und die psychologische Autobiografie bis zum magischen Realismus
eines Salman Rushdie. Allerdings scheint
er zwischendurch – wie sein kindlicher
Ich-Erzähler – seine «Worte nicht unter
Kontrolle» zu haben, weshalb sprachlich
und stilistisch manches holperig ist. Und
wie die Söhne in seinem Roman ist er
noch damit beschäftigt, sein eigenes literarisches Selbstverständnis zu definieren. Deshalb ist «Die Welt hört nicht auf»
nicht nur ein Roman über das heutige
Pakistan, sondern vor allem einer über
das Schreiben – im Speziellen über die
Frage, ob man schreibt, um der Welt zu
entfliehen oder um sich einen Zugang zu
ihr zu erschaffen. Diese Frage wird besonders brisant in einer von Gewalt versehrten, sich selbst fremd gewordenen
und zutiefst verunsicherten Heimatstadt, in der am besten überlebt, wer sich
abschottet und verhärtet. ●
Roman Die Zürcherin Ursula Hasler legt ein staunenswertes Debüt vor, das für viel Verwirrung sorgt
Voneinem,derdasGedächtnis
verliertundseinLebenfindet
Ursula Hasler: Blindgänger. Limmat, Zürich
2016. 358 S., Fr. 39.90, E-Book 27.90.
Der Mann, der nicht Marty sein will, erinnert zunächst unwillkürlich an jenen anderen, der nicht Stiller sein wollte. Auch
diesen hielt die Umgebung ja unbeirrt für
den, der er nicht (mehr) sein wollte, auch
da spielte der Frust über die Karriere und
das Zerbröseln der Ehe eine Rolle, und
ein Satz wie «Er kommt aus einem Land,
da sind immer alle unschuldig» könnte
ebenso gut von Frisch stammen. Aber
Ursula Haslers Roman über einen Mittfünfziger, der sich nach fünf albtraumhaften Monaten als «ins Leben geworfenen und nicht gezündeten Blindgänger»
sieht, bewegt sich in eine völlig andere,
ganz und gar nicht epigonale Richtung.
Die Geschichte spielt 2003. Jean-Pierre
Marty, ein Schweizer Französischlehrer,
ist eben aus Royan an der Atlantikküste
heimgekehrt – er hat da einen Kurs besucht und sich Klarheit über seine kriselnde Ehe und seinen ungeliebten Beruf
verschaffen wollen –, als er nach einem
Sturz das Gedächtnis verliert und nicht
mehr weiss, wer er ist. Um ihn zu heilen,
lässt Psychiater Klarer, der Hauptberichterstatter des auf viele Stimmen verteilten Romans, Marty die im Laptop gespeicherten Aufzeichnungen aus Royan
nicht nur neu schreiben, sondern ganz
bewusst neu erfinden: «Übernimm die
Rolle des Autors in der Geschichte, nicht
die des Schauspielers.»
Romanze mit Hindernis
In Royan, erfährt man aus den Texten,
hat Marty vor allem nach seiner Herkunft
geforscht, war er doch 1945 von einer
Schweizer Familie als französischer
Kriegswaise adoptiert worden. Hauptlieferantin von Fakten aus der Kriegszeit
wird die Kursleiterin Françoise, mit der
ihn schon bald eine späte, befreiende
Liebesgeschichte verbindet und die ihm
Kapitel für Kapitel ihre eigene Familiengeschichte zum Lesen gibt. Das etwas
sperrig in die Romanze eingebaute, 80
Seiten umfassende Insert scheint die
Ökonomie des Romans zu stören, bis
man erkennt, dass die brillant recherchierte Geschichte der deutschen Besatzungszeit in einem überraschenden
Bezug zu Martys Herkunft steht. Françoises Mutter Marie-Jeanne hat Gaston,
dem stark an Lucien Lacombe aus Louis
Malles Film von 1974 erinnernden Kollaborateur, eine sich am Ende bitter rächende Abfuhr erteilt und betrügt ihren
in deutscher Gefangenschaft befindlichen Mann mit einem Besatzungsoffizier. Als sie nach der Befreiung öffentlich
gedemütigt und von Gaston ertränkt
wird, ist sie von dem Deutschen in Er-
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Von Charles Linsmayer
Als er nach einem
Sturz aufwacht, weiss
Jean-Pierre Marty
nicht mehr, wer er ist.
Oder spielt er alles
nur? Ursula Haslers
Roman bietet Raum
für verschiedenste
Deutungen.
wartung, und selbst Françoise erfährt
erst 2003, dass ihre Mutter damals wunderbarerweise gerettet wurde und einem
Bruder das Leben schenkte, der als «Kind
der Schande» zur Adoption in die
Schweiz freigegeben wurde.
Françoise und Jean-Pierre, denen die
geschilderten Umstände erst bekannt
werden, als ihnen am Schluss des Romans der Brief einer verstorbenen Ärztin
zugespielt wird, sind demnach Halbgeschwister. Der Ausweg an den «Sehnsuchtsort Royan», den er ins Auge gefasst
hat, ist versperrt, und dem «Blindgänger» Marty bleibt nur die Weiterexistenz
in einem ungeliebten Beruf und an der
Seite einer ungeliebten Frau.
Virtuoses Vexierspiel
Sofern man denn alles für bare Münze
nimmt, was in dem nachträglich erfundenen Bericht über den Aufenthalt in
Royan steht. Und sofern man einer Autorin auf den Leim geht, die ein aus vielerlei Facetten und Ingredienzen komponiertes virtuoses Vexierspiel mit der Leserschaft treibt. Obwohl als literarisches
Debüt angekündigt, hat das Buch bis auf
ein paar harzig laufende Übergänge nämlich keineswegs die Schwächen eines
Erstlings, sondern profitiert unverkennbar vom Know-how der 1940 geborenen
Verfasserin als Germanistin, Psychologin, Historikerin und exzellenter Frankreich-Kennerin.
Zwischen den Extremen, dass Marty
wirklich sein Gedächtnis verloren hat
bzw. dass er alles nur spielt, gibt es jede
Menge Deutungsvarianten in diesem
Text, den sein fiktiver Verfasser ja auf
ärztliche Anordnung hin bewusst erfindet. So könnte die Liebesgeschichte mit
Françoise, auch wenn es sie tatsächlich
gab und sogar von einer Begegnung der
Kursleiterin mit Martys Frau die Rede ist,
ebenso eine Erfindung sein wie deren
wundersame Familiengeschichte, mit
der sich der frustrierte Schweizer Gymnasiallehrer eine abenteuerliche Herkunft zusammenphantasiert. «Nur einer,
der fremd ist, sieht die Dinge», heisst es
einmal, «nur einer, der selbst fremd wird,
sieht sich wieder.» Und am Ende schreibt
Marty – aus Frankreich! – dem Psychiater,
jede Wahrheit sei imstande, noch eine
andere zu verbergen. Nur durch Erfindungen rette man die Wahrheit. Also benötige er die Lizenz zum Lügen nicht
mehr, womit er sie hiermit dankend zurückgebe. Die Amnesie halte ihn am
Leben. «Royan, mon amour. Es geht mir
gut. Wir schreiben weiter.»
Wie immer man das virtuose Geflecht
aus Erfindung, Lüge und Wahrheit deuten mag, das Ursula Hasler in dieser
Geschichte eines am Leben scheinbar
Gescheiterten vorlegt: mit der psychiatrisch verordneten Erfindung seines eigenen Lebens und Schicksals hat Marty
sich selbst aus dem ungeliebten Schuldienst befreit und ist zum Erzähler geworden, zum Verfasser eines Romans,
bei dem einem vor lauter Staunen und
unerwarteten Wendungen Hören und
Sehen vergeht und mit dem für einmal
das Wunder des späten Debüts einer Autorin Wirklichkeit geworden ist, die
gleich schon vor einem steht, als sei das
vorgelegte Buch der Höhepunkt einer
langen Reihe. ●
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Erzählungen Der norwegische Dramatiker Jon Fosse legt eine Prosa-Trilogie von archaischer Wucht
und Schönheit vor. Sie handelt von roher Gewalt genauso wie von zärtlicher Liebe
BaldMörder,baldMusikant
Jon Fosse: Trilogie. Schlaflos. Olavs
Träume. Abendmattigkeit.
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel.
Rowohlt, Reinbek 2016. 208 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 19.–.
Von dem norwegischen Theaterautor
und Erzähler Jon Fosse (*1959) erschien
2008 auf Deutsch die Erzählung «Schlaflos». Zwei 17-Jährige, Asle und Alida, gelangen darin mit einem Boot in die Stadt
Bjørgvin (Bergen). Alida ist hochschwanger. Erschöpft suchen die beiden eine
Unterkunft, überall werden sie abgewiesen. In einem Häuschen, das sich Asle
mit Gewalt erobert, bringt Alida einen
Sohn zur Welt. – Viele Rezensenten wiesen auf die biblischen Anklänge hin,
waren beeindruckt davon, wie ruhig und
sanft Jon Fosse diese Geschichte erzählt
hatte. Nur wenige erkannten, dass es
in der Erzählung einen gewalttätigen
Subtext gibt.
Nun erscheint, in der beeindruckend
schönen Übersetzung von Hinrich
Schmidt-Henkel, das Buch «Trilogie».
Drei Erzählungen, nämlich «Schlaflos»,
«Olavs Träume» und «Abendmattigkeit»,
bilden darin gemeinsam eine Art von
Roman über Asle und Alida. In der zweiten Erzählung geht Asle, der sich aus
Vorsicht nun Olav nennt, aus einem Dorf
nach Bjørgvin, um für sich und Alida,
die ihrerseits nun Åsta heissen soll, Ringe
zu kaufen. Ein alter Mann, der sich später
als Henker erweist, lässt ihn verhaften.
Asle soll, um mit Alida nach Bjørgvin
und dort in das kleine Haus zu gelangen,
drei Menschen getötet haben. Ohne
Prozess wird Asle-Olav hingerichtet.
In der dritten Erzählung denkt Alidas
Tochter Alise, alt geworden, über das
Leben ihrer Mutter nach, um dann, wie
zuvor schon Alida, ins Meer und in den
Tod zu gehen.
Land der Nässe und Kälte
Die drei Erzählungen handeln von Leben,
Lieben, Gebären, Töten und Sterben,
und sie sind fast nie traurig und schon
gar nicht dramatisch. Jon Fosse, der den
Quäkern beitrat und sich nun zum Katholizismus bekennt, zeigt uns zwei liebende Menschen in der Gnade des
Schwebens.
Asle, der Totschläger, ist Spielmann
mit einer Fiedel. «…und er fiedelt und
spielt und wird nicht nachlassen, […],
und dann schwebt das Spiel, ja, ja, ja es
schwebt ja, und jetzt braucht er nicht
mehr draufloszufiedeln, jetzt schwebt
das Spiel ja ganz von selbst auf und
davon und spielt seine eigene Welt und
alle, die Ohren haben, die können es
hören…» Auch die Liebe ist ein Schweben, «und sie spüren, dass sie nun zusammen schweben und zusammen sind
im Schweben, und Asle spürt in sich,
dass Alida ihm viel mehr wert ist als er
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
PHOTO: AXEL LINDAHL/NORWEGIAN MUSEUM OF CULTURAL HISTORY)
Von Jürg Scheuzger
Jon Fosses «Trilogie»
ist in einem
«ausserhistorischen»
Norwegen
angesiedelt.
Hier: Haferernte in
Jølster um 1890.
selbst und dass er ihr alles Gute will, was
es auf Erden gibt.» Als Asle gehängt wird,
schwebt er über den Fjord hinaus, und
als Alida ins Wasser geht, ist Asle mit seiner Musik um sie.
Die drei Erzählungen spielen in einem
ausserhistorischen Norwegen vor der Industrialisierung, einem Land mit vielen
harten, mitleidlosen Menschen, einem
Land der Nässe, der Kälte und des Hungers. Asle und Alida sind dem Treiben
der Menschen nicht gewachsen – deshalb
wohl wird Asle zum Totschläger –, aber
sie sind nie im herkömmlichen Sinne unglücklich, denn sie leben nicht nur in
einer Zeit. Alles geschieht gleichzeitig,
das düsterste Elend und die schönste
Liebeserfahrung, das Leben und das
Sterben. Die Toten sind für die Lebenden
anwesend, sie sprechen, sie mischen sich
ein. Deshalb lebt Alida später mit dem
fürsorglichen Fischer Åsleik zusammen;
Asle hat diese Verbindung gesegnet.
Wörter als Taktgeber
Fosses Schreiben ist nicht psychologisch.
Das kann dem Leser Probleme bereiten:
Wie kann dieser junge Bursche Asle so
lieb sein, so zärtlich, so sanft, ein so grosser Künstler, und gleichzeitig ein dreifacher Totschläger? Jedenfalls quält ihn
selbst kein schlechtes Gewissen. Und
Alida erschrickt nicht vor der Erkenntnis,
was ihr toter Geliebter getan hat. Beide
lassen sich von einer Schicksalsmacht
treiben, ohne zu fragen, ohne zu zweifeln, und letztlich ist alles gut.
Lesend kann man sich selbst treiben
lassen, kann versuchen, auch zu schwe-
ben. Man soll sich Jon Fosses Sprache anvertrauen: «… und dann bleibt Ǻsleik stehen und sieht sie an und macht eine
Kopfbewegung in eine andere Gasse und
dann geht er in die Gasse hinein und
Alida geht ihm nach und vor der Brust
hält sie den kleinen Sigvald und der
schläft den süssesten und sichersten
Schlaf und dann öffnet Åsleik eine Tür
und hält sie ihr auf und sie geht hindurch
und sieht sich um und dann bemerkt sie
den Duft von Räucherfleisch und ausgelassenem Speck und es duftet so gut…»
Diese parataktische Sprache mit dem
Wörtchen «und» als Taktgeber ist das Ereignis von «Trilogie».
Jon Fosse hat vor einiger Zeit angekündigt, keine Theaterstücke mehr
schreiben zu wollen. Die zahlreichen
Dialoge in den drei Erzählungen erinnern
aber an den Dramatiker, sie bilden ein
hartes Gegenstück zu den schwebenden
Erzählstücken, vor allem in der düsteren
Erzählung von Olavs Gang durch die
Stadt. Diese Dialoge sind nicht immer
zwingend interessant; beispielsweise ist
der Dialog zwischen einer blonden Dirne
und ihrer schmierigen Mutter recht öde.
Wenn aber Olav dazu verführt wird, eine
Kette zu kaufen, und niemand weiss, ob
der Jüngling blossen Ramsch für sein
letztes Geld erwirbt – für Alida –, oder ob
er einmal in seinem Leben wahrhaft
Schönes sehen darf, dann ist das von
reinster schwebender Ambivalenz.
Vielleicht ist das alles ein bisschen zu
viel, zu viel des Schwebens, zu viele
«und», zu viel parzivalische Ahnungslosigkeit. Aber es ist schön. ●
Lyrik Joachim Sartorius setzt die
Schönheit der Sprache gegen die
Vergeblichkeit der Existenz
«Fern immer
wollte ich sein»
Kurzkritiken Belletristik
Rebecca West: Die Rückkehr. Deutsch von
Britta Mümmler. dtv, 2016. 160 Seiten,
Fr. 23.90, E-Book 15.90.
Walter Mehring: Sturm und Dada. Gedichte,
Erinnerungen und Essays. Hrsg. von M.
Dreyfus. Elster, 2016. 200 S., Fr. 35.90.
Die britische Autorin Rebecca West
(1892–1983) war eine engagierte Journalistin und Erzählerin. Sie arbeitete für die
führenden amerikanischen und britischen Magazine ihrer Zeit. Für den «New
Yorker» berichtete sie 1946 von den
Nürnberger Prozessen. Zehn Jahre war
sie mit H. G. Wells liiert, mit dem sie
einen Sohn hatte. Hier liegt nun ihr Romandebüt von 1918 erstmals in deutscher Sprache vor. «Die Rückkehr» erzählt von einem britischen Soldaten, der
traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg
in Frankreich zurückkommt. Er hat einen
Teil seines Gedächtnisses verloren und
glaubt, wieder zwanzig Jahre alt zu sein.
Seine Ehefrau, seine Cousine und eine
Jugendliebe versuchen, ihn in die Gegenwart zurückzuholen. Das bewegende
kleine Buch gilt als der einzige zeitgenössische Roman, in dem eine Frau von den
Schrecken des Ersten Weltkriegs berichtet. Nicht nur deshalb ist es lesenswert.
Gundula Ludwig
Der deutsch-jüdische Schriftsteller Walter Mehring (1896–1981) zählte zu den bedeutendsten Satirikern und Essayisten
der Weimarer Republik. Die Nazis trieben ihn ins Exil, erst nach Frankreich,
dann in die USA. Seine späten Jahre verbrachte Mehring in Zürich, wo er auch
begraben liegt. Der tapfere kleine Zürcher Elster-Verlag hat – stets in kundigen
Editionen von Martin Dreyfus – bereits
Mehrings Werke «Die verlorene Bibliothek» und «Dass diese Zeit uns wieder
singen lehre» herausgebracht. Nun folgt
eine Sammlung von Mehrings Schriften
aus dem Umfeld des Dadaismus. Sie umfasst einerseits Gedichte, die dem Dadaismus zuzurechnen sind (Mehring war
einer der Mitbegründer des Berliner
Zweigs der Bewegung), andererseits Essays und Erinnerungen, die den Dadaismus kritisch reflektieren. Mehring erweist sich hier einmal mehr als pointierter Stilist und unbestechlicher Zeitzeuge.
Manfred Papst
Iren Baumann: An einem dieser Abende.
Waldgut, 2016. 60 Seiten, Fr. 24.90.
Hugo Loetscher: Das Entdecken erfinden.
Unterwegs in meinem Brasilien.
Diogenes, 2016. 384 S., Fr. 33.90.
Plötzlich ist da das dumpfe Gefühl, es
stünde jemand in der Küche. Ein Bekannter, ein Beamter? Und was will er?
Eine Adresse, einen Teller Suppe? Hat er
ein Messer in der Hand? – Solche kleinen
Geschichten erzählt die Zürcher Lyrikerin Iren Baumann, die 1939 in England
zur Welt kam, in ihren Gedichten. Sie
sind in diesem Band ungereimt und bedienen sich einer unprätentiösen Sprache. Gleichwohl verdichten sie den Alltag auf ganz ungewöhnliche Weise. Sie
bringen die Elefanten im Zoo sowie den
Reiher auf dem Giebel ins Gedicht, aber
auch das Kabel fürs Ladegerät und Reisende mit Rollkoffern. Unverwandt betrachtet Baumann ihre teils vertraute,
teils fremde Welt, aufmerksam, doch
ohne Gefühligkeit. Gerade das Herbe
macht die Schönheit ihrer Verse aus. Ein
Überhang an Gesinnung ist nicht zu befürchten. Diese Lyrik ruht in sich selbst.
Manfred Papst
Bald wird wieder alle Welt von Brasilien
reden, weil sich dort die Athleten messen. Weil er das Leben dort liebte, hat
Hugo Loetscher schon vor 50 Jahren über
Brasilien geschrieben: Seit 1965 hat er
das Land immer wieder bereist und seine
Eindrücke zu literarischen Reportagen
verarbeitet, die in der «Weltwoche», im
«Magazin» oder in der «NZZ» erschienen.
Gut 20 dieser Texte sind nun in einem
Band greifbar und laden die Leser ein zu
Schifffahrten auf dem Amazonas, Besuchen bei Mystikern oder Auseinandersetzungen mit der Rassenfrage – Loetscher
liebt Brasilien, lässt die rosa Brille aber
zusehends im Koffer. Präzise beschreibt
er, wie sich Land und Leute im Zeichen
des Fortschritts verändern, verliert dabei
nie das literarische Schweben und weckt
so beim Leser «saudade», eine leise Wehmut – nur schon über das Aussterben dieser wunderbaren Literaturgattung.
Joachim Sartorius: Für nichts und wieder
alles. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2016. 91 Seiten, Fr. 21.90.
MATTHIAS BOTHOR / PHOTOSELECTION
Von Angelika Overath
Was macht ein gutes Gedicht aus? Vielleicht wenn es mit Charme fremd bleibt,
irritierend, wenn es einen unverstanden
ergreift und mitnimmt wie eine uralte
Stadt (am Meer, am Dnjepr, in der Wüste)
oder wie eine Geliebte (mit ihrer «Haut
weisser als Ricotta / und fest wie eine unreife Traube»). Wenn es also verführt.
Zum 70. Geburtstag hat Joachim Sartorius (promovierter Jurist, Generalsekretär des Goethe-Instituts, Intendant der
Berliner Festspiele, und: Dichter) neue
Lyrik vorgelegt. «Für nichts und wieder
alles» ist ein Zurückschauen auf gelebte
Tage – allein, mit Freunden, Frauen in
den west-östlichen Sehnsuchtspassagen,
immer ein Buch in der Tasche.
Gegen das grosse Umsonst des
menschlichen Daseins setzen die Verse
das Alles der Poesie. Den Skandal der
Vergänglichkeit durchschlägt der radikale Augenblick, «denn / vom erinnerten
Leben bleibt nichts als die Frische / einzelner Sinne». Das ist viel und in nuce
eine Poetik.
Seelenarbeit ist Sprachkalkulation im
souveränen Wechsel der Töne. Da gelingt
der abendliche Moment an der Pferdekoppel: «Am Zaun drei blonde und graue
Rehe. / Die Landschaft wird unergründlicher. Die Wiese wird der unruhige
Schlaf der Wiese.» Wieder anders das
surreale Aufjubeln zu einer «Opera of the
Orient», wo die arabische Königin im innersten Rot roter Zelte lebt, «Geschmeide um Hals und Leib. Im Schamhaar /
Körner, nach denen Pfauen rastlos
picken». Und Sartorius scheut nicht
(«Frühling in Aleppo») die Überblendung von fallenden Mandelblüten mit
dem blutigen Terror: «Der Kopf in die
Wolken gesprengt, / der Körper tausend
Blütenfetzen, / nicht mehr zusammenzusetzen, schwarz.»
Seine Poesie bringt das exotischste
Land (auch die Mark Brandenburg) ganz
nah und holt das Exterritoriale der eigenen Vergangenheit zurück. Mit einem
empathischen, seiner selbst nie
sicheren Ich, diesem immer
kippenden Kaleidoskop: «Bin ich
Tunesier? Der Fellache aus FortSud? Fügen die Kacheln
den Traum der afrikanischen Jahre?» Es bleibt
in diesen Gedichten
der schöne Trost osmanischer Ornamente: «Rispe,
Kelch, Speer:
Fern immer
wollte ich
sein.» ●
Claudia Mäder
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Sabine Ludwig (Text), Astrid Henn (Illu.):
Warum Kater Konrad ins Wasser sprang.
cbj, 2016. 160 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 J.).
Cybermobbing Zwei Bücher erzählen
von der vernichtenden Wirkung falscher
Gerüchte in den Social Media
Jenny Valentine: Durchs Feuer.
Aus dem Englischen von Klaus Fritz.
dtv, 2016. 260 Seiten, Fr. 21.90 (ab 14 J.).
Am medialen
Pranger
Jennifer Mathieu: Die Wahrheit über Amy.
dtv, München 2016. 239 Seiten, Fr. 14.90,
E-Book 8.80 (ab 14 Jahren).
Johanna Nilsson: Hass gefällt mir.
Beltz & Gelberg, Weinheim 2016. 169 S.,
Fr. 18.90, E-Book 13.90 (ab 14 Jahren).
Wie Mäuseohren beim Hineinbeissen so
schön «knurpseln»! Katerjunge Konrad
verspeist die Nager gerne – nur tot müssen sie sein. Die Maus auf seinem Pausenbrot jedoch erweist sich als höchst
lebendig. Marie Antoinette heisst sie und
hängt fortan wie eine Klette an ihm. Aus
Versehen geraten die beiden unter die
Hunde und Konrad macht die Entdeckung, dass diese keineswegs Beisser
und Schüttler sind, wie man ihm beigebracht hat. Das Abenteuer verhilft dem
Kater zu einem neuen Selbstbild. Endlich kann er seiner überbesorgten Mutter
und gemeinen Schulkameraden Paroli
bieten. Konrads Wandlung wird aberwitzig erzählt und ist grandios illustriert.
Aber die meisten Lacher erntet wohl die
kecke Mäusedame, die sich von Unfreundlichkeiten und Gefahren unbeeindruckt zeigt.
Eigenbrötlerische Figuren mit unglücklichen Familiengeschichten sind die Spezialität der britischen Autorin Jenny Valentine. Hier ist die jugendliche Hauptfigur eine Pyromanin: Immer wenn Iris
wütend und verzweifelt ist, macht sie ein
Feuer, und das wird rasch gefährlich. Sie
lebt bei ihrer Mutter, und die beiden können sich nicht ausstehen. Trotzdem
glaubt Iris, der Vater habe sie im Stich gelassen, als sie vierjährig war. Als die Mutter ein Treffen arrangiert, um das Erbe
zu sichern, ist Iris skeptisch. Doch der
schwerkranke Vater nutzt die kurze Zeit,
um seiner Tochter die Wahrheit zu erzählen. Langsam kommen sie sich näher.
Manche Figuren, wie die kaltherzige und
berechnende Mutter sind stark überzeichnet, aber auch in diesem packenden
Roman erzählt Valentine Tragisches mit
Witz und Ironie.
Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und
ein Teehaus. Peter Hammer, 2016.
148 Seiten, Fr. 20.90 (ab 12 Jahren).
Lorenz Pauli (Text), Kathrin Schärer (Bild):
Rigo und Rosa. Atlantis, 2016. 128 Seiten,
Fr. 26.80 (Vorlesen ab 6 Jahren).
Kein anderes Thema hat das (Bücher-)
Frühjahr so bestimmt wie die Migration.
Auch Mehrnousch Zaeri-Esfahani erzählt
von ihrer Flucht aus dem Iran, vor Krieg
und Bomben. Bereits im Prolog macht
die Autorin eine weitreichende Aussage:
Nichts anderes hat neben dem eigenen
Überleben Platz, nicht einmal eine Jahrhundertkatastrophe. «So verpassten wir
Tschernobyl», heisst es lapidar. Genau
dieses Beiseite-Sprechen wird zur literarischen Antwort auf erlittene Wirklichkeit. Angst, babylonische (Sprach-)Verwirrung, Verlorenheit, der Neuanfang
in Deutschland sind konsequent aus
Kindersicht für Kinder aufgezeichnet,
bis die individuellen Erfahrungen der
Familie zu einem universalen Stück
Menschheitsgeschichte werden: Zeugnis
und Parabel zugleich. Ein herausragender Roman, der bleibt.
Leopard Rigo ist alt und wohnt im Zoo.
Maus Rosa dagegen ist jung und frei.
Obwohl Nager auf dem Speiseplan der
Grosskatzen stehen, bittet Rosa Rigo, ihr
Beschützer zu werden. Von so viel Naivität überrumpelt, willigt dieser ein und
eine Freundschaft beginnt, die das Leben
beider Tiere bereichert. Wieder einmal
hat sich die Zusammenarbeit von Lorenz
Pauli und Kathrin Schärer zu einem kleinen Wunder gefügt. Die Illustratorin
charakterisiert die Mimik des manchmal
griesgrämigen Rigo genial mit abertausend Fellhaarstrichen, und die liebenswürdige Rosa tobt so munter über die
Seiten, dass es ein Fest ist. Für die Figur
des Rigo liess Pauli sich von einem Leopard inspirieren, der bis 2010 im Berner
Tierpark lebte. Die Zwiegespräche bringen Kinder zum Lachen und stiften sie zu
eigenen Gedankenflügen an.
Verena Hoenig
Christine Knödler
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
Andrea Lüthi
Verena Hoenig
Von Daniel Ammann
Amys Ruf ist ruiniert. Seit die 15-Jährige
sich an Elaines Party hintereinander mit
zwei Jungs eingelassen hat, hört das Gerede nicht mehr auf. Ihre Schuld soll es
auch sein, dass einer der beiden jetzt tot
ist, weil er durch ihre SMS abgelenkt
wurde. Sein Kumpel Josh muss es wissen, denn er sass ebenfalls im Wagen und
hat den Unfall überlebt. Doch jetzt
rutscht Amy auf der Beliebtheitsskala rasant nach unten. Sogar ihre langjährige
Freundin Kelsie muss auf Distanz gehen,
um nicht selber in Verruf zu geraten. In
der Schlampenkabine auf dem Mädchenklo kann inzwischen jeder lesen,
was von Amy zu halten ist. Kein Wunder,
dass sich am Ende nur noch ein Nerd
wie der hochbegabte Aussenseiter Kurt
mit ihr abgibt.
Was rund um die besagte Partynacht
tatsächlich geschehen ist, was in den
Köpfen der Beteiligten vorgeht und wie
Geheimnisse durch neue Lügen vertuscht werden, enthüllt sich erst nach
und nach in den bekenntnishaften Erzählungen von Elaine, Kelsie, Josh und
Kurt. Autorin Jennifer Mathieu zieht die
Schraube langsam an und setzt einen effektvollen Schlusspunkt, wenn sie im
letzten Kapitel Amy eine Stimme gibt.
Auch die Schwedin Johanna Nilsson
lässt in einer dichten Geschichte über
sexuelle Nötigung, Cybermobbing und
überforderte Eltern ihre jugendlichen
Protagonisten selbst zu Wort kommen.
Da ist in erster Linie die unscheinbare
Jonna mit ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ihre hübsche Freundin Gloria, die nach einem Übergriff und öffentlicher Blossstellung erbarmungslos zurückschlägt, und schliesslich der Peiniger Robin, der zwischen sektiererischem
Elternhaus und populärer Heldenrolle
jeglichen emotionalen Halt zu verlieren
droht. Eine eskalierende Hetzjagd im
Internet führt der ganzen Schule vor
Augen, wie schnell Anführer zu Hassobjekten, Mitläufer zu Vollstreckern und
Opfer zu Tätern werden.
Beide Romane erlauben durch mehrfache Perspektivenwechsel tiefere Einblicke in seelische Abgründe und zeigen,
was gedankenloses Mittun auf dem
Tummelplatz sozialer Medien anrichten
kann, wenn Erwachsene wegschauen
oder zu sehr mit sich beschäftigt sind. ●
Schreiben Hinsitzen und anfangen: So
einfach lassen sich Geschichten erfinden
Keine Angst
vor dem leeren Blatt
Pernilla Stalfelt: Fang einfach an! Aus dem
Schwedischen von Birgitta Kicherer.
Moritz, Frankfurt 2016. 32 Seiten,
Fr. 16.90 (ab 7 Jahren).
Katarina Kuick, Ylva Karlsson: Schreib!
Schreib! Schreib! Aus dem Schwedischen
von Gesa Kunter. Beltz & Gelberg,
Weinheim 2016. 144 S., Fr. 21.90 (ab 14 J.).
Von Andrea Lüthi
Aufsatzschreiben stösst nicht bei allen
Kindern auf Begeisterung. Zwei Sachbücher aus Schweden zeigen, dass Schreiben lustvoll sein kann, fernab von
Pflichtthemen.
«Schreib! Schreib! Schreib!» von Katarina Kuick und Ylva Karlsson ist ein Sammelsurium an Anregungen, ergänzt mit
Berichten aus der eigenen Textwerkstatt
und Interviews mit schreibenden Jugendlichen. Jeder lässt sich von anderem
inspirieren, und dem tragen die Autorinnen Rechnung. Das Buch lädt zum
Schmökern ein; es ist wild gestaltet und
ohne Ordnung und Konzept. Da gibt es
zahlreiche Ideen für Themenwahl, Erzählperspektiven oder Figurenfindung:
Die Augenzahl eines Würfels bestimmt
die Stimmung in einem Gedicht, ein
Mensch im Bus wird zur Hauptfigur einer
Geschichte – oder ein Kaninchen zum
Erzähler-Ich. Die Autorinnen erklären
zudem, was einen lustigen oder langweiligen Text ausmacht. Der unbeschwerte
Ton schafft eine persönliche Note, und
man wähnt sich unter Schreibkomplizen,
ohne dass dies anbiedernd wirkt.
«Fang einfach an!» von Pernilla Stalfelt
richtet sich an jüngere Kinder, für die es
noch kaum Bücher zum Thema gibt. Die
Autorin ist auch Illustratorin und zeigt,
wie sich Geschichten auch in Bildern
erzählen lassen. Sie erklärt, wie Comics
funktionieren oder wie man die Stimmung einer Figur verdeutlicht. Ihr eigener Stil wirkt fast naiv; sie zeichnet einfach und mit wenigen Strichen. So lässt
sich sofort erkennen, welche Details die
jeweilige Stimmung einer Figur ausmacht: Stirnrunzeln und ein Punkt als
Mund lassen eine Schnecke bekümmert
wirken, Sterne um den Kopf bedeuten,
dass ihr «kotzübel» ist. Absurd-komische
Ideen dienen als Anregungen
für eine Geschichte; sei dies ein
Mädchen, das über eine Banane
lacht oder eine Sonne, die Gitarre spielt.
Beiden Büchern ist gemeinsam,
dass sie keine Schritt-für-SchrittAnleitungen oder Regeln liefern,
sondern Mut machen, zu kritzeln,
zu erzählen und drauflos zu schreiben, ohne Angst, etwas falsch zu
machen. ●
Kurzkritiken
Bibi Dumon Tak, Fleur van der Weel: Mücke,
Maus und Maulwurf. Hanser, 2016.
88 Seiten, Fr. 18.90 (ab 8 Jahren).
Carolin Eichenlaub, Beatrice Wallis (Hrsg.):
Neu in der Fremde. Beltz & Gelberg, 2016.
208 Seiten, Fr. 23.90 (ab 14 Jahren).
Sie sind ein eingespieltes Team: die
Zeichnerin Fleur van der Weel und die
Autorin Bibi Dumon Tak. Ihr Spezialgebiet: Tiere. In ihrem neuesten Band sind
das «Mücke, Maus und Maulwurf. Die
allernormalsten Tiere der Welt.». Normal? Allernormalst? Was soll das sein?
Eine Verheissung natürlich! Und die wird
eingelöst. Denn das ist die zweite Spezialität der Künstlerinnen: ihr eigenwilliger
Blick, der immer wieder neue Ein- und
Ansichten ermöglicht, etwa auf das
Besondere im vermeintlich Bekannten.
Nicht zu vergessen die dritte Spezialität:
die sagenhaften Geschichten, die sich
von Nacktschnecke, Wanderratte und all
den anderen erzählen lassen. In stetem
Dialog mit den Lesern – «Hallo, uns wird
schlecht! Aufhören!» – entwickeln die 40
Tierporträts eine hinreissende Komik,
informieren und überraschen.
Luna ist als 14-Jährige mit ihrer Familie
aus Syrien nach Wien gekommen. Es hat
Jahre gedauert, bis sie erkannte, dass
eine neue Heimat zu finden nicht bedeutet, die alte zu verleugnen. Die 64-jährige
Friederike hingegen ist in ihrem Leben
nur einmal innerhalb Deutschlands umgezogen. Mit Flucht und Migration
bekam sie erst zu tun, als ihr Sohn ihr
einen syrischen Mitstudenten auf Wohnungssuche vorbeischickte. 19 Menschen beschreiben in diesem Band die
harsche Erfahrung, die ein kompletter
Neuanfang in unbekannter Umgebung
stets bedeutet. Diese wird nachvollziehbar, weil nicht nur Flüchtlinge zu Wort
kommen, sondern auch Eingesessene,
die sich ungewollt oder sogar mit Absicht
in der Fremde zurechtfinden mussten.
Das steigert den Mehrwert der Lektüre
über die Tagesaktualität hinaus.
Nikolaus Nützel: Dein letzter Gottesdienst?
cbj, 2016. 184 Seiten, Fr. 24.90 (ab 12 J.).
Kerstin Unseld: Man sieht auch mit den
Ohren gut. Illus. von Leonard Erlbruch.
dtv, 2016. 180 S., Fr. 18.90 (ab 10 Jahren).
Konfirmation und Firmung machen Jugendliche zu «vollwertigen Christen».
Und doch lassen sie sich nach dem Fest
so gut wie nie mehr in der Kirche blicken,
als ob die Sache mit dem Glauben jetzt
abgehakt wäre. Aber kann man diesem
christlichen Verein mit seinen rund zwei
Milliarden Mitgliedern einfach so entkommen? Nikolaus Nützel tritt in direkten Dialog mit dem Leser und stellt bohrende Fragen. Die Antworten, die er findet, sind Etappen und führen zu weiteren Überlegungen. Dabei passiert das
Unglaubliche: Der Leser steigt ein und
die gemeinsame Suche nach dem Vorher,
dem Nachher und dem Warum interessiert plötzlich brennend. Auch die Fotos
werfen durch Nützels trockene Kommentare Fragen auf. Der Autor selbst ist
mit 18 aus der evangelischen Kirche ausund 34 Jahre später wieder eingetreten.
Lehr- und Wanderjahre haben Tradition,
in «Sophies Welt» etwa wurde der Kosmos der Philosophie abgeschritten, aktuell tritt ein weiterer Erkenntnissucher
auf: Mathis liebt die Musik. Für ihn gilt in
besonderem Masse «Man sieht auch mit
den Ohren gut. Eine kleine Reise in die
Musik», denn Mathis ist blind. Mit seinem Hund Muks reist er kreuz und quer
durch Länder, Zeiten, Epochen, auf der
Suche nach der Königin der Instrumente.
Unterwegs haben Hildegard von Bingen,
Herr Stamitz, Louis Armstrong und andere mehr den beiden viel zu sagen.
Überhaupt ist das alles lehrreich, interessant und unverkennbar aus der Feder
einer leidenschaftlichen Kennerin. Und
doch geht die Absicht erst zum Schluss
auf, wenn die dort genannten Hörbeispiele ohne Worte leisten, was das ganze
Buch will: mit und für Musik begeistern.
Christine Knödler
Verena Hoenig
Sabine Sütterlin
Christine Knödler
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Hanser zählt zu den führenden Verlagshäusern Deutschlands. Seit Anfang 2014 ist Jo Lendle hier für die
Programme zuständig. Wie hat sich der nüchterne Niedersachse in München eingelebt, und wie führt er
das Erbe von Michael Krüger in die Zukunft? Interview: Manfred Papst
«Verlegerarbeiten
wieFörster.Sie
brauchenGeduld»
Bücher am Sonntag: Herr Lendle, Sie leiten jetzt
seit zweieinhalb Jahren die Geschicke der HanserVerlage; davor waren Sie erst Lektor, dann
Programmleiter und schliesslich verlegerischer
Geschäftsführer bei DuMont. Was unterscheidet
die beiden Unternehmen und die beiden
Aufgaben?
Jo Lendle: Die Häuser sind von unterschiedlicher Grösse. Das betrifft die Titel- und die Umsatzzahlen, aber fast mehr noch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Hinzukommt, dass
zu Hanser weitere Verlage gehören, Hanser Berlin, Nagel & Kimche in Zürich sowie Zsolnay und
Deuticke in Wien. Da spielt Koordination eine
gewisse Rolle.
Eilen Sie ständig zwischen den vier Städten hin
und her?
So dramatisch ist es nicht. Vieles lässt sich
schriftlich oder am Telefon erledigen, aber von
Zeit zu Zeit gehört das persönliche Gespräch
dazu. Gerade haben wir eine neue Runde von
Treffen eingeführt, in denen wir bereits ein Vierteljahr vor den berühmten Vertretersitzungen
zu jedem einzelnen Buch unsere Lektüreeindrücke austauschen und mit allen Abteilungen Pläne entwickeln. Das bedeutet zusätzliche Reisen und zusätzlichen Aufwand, aber
auf manche Ideen kommt man eben nur im Rahmen solcher Zusammenkünfte.
Verleger und Erzähler
Jo Lendle wurde 1968 in Osnabrück geboren und
wuchs in Göttingen auf. In Hildesheim und Montreal studierte er Kulturwissenschaften. 1997 war
er als Lektor bei DuMont am Aufbau des literarischen Programms beteiligt, 2006 übernahm er
die Programmleitung für den Bereich deutschsprachige Literatur und 2010 die verlegerische
Geschäftsführung. Seit Anfang 2014 ist er in der
Nachfolge von Michael Krüger Chef des Carl Hanser Verlags in München. In der Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlichte er die Romane «Die
Kosmonautin» (2008), «Mein letzter Versuch die
Welt zu retten» (2011) und «Was wir Liebe nennen» (2013). Auch als Übersetzer und Herausgeber ist er hervorgetreten. Jo Lendle lebt mit
seiner Familie in München.
Sehen Sie die die gewaltige Backlist von Hanser
eher als Kapital oder eher als Belastung?
Das ist ein Schatz. Einer, der lebendig gehalten werden will, auch wenn der Bestand der lieferbaren Bücher es zunehmend schwer hat,
Sichtbarkeit zu bewahren. Wir haben gerade in
langen Verhandlungen die Verträge einiger Gesamtwerke verlängert, etwa von Borges, da zeigt
sich, wie weit die Erwartungen der Agenten von
dem abweichen, was sich in der buchhändlerischen Wirklichkeit dafür tun lässt. Einzigartig
wird es, wo Backlist und Verlagsgegenwart sich
berühren – eine der vielen Autorenreisen der
Anfangszeit führte mich nach Paris, wo mir
Milan Kundera die Pläne für seinen ersten
Roman nach dreizehn Jahren erzählte. Ich bin
dankbar, mit Umberto Eco und Lars Gustafsson
noch einmal Romane publiziert haben zu können, auch wenn es nun leider ihre letzten bleiben werden.
Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gesagt, dass Sie
das Programm reduzieren wollten. War das nicht
eine zu defensive Botschaft?
Ich denke nicht. Auswählen gehört zum
Wesen eines Verlags. Und von Zeit zu Zeit die
Programmgrösse mit den aktuellen Kapazitäten
von Handel und Literaturkritik abzugleichen, ist
nicht verkehrt. Vor allem aber geht es darum,
jedes Buch einzeln zu begleiten, es genügt ja
Hanser steht für Literatur, es
müssen nicht alle alles machen.
Das Krimi- und Thriller-Genre
ist unglaublich stark vom
Marketing getrieben, weil
manches austauschbar ist.
nicht, sie in die Welt auszusetzen. Wir publizieren im allgemeinen Programm 180 Titel pro Jahr,
ein gutes Dutzend weniger als zuvor, das bleibt
eine stolze Zahl.
Als Sie Ihr Amt antraten, sagten Sie der «FAZ», Sie
wollten mehr Frauen, weniger Krimis und mehr
junge Stimmen im Programm. Haben Sie diese
Vorsätze realisiert?
Das war eine schön verkürzte Headline. Trotzdem würde ich sagen: Ja, man sieht das in den
Programmen. Dass Autorinnen und jüngere
Stimmen hinzutreten, ist selbstverständlich.
Die stärkere Auswahl bei den Krimis war eine
verlegerische Entscheidung. Hanser steht für Literatur, es müssen nicht alle alles machen. Wir
haben bei Zsolnay eine Tradition von Spannungsliteratur, das führen wir fort, aber nicht so
ausgeprägt wie in früheren Jahren.
Welche Konsequenz hat das?
Das Krimi- und Thriller-Genre ist unglaublich
stark vom Marketing getrieben, weil manches
austauschbar ist. Da kommen Sie zum Teil auf
absurde Resultate. Bevor ich das Geld dort verbrenne, nutze ich es lieber für das, was wir am
besten können und was das Hanser-Versprechen
über das einzelne Buch hinaus transportiert. Da
lässt sich mit gleichem Aufwand mehr bewegen.
In diesem Frühjahr hatten wir das Glück, mit
zwölf Titeln auf der Bestsellerliste zu stehen –
alles literarische Bücher, sie haben von dieser
Konzentration profitiert.
Welche Titel im Herbstprogramm liegen Ihnen besonders am Herzen, auf welche setzen Sie?
Ein Beispiel: Schon bevor ich zu Hanser kam,
habe ich die Breite der internationalen Literatur
hier im Programm geschätzt, es gibt eine
▲
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
War es schwierig für Sie, ins Haus Hanser mit seinen festgefügten Strukturen einzutreten? Da hatte
Michael Krüger über Jahrzehnte die Geschicke geprägt. Insgesamt war er 45 Jahre für den Verlag
tätig. Er war eine übermächtige Figur.
Dieses Erbe und die Strukturen des Hauses
habe ich nicht als Belastung empfunden, es
schenkt einem ja vor allem die Möglichkeit,
etwas fortzuführen, etwas zu bewegen. Im Verlag gab es eine eindrucksvolle Bereitschaft, Routinen in Frage zu stellen, andererseits sind viele
der hiesigen Standards wirksam und erhaltenswert. Das haben wir im ersten Jahr überprüft,
manches angepasst, ein paar neue Ideen entwickelt und das meiste bewahrt. In eine solche
Tradition einzusteigen, verlangt in erster Linie,
Zugänge zu finden, mit den Autoren, mit allen,
die sich im Verlag für die Bücher einsetzen. Ich
bin nach wie vor überrascht, wie selbstverständlich das vor sich ging.
ROBERT HAAS / SZ PHOTO
Jo Lendle hält das geschriebene Wort hoch und verfasst neben eigenen Büchern täglich auch Dutzende Briefe.
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Interview
▲
grosse Weltzuständigkeit. In der Entdeckung
wichtiger neuer Autoren aus den USA hatte der
Verlag zuletzt jedoch ein wenig den Anschluss
verloren. Und Philip Roth hat zu meinem Unglück keine weiteren Schreibpläne. Die amerikanische Literatur ist aber so interessant, dass ich
da dranbleiben will. Deshalb freut es mich, in
diesem Herbst die beiden zentralen jüngeren
Stimmen bei Hanser und Hanser Berlin zu
haben: Emma Clines Debüt «The Girls» ist in den
USA eben erschienen und begeistert Leser und
Kritiker, Lauren Groffs «Licht und Zorn» war
dort die literarische Entdeckung des vergangenen Jahres.
Hanser war in den letzten Jahren praktisch abonniert auf Nobelpreisträger. Wie wichtig ist das?
Es setzt dem Programm ein Glanzlicht auf –
im Renommee wie im Umsatz. Natürlich habe
ich mich gefreut, als diese Serie weiterging, dass
Hanser bei den Nobelpreisen abräumt, gehört ja
schon fast zur Folklore. Auch wenn dies natürlich nicht meine Meriten sind, Patrick Modiano
und Swetlana Alexijewitsch waren bereits im
Verlag, als ich kam. Verleger arbeiten wie Förster. Sie brauchen Geduld. Man pflanzt und sieht
Jahrzehnte später, was daraus geworden ist.
Mit Ihrem Vorgänger Michael Krüger verbindet
Sie, dass Sie beide auch sehr produktive Schriftsteller sind. Sie haben mehrere Romane publiziert. Kommen Sie noch zum Schreiben, seit Sie
bei Hanser sind?
Im ersten Jahr habe ich mir das verboten. Es
geht einem auch einfach zu viel durch den Kopf.
Inzwischen reserviere ich mir wieder eine frühe
Morgenstunde für eigenes, der konzentrierte
Moment am Tageseinstieg tut mir einfach gut.
Allerdings würde ich lügen, wenn ich behauptete, dass das gerade nur so fliesst oder dass ich
da nicht manchmal heimlich doch schon etwas
anderes mache. Wobei es ja auch schön ist, in
der Früh einfach mal eine halbe Stunde in die
Luft zu schauen.
Zu den neuen Dingen, die Sie ausprobiert haben,
gehören die «Hanser Box»-Publikationen, kürzere
Texte, die ausschliesslich als E-Books erscheinen.
Wir hatten ein Buch zu den
Pariser Anschlägen, wir hatten
ein Buch zu Pegida, als es in
Dresden hochkochte. Das alles
ginge nicht mit gedruckter
Vorschau und langen Vorläufen.
In der Branche munkelt man, sie seien ein Flop.
Was sagen Sie dazu?
Unter dem jetzt entstehenden E-only-Markt
sollte man sich keinen trubeligen, dicht besuchten Marktplatz vorstellen. Vieles ist im Entstehen, gerade bildet sich zum Beispiel ein eigenes
Rezensionswesen heraus. Für uns ist es wichtig,
dort mitzumischen, zu lernen, unseren Autoren
eigene Angebote zu machen, bevor irgendwelche Onlinehäuser es tun. Das Format gibt uns die
Möglichkeit, auszuprobieren, wohin sich das
Publizieren entwickeln könnte, das ist ein wichtiger Schritt. Wir haben dafür jeden Ablauf im
Verlag neu bestimmt, so dass nun statt zehn Monaten Vorbereitung nur noch drei Wochen zwischen Manuskriptabgabe und Erscheinen liegen. Gerade bei Reportagen ist das ein relevanter Unterschied. Wir hatten ein Buch zu den Pariser Anschlägen, wir hatten ein Buch zu Pegida,
als es in Dresden hochkochte, wir haben jetzt ein
Buch von einer Autorin, die in den Zeltlagern
von Idomeni war. Das alles ginge nicht mit einer
gedruckten Vorschau und langen Vorläufen.
Haben Sie Ihre Ziele mit diesem Format nicht zu
hoch gesteckt?
Die Ziele waren sehr pointiert: Wir haben von
Anfang an auf Bezahlangebote gesetzt, um nicht
in die Fallen zu tappen, in denen der
Onlinejournalismus steckt. Das ist ein recht
überschaubares Geschäftsmodell, immerhin mit
einem kleinen Vorschuss und mit Unterstützung
der Presse- und Vertriebsabteilungen – alles
noch im Sandkastenformat, aber dafür sind Forschungs- und Entwicklungsinitiativen ja da.
Auch wenn der Bereich nicht zu unserem Gewinn beiträgt, nimmt er auch nichts davon weg.
Da gibt es im digitalen Publikationswesen der
Gegenwart ganz andere Fälle.
Sie haben mehrere Reihen in Ihrem Programm,
darunter die renommierten Hanser-Klassiker.
Neue Übersetzungen, akribisch dokumentiert.
Nun haben Sie da unlängst mit Wolfgang Schlüters Übertragung der «Wuthering Heights» von
Emily Brontë eine modernistische Kraftmeierei
herausgebracht, die dem Ruf der Reihe nicht gerecht wird. Was haben Sie sich dabei gedacht?
Einspruch! Ich finde die Übersetzung von
Schlüter augenöffnend. Natürlich geht sie sehr
entschieden vor, aber das wird der Rasanz des
Originals gerecht. Ich halte ihr zugute, dass sie
versucht, einen Roman, der zu Unrecht als verstaubt und betulich gilt, in unsere Gegenwart zu
holen.
Eine persönliche Frage: Wie haben Sie den Umzug
von Köln nach München erlebt?
Erstaunlich gut. Obwohl ich skeptisch war.
Ich bin Niedersachse, da war Bayern weit weg. In
Köln habe ich mich mit meiner Familie lange
Jahre sehr wohl gefühlt. Zum Glück hat sie die
Umzugsentscheidung mitgetragen, und es ist
leicht, in München Fuss zu fassen, solange man
im Hinterkopf behält, dass der Reichtum der
Stadt kein echtes Abbild der Wirklichkeit ist.
Überall liest man, dass die Verlage unter Spardruck stehen und es deshalb im Lektorat und Korrektorat an der traditionellen Sorgfalt fehlen lassen. Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses
Hamburg, hat diesen Missstand unlängst in der
«NZZ» beklagt.
Ich schätze Rainer Moritz sehr, aber mit seiner
pauschalen Attacke verrennt er sich. Druckfehler gab es immer. Jeder einzelne ärgert uns, deshalb haben wir vor kurzem einen zweiten
Korrekturlauf eingeführt. Aber wer ältere Bücher liest, stellt fest, dass es in früheren Jahrzehnten keineswegs besser war. Und wir sparen
nicht beim Lektorat, die arbeiten mit ausserordentlichem Einsatz.
Wenn Sie sich mit Verlegern wie Siegfried Unseld
vergleichen, der den Suhrkamp Verlag über Jahrzehnte paternalistisch geführt hat: Was hat sich
verändert?
Das Geschäft verändert sich, aber das hat es
immer schon getan. Wenn ich die Briefwechsel
von Siegfried Unseld mit seinen Autoren lese,
stelle ich allerdings fest, dass die Grundlagen
identisch geblieben sind. Es geht um Buchpläne,
Manuskripteinschätzungen, Umgang mit Erfolg
und Niederlage, ums Geld. Im Nachhinein zu
lesen, wie Details diskutiert wurden, etwa der
Titel für Johnsons «Das dritte Buch über Achim»,
ist aufschlussreich. Zu sehen, dass sich auch die
heute ausgehärtete, kanonisierte Literatur mal
in einem ganz offenen, flüssigen Zustand befand. Beim paternalistischen Umgang in Verlagen hat sich inzwischen sicherlich etwas getan,
alles andere wäre auch eine Überraschung.
Kommt hinzu, dass Unseld das Haus gehörte.
Das ist in Verlagen dieser Grössenordnung heute
die Ausnahme.
Macht Ihnen das Kummer?
Es ist nun einmal so. Aber ich versuche, mich
so zu verhalten, als ginge es um mein eigenes
Geld. Das hilft in Zweifelsfällen.
Siegfried Unseld war ein unermüdlicher Briefschreiber. Er stand Tag und Nacht in Kontakt mit
seinen Autoren. Wie sieht das bei Ihnen aus?
Ein paar Dutzend Briefe am Tag schreibe ich
auch und ein paar noch in der Nacht, wobei das
heute in der Regel elektrisch rausgeht. Es gibt
Kollegen, die den ganzen Tag telefonieren, wogegen nichts spricht. Ich hänge halt am geschriebenen Wort. l
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16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
Wenn du nicht weisst,
was als nächstes passiert,
hast du eine gute Chance,
dass es der Leser auch
nicht erraten kann.
Kurzkritiken Sachbuch
Stefan Bollmann: Warum ein Leben ohne
Goethe sinnlos ist. DVA, 2016. 282 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 18.90.
Da, wo etwas los ist. 15 Kulturorte in der
Schweiz. Hrsg. vom Schweizer FeuilletonDienst. Limmat, 2016. 168 S., Fr. 35.90.
Ausgerechnet Goethe, dieses verstaubte
Denkmal, soll uns Lebenssinn geben?
Der Titel des Buches kommt als Witz
daher – doch dann hält der Germanist
Stefan Bollmann unvermutet sein Versprechen: So frisch tritt uns Goethe hier
entgegen, dass sein Exempel eines erfolgreichen Lebens begeistert. Goethe,
der das bürgerliche Leben als junger
Stürmer zunächst weit von sich weist.
Der dann plötzlich doch Karriere macht
und damit erwachsen wird. Der sich im
Sabbatical der Italienreise vom Druck der
Statusfragen befreit. Der eine Familie
ohne Trauschein gründet, weil Sex zur
Liebe gehört. Der sich eine Umgebung
schafft, die konzentriertes Arbeiten ermöglicht. Der auf Schicksalsschläge mit
Produktivität antwortet und auf Zerstreuung mit hartnäckigem Dranbleiben
– und vieles mehr. Ein kluges, immer
wieder überraschendes Lebensbild mit
vielen wunderbaren Goethe-Zitaten!
Es muss nicht immer das KKL, das Schauspielhaus oder die Fondation Beyeler
sein. Abseits der sogenannten Hochkultur, aber auch des Mainstreams, finden
sich schweizweit viele engagierte Menschen, die sich mit Herzblut der Organisation und Förderung von Kunstprojekten widmen. 15 solcher Kulturorte werden im vorliegenden Buch vorgestellt.
Neben den Hinter- und Beweggründen
der Betreiber erfahren wir auch einiges
über die Eigentümlichkeiten der Regionen und darüber, wie den Kulturorten
der Spagat zwischen Verwurzelung und
Austausch mit der Welt gelingt. Die Vielfalt ist gross: Lesungen rätoromanischer
Literatur in Lavin, Konzerte von Jazzmusikern aus New York im Ochsen in Muri
oder Tanzperformances in Kiesgruben in
der Genfer Peripherie – um nur wenige
zu nennen. Ein schön gestalteter Band,
der zu einer Entdeckungsreise in die lebendige Schweizer Kulturszene einlädt.
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus
dem Franz. von T. Haberkorn. Suhrkamp,
2016. 238 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 22.–.
Niklas Luhmann: Der neue Chef.
Hrsg. von Jürgen Kaube. Suhrkamp,
2016. 120 Seiten, Fr. 14.90, E-Book 12.–.
In Reims wurden einst die Könige gekrönt. Die Rückkehr, die Didier Eribon
in die Stadt unternimmt, ist jedoch keine
historische Kaffeefahrt, sondern eine
Reise ins französische Arbeitermilieu.
Nach dem Tod seines Vaters begann sich
der renommierte Soziologe mit seiner
Herkunft auseinanderzusetzen und die
Welt der Fabrikarbeiter zu besuchen, aus
der er, obschon glühender Vertreter des
«Volks», vor Jahrzehnten ins Pariser Intellektuellenleben geflüchtet war. Was
autobiografisch anhebt, entwickelt sich
zur soziopolitischen Untersuchung: In
ebenjenem Umfeld, in dem vormals die
Kommunisten dominierten, trifft der
Rückkehrer auf Wähler des Front National. Kritisch geht Eribon den Gründen
für diese Verschiebung nach, und auch
wenn man nicht all seinen Erklärungen
folgen mag, nimmt man von dieser Reise
nach Reims viele Denkanstösse mit.
Der Aufsatz eines vollkommen unbekannten Verwaltungsbeamten schlug in
den 1960er Jahren wie ein Blitz in die
Soziologenwelt ein. Er trug den Titel
«Der neue Chef», der unbekannte Autor
hiess Niklas Luhmann. Dieser und zwei
weitere frühe, nie publizierte Texte des
grossen Soziologen hat Jürgen Kaube,
ein neuer Chef der FAZ, mit einem Nachwort versehen und in einem leuchtendorangen Suhrkamp-Büchlein versammelt, das sofort auf die Bestsellerliste
sprang. Weil es darin um so heitere Dinge
geht wie die «Unterwachung des Chefs
durch seine Untergebenen». Oder um die
für letztere «hilfreiche Vorstellung, der
Vorgesetzte habe keine Kleider an». Oder
darum, dass die nirgends vermittelte
Kunst, Vorgesetzte zu lenken, weit wichtiger sei als die allen Chefs beigebrachte
Kunst des Führens. Keine ganz leichte,
aber brillante Kost!
LUKAS MAEDER
Stephen King
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Andersen»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Ein kleines Sonntagsquiz zu den frischen Gipfeli und dem Orangensaft: Wer
hat den Cliffhanger erfunden?
Sie wissen schon, was ich meine: diesen Erzählertrick, seinen Helden zum
Schluss eines Buchkapitels, einer Filmszene oder einer Serienepisode in eine
scheinbar so aussichtslose Situation zu
bringen, dass der Leser (oder Zuschauer)
unbedingt wissen will, wie die Geschichte weitergeht. Und deshalb weiterliest oder die nächste Folge der Serie
einschaltet.
Also, wer war’s?
a) Edgar Wallace, auf dessen Buchumschlägen stand, es sei unmöglich, von
ihm nicht gefesselt zu werden?
b) The master of suspense Alfred
Hitchcock?
Oder c) jemand ganz anderes?
Wenn Sie Antwort c angekreuzt haben,
sind Sie schon mal in der nächsten Runde und haben, wie es in Werbeflyern
immer so schön heisst, die Chance, den
Hauptpreis zu gewinnen. Sie müssen
dazu noch nicht einmal eine Rheumadecke bestellen, sondern nur den Namen
des tatsächlichen Erfinders dieses literarischen Tricks nennen. Und das Erscheinungsjahr des allerersten Cliffhangers.
Es war überraschenderweise schon
1873, und es hing jemand ganz wörtlich
an einer Klippe.
Der englische Autor Thomas Hardy
hatte den Auftrag angenommen, für die
Zeitschrift «Tinsleys’s Magazine» einen
Fortsetzungsroman zu schreiben. Er
hiess «A Pair of Blue Eyes», und am
Ende eines Kapitels liess Hardy seinen
Helden über den Rand einer Klippe stolpern und nur noch an den Fingerspitzen
über dem Abgrund hängen.
(Fortsetzung folgt in der nächsten
Ausgabe von «Tinsley’s Magazine».
Wenn Sie noch nicht Abonnent sind,
sollten Sie es dringend werden.)
Wie im braven viktorianischen Zeitalter gar nicht anders möglich: Einen
Monat später wurde der Held am Anfang
des nächsten Kapitels gerettet. Man
hätte diesen glücklichen Ausgang schon
an seinem Namen ablesen können. Kein
Autor der Welt lässt eine Figur mit dem
schönen Namen Knight vor dem Happy
End wegsterben. (Die Heldin, die ihn
rettet, hiess übrigens Elfride. Ohne i-e.)
Thomas Hardy schrieb 14 Romane,
jede Menge Kurzgeschichten und an die
tausend Gedichte. Aber die literarische
Unsterblichkeit und einen Platz im Wörterbuch hat er sich mit einer einzigen
Szene gesichert, eben mit dem originalen Cliffhanger.
Wenn Sie es gewusst haben, haben
Sie folgenden wertvollen Preis gewonnen: (Fortsetzung folgt in
der nächsten Ausgabe
von «Bücher am Sonntag». Wenn Sie also noch
nicht Abonnent sind…)
Kathrin Meier-Rust
Claudia Mäder
Simone Karpf
Kathrin Meier-Rust
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Sport Die Olympischen Spiele der Neuzeit gehen auf einen besorgten Franzosen zurück. Geboren aus
dem Geist des Nationalismus, führten sie Konkurrenzkämpfe in friedlichen Wettstreit über und zelebrierten
den Körper in liturgischen Ritualen: Klaus Zeyringer erzählt die Geschichte eines modernen Kults
DieReligionderRinge
Klaus Zeyringer: Olympische Spiele.
Eine Kulturgeschichte von 1896 bis
heute. Band 1: Sommer. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2016. 608 Seiten,
Fr. 38.90, E-Book 27.–.
Von Manfred Koch
Frankreich schwächelte, da erfand der
Baron Pierre de Coubertin eine
«Muskelreligion». Der 1863 geborene Begründer der Olympischen Spiele der
Neuzeit war ein glühender Patriot. Aber
sein Heimatland wurde ausgangs des 19.
Jahrhunderts von ökonomischen und
politischen Krisen gebeutelt, in Coubertins Augen die Spätfolge zweier verlorener Kriege. 1815 war Napoleon I. in der
Schlacht von Waterloo unterlegen, 1870
Napoleon III. in der Schlacht von Sedan.
Auf der Suche nach Gründen für diese
Demütigungen kam Coubertin auf eine
verblüffend einfache Antwort: Die Gegner waren fitter! 1815 hatten die Franzosen einem Heer von sportlichen Engländern nichts entgegenzusetzen, 1870/71
zerrieb sie eine Armee von turnenden
Deutschen. Frankreich musste, schloss
der Baron, die Leibeserziehung intensivieren, um wieder eine Vorrangstellung
unter den Nationen zu erlangen.
Internationale Muskelschau
An welchem Vorbild sollte man sich aber
orientieren? Coubertin setzte klar auf die
Briten. Das preussische Turnen war für
ihn im Grunde nur ein erweitertes militärisches Exerzieren, bei dem stumpfsinniger Korpsgeist eintrainiert wurde. Der
britische Sport hingegen, wie er ihn 1883
auf einer Besichtigungstour durch die
berühmten Public Schools der Insel
(Rugby, Harrow, Eton) studiert hatte, förderte die Wettkampfstärke freier Individuen. Wer hier etwas erreichen wollte,
musste nicht nur über Kraft, sondern
auch über Geschicklichkeit, Einfallsreichtum und persönlichen Wagemut
verfügen. Eigenschaften, die – wie Coubertin gleich anmerkte – generell hilfreich seien für Karrieren in der modernen Konkurrenzgesellschaft.
Eindrucksvoll schildert der österreichische Germanist Klaus Zeyringer in
den Eingangskapiteln seines rechtzeitig
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
vor Rio 2016 erschienenen Buchs die Geburt der Olympischen Spiele der Neuzeit
aus dem Geist des modernen Nationalismus und des modernen Leistungsprinzips. Der Baron war freilich kein
aggressiver Nationalist. Eine
Welt ohne Kriege wäre
schön, erklärte er 1892 in
einer Rede, in der er
sein Olympia-Projekt
erstmals öffentlich
vorstellte. Da der
ewige Friede jedoch vorerst eine
Utopie bleibe, sei
es den Völkern
nicht zu verdenken, wenn sie
sich für den
Ernstfall durch
Sporterziehung
wappneten (1919,
als
Frankreich
wieder zu den Siegern gehörte, meinte er dementsprechend stolz, man habe
der deutschen Invasion
«einen
muskelgestählten
Wall» entgegengestellt). Möglich sei jedoch eine partielle Umlenkung der kriegerischen Energien in friedliche Konkurrenz. Das bewiesen
für Coubertin die seit 1851
abgehaltenen Weltausstellungen. Die Nationen versuchten hier,
einander durch Darbietung ihrer grossartigsten Industrieprodukte zu übertrumpfen. Analog zu dieser
Warenschau entwickelte
er seine Idee einer Körperschau der Nationen.
Zeyringer zeigt, wie Coubertin
geschickt zusammenführte, was
seine Zeit an Anregungen bot.
«Olympic Games» gab es vor allem
in England schon lange – aber eben
nur als lokale Sportfeste. In den Jahren 1875–1881 legten deutsche Archäologen das antike Olympia frei; das
brachte ihn auf den Gedanken, die panhellenischen Spiele der alten Griechen
als Sportevent für ganz Europa und
letztlich die ganze Welt wiederzubeleben (womit – welch schöner Nebeneffekt! – ein Franzose der eigentliche
«Ausgräber» von Olympia war).
Tief beeindruckt war er
ferner von Ri-
chard Wagners Bayreuther
«Weihefestspielen». Aus
dem Dunstkreis von
Wagner (mehr als aus
dem alten Griechen-
PHOTONICA WORLD / GETTY IMAGES
Vom Sportfieber
befallen: Ein Chinese
trägt olympischen
Schmuck für eine
Autowaschanlage
herbei (Peking, 2005).
land) stammt die kultische Überhöhung
der Sportveranstaltungen. Denn Coubertin wollte den Olympismus ausdrücklich
zu einer neuen, universellen Religion
machen, die nach dem «Tod Gottes»
wenigstens alle vier Jahre für eine Wiederverzauberung unserer ausgenüchterten, von Wissenschaft und Technik beherrschten Zivilisation sorgen sollte.
Zu einer Religion aber gehören Rituale, Symbole, feierliche Inszenierungen. Mehr
als drei Dezennien tüftelte Coubertin nach den
ersten Spielen von Athen
1896 an der Gestaltung
der Eröffnungs- und
der Schlusszeremonie
herum. Der Einmarsch
der Athleten (Coubertin
wehrte sich lange gegen
die Teilnahme von Frauen) in Nationalgruppen,
die olympische Hymne,
die Flagge mit den fünf
Ringen, der olympische Eid,
die olympische Flamme –
all dies wurde sukzessiv im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
eingeführt, um den Zuschauern ein
gottesdienstähnliches Erlebnis zu
bieten. Den traurigen Schlusspunkt setzten die Nationalsozialisten bei den Berliner Spielen von 1936. Es war ihre Idee,
das Feuer in Olympia entfachen zu
lassen und in einem Staffellauf von
Griechenland zum Austragungsort zu
bringen.
Wer Zeyringers Buch aufmerksam
liest, begreift, dass die sogenannten
olympischen Ideen von der Grundanlage
der Spiele her gar nicht zu verwirklichen
waren. Wie sollten sie als Nationenwettkampf zugleich ein politikfreier Raum
sein? Wie sollten sie als Schau der grenzenlosen Leistungssteigerung im Zeitalter der modernen Medizin unberührt
bleiben von den Möglichkeiten künstlicher Körperoptimierung? Wie sollten sie
– deutlich ab der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts – als Spektakel für ein internationales Massenpublikum nicht
ein Bestandteil jener milliardenschweren Unterhaltungsindustrie werden, in
der Fernsehanstalten und Sponsoren
den Ton angeben? Klaus Zeyringer informiert gründlich über die düstere Seite
der olympischen Medaille, die politischen Boykotte, die Dopingfälle, die
Spiele als Werbeplattform für Diktatoren
oder für Coca Cola. Und nicht zuletzt die
sinistren Machenschaften des IOC, das
so gerne mit den Gewalt- und den
Geldherrschern kungelt.
Halbgötter und Helden
Und doch bleibt Olympia ein Faszinosum, weil es tatsächlich, wie dies nur
eine Religion vermag, Millionen von
Menschen zu einer Erlebnisgemeinschaft
vereinigen kann: immer dann nämlich,
wenn die Körperwunder der Athlet(inn)en Zuschauer gleich welcher Nation
in ein und demselben Augenblick in Verzückung versetzen. Von solchen Wundern erzählt Zeyringer ohne Vorbehalt,
und der Leser freut sich unweigerlich
über die zahlreichen Heldengeschichten,
an die das Buch erinnert.
Jesse Owens, der zum Ärger Hitlers
den Ariern einfach davonlief. Wilma Rudolph, die an Kinderlähmung litt und als
Erwachsene zur grazilsten Sprinterin der
Leichtathletikgeschichte wurde. Dick
Fosbury, der 1968 den Hochsprung gewann, indem er frecherweise verkehrt
herum hüpfte. Die tollste Geschichte
aber ist die einer heute vergessenen französischen Athletin. Micheline Ostermeier, eine ausgebildete Konzertpianistin
und mehrfache Siegerin in internationalen Klavierwettbewerben, gewann 1948
bei den ersten Nachkriegsspielen in London zuerst die Goldmedaillen im Diskuswerfen und Kugelstossen, drei Tage später holte sie noch Bronze im Hochsprung.
Als man sie fragte, wie sie derart Widersprüchliches unter einen Hut brächte (sie
war auch noch eine der schnellsten
Sprinterinnen ihrer Zeit), antwortete sie
lakonisch, sie verdanke dem Klavier
«starke Bizepse und ein gutes Gefühl für
Bewegung und Rhythmus».
Am Ende klappt man das Buch nostalgisch gerührt und mit einer bangen Frage
zu: Wie lange können wir angesichts der
verheerenden Doperei noch unbefangen
an diese Körperwunder glauben? Verlieren die Halbgötter und Helden des modernen Sports endgültig den Zauber des
Authentischen, wird uns etwas fehlen. ●
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Geschichte Weshalb der Zweite Weltkrieg das
griechisch-deutsche Verhältnis bis heute belastet
Mark Mazower: Griechenland unter Hitler.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
580 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 30.–.
Kateřina Králová: Das Vermächtnis der
Besatzung. Böhlau, Wien 2016.
264 Seiten, Fr. 42. 90.
Von Claudia Kühner
Wir haben noch die wütenden griechischen Karikaturen von Angela Merkel in
NS-Uniform vor Augen, die auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise entstanden.
So deplaziert er hier wirkte, der Rückgriff
auf die Geschichte hat einen realen Hintergrund: Unter den westlichen Ländern
hat Griechenland mit am stärksten unter
der deutschen Besetzung und den
Kriegsfolgen gelitten. Nur geriet das vor
allem in Deutschland gründlich in Vergessenheit, und die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich wenig für das
Thema interessiert.
So stammen denn auch die zwei aktuellsten Werke zur Besatzung und ihren
Folgen von nichtdeutschen Historikern.
Der britisch-amerikanische Professor
Mark Mazower und die tschechische Historikerin Kateřina Králová führen mit
ihren Büchern vor Augen, weshalb das
griechisch-deutsche Verhältnis nur dem
Schein nach jahrzehntelang unbelastet
war. Beide benennen aber auch die historischen Fehler, Defizite und Versäumnisse auf der griechischen Seite, die viel zu
tun haben mit der Schwäche des Staates,
wie sie sich bis heute zeigt.
Mark Mazower zeichnet eine Gesamtdarstellung eines veritablen deutschen
Besatzungsterrors von 1941 bis 1944.
1941/42 starben über hunderttausend
Menschen in einer verheerenden Hungersnot – die auch dadurch ausgelöst
wurde, dass die deutschen Besatzer das
Land restlos ausplünderten und der ohnehin schwache Staat unfähig war, seinen Bürgern irgendwie noch zu helfen.
Weitere Tausende starben im Partisanenkampf, 1500 Dörfer wurden zerstört,
30000 Menschen fielen «Sühnemassnahmen» zum Opfer, 90 Prozent der
80000 Juden wurden im Holocaust ermordet. Oradour oder Lidice gab es in
Griechenland hundertfach, Dörfer, wo
Frauen, Kinder, Alte niedergemacht
wurden, während wir allenfalls von
Distomo gehört haben. Mazower versteht es gut, einzelne Schicksale und
Zeugnisse mit dem grossen Geschehen
zu verbinden. So macht er die Traumata
verständlich, die bis heute wirken.
Der Zweite Weltkrieg ging in einen
vierjährigen Bürgerkrieg zwischen bürgerlichem und kommunistischem Lager
über, den Mazower als Epilog miteinbezieht. Er zeigt, wie massgeblich der
Bürgerkrieg dafür verantwortlich war,
dass auch das Land selber mit seiner Geschichte nie ins Reine kam. Mitverhindert
haben das Briten und Amerikaner mit
ihrer einseitigen Parteinahme für die
griechischen Rechte im Kalten Krieg, so
Mazowers These. An der fundamentalen
Bedeutung der Besatzung ändert das
aber nichts, in seinem Resumée benennt
AKG IMAGES
FremderTerrorund
eigeneSchwäche
Im Frühling 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht die Insel Kreta.
Mazower die kausalen Zusammenhänge
in aller Deutlichkeit: «Alles, was in Griechenland auf den Zweiten Weltkrieg folgte – der Bürgerkrieg, die bleibenden Narben, die er hinterliess, ja sogar die Demokratisierung des Landes nach 1974 –, ist
nur vor dem totalen Zusammenbruch
von Staat und Gesellschaft zu begreifen,
den die deutsche Besatzung und ihre
tödliche Folgen mit sich brachten.»
Kateřina Králová schreibt quasi die
Fortsetzung von Mazowers Geschichte:
Im Zentrum ihres Buches steht der Umgang der politischen Elite Deutschlands
und Griechenlands mit dem Vermächtnis
der Besatzung. Wie wurden Kriegsverbrechen geahndet, was wurde bei Restitution und Wiedergutmachung wogegen
aufgerechnet? Kralova arbeitet scharf
heraus, wie rasch das wirtschaftlich wiedererstarkte Deutschland seine Dominanz ausspielte. Tabakexporte gegen
Verfahrenseinstellungen war nur eine
von vielen «Rechnungen». Královás Darstellung ist nüchterner, manchmal etwas
sehr juristisch. Weniger eindrücklich ist
sie deswegen nicht. Diese Geschichte
sollte mitbedenken, wer heute griechische Empfindlichkeiten kritisiert. ●
Gesellschaft Die Philosophin Svenja Flasspöhler geht Fragen rund ums Verzeihen nach
Ist es nobel, zu vergeben – oder ungerecht?
Svenja Flasspöhler: Verzeihen.
Vom Umgang mit Schuld. DVA, München
2016. 222 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 16.90.
Von Florian Oegerli
Gewiss, wer im Tram aus Versehen jemanden anrempelt, dem kommt ein
«Verzeihung» schnell über die Lippen. In
anderen Fällen dagegen fällt es schwer,
zu vergeben. Wie verzeiht eine Mutter
dem Mörder der eigenen Tochter? Was,
wenn ein Straftäter sich selbst nicht zu
verzeihen vermag? Und gibt es Verbrechen, die – man denke etwa an die Shoah
– niemals vergeben werden können?
Diesen Fragen geht die Philosophin
Svenja Flasspöhler in ihrem Buch nach.
Dabei verwebt sie theoretische Ausführungen neben Begegnungen mit Gefängnisinsassen und Holocaust-Überleben20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
den auch mit der eigenen Biografie: Als
die Autorin vierzehn war, hat ihre Mutter
den Kontakt zur Familie abgebrochen.
Die Frage, ob sie ihr verzeihen kann,
stand am Anfang des Buches, das in drei
Teile gegliedert ist, in denen die Autorin
herauszufinden versucht, wie das Verzeihen mit dem Verstehen, dem Lieben
und dem Vergessen zusammenhängt.
Wer verzeiht, provoziert. Das zeigt
sich etwa am Fall von Eva Mozes Kor. Als
Kor, die Mengeles Experimente überlebte, Oskar Gröning, der zur Beihilfe zum
Mord in 300000 Fällen angeklagt war,
seine Verbrechen vergab, distanzierten
sich ihre 49 Nebenkläger scharf von ihr.
Vielleicht hat Nietzsche, mutmasst
Flasspöhler, recht, und die Gerechtigkeit
baut auf Vergeltung auf: Jeder Schaden
will durch einen Schmerz des Schädigers
abbezahlt sein. Wer verzeiht, handelt
also ungerecht. Und nicht nur das: Das
Verzeihen ist auch unökonomisch; eine
(nach Bataille) «unproduktive Verausgabung», weil man dem Täter seine Schuld
erlässt.
Die Lektüre des Buches lohnt, zeigt
die Autorin doch nicht nur, wie schwierig
der Begriff des Verzeihens ist, sondern
entdeckt auch dessen subversives Potenzial. Einen Wermutstropfen gibt es dabei
allerdings: Oft räumt die Philosophin der
Position eines Kollegen bloss einen Absatz ein, bevor sie ihn bereits zu widerlegen versucht. Das ist wohl auch der
Grund, weshalb es vor allem die persönlichen Begegnungen sind, die nachhallen, z.B. ihr Gespräch mit einer Mutter,
deren Tochter beim Amoklauf von Winneden zu Tode kam. Oder der alte Mann,
seit 26 Jahren im Gefängnis, der gefragt,
worin der Wert des Verzeihens liege, lapidar meint: «Das Verzeihen macht den
Menschen grösser.» ●
Gesellschaft Während die Datenberge wachsen, schwindet unsere Privatsphäre: Harald Welzer warnt
vor den totalitären Konsequenzen der Digitalisierung
ZwitscherndindieKatastrophe
Harald Welzer: Die smarte Diktatur.
Der Angriff auf unsere Freiheit.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2016.
320 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.-.
Ein Smartphone ist ein Handy, das viele
Funktionen in sich vereint, die man ihm
nicht ansieht. Eine «smarte Diktatur» ist
eine, wo die Starken beständig mehr
Macht erlangen, sei es durch wachsendes
Kapital, sei es durch wachsende Verfügung über Daten, ohne dass das Auseinandertreten von Mächtigen und Ohnmächtigen als monströs wahrgenommen
wird. «Die Auflösung der Demokratie geschieht im Rahmen der Demokratie»,
schreibt Harald Welzer.
Mit «Die smarte Diktatur. Der Angriff
auf unsere Freiheit» liefert der Sozialpsychologe und Zukunftsforscher das
schwarze Panorama einer Lebensform,
die ihre eigenen Grundlagen frisst. Man
könnte ihn einen Weltuntergangspropheten nennen. Doch wo die Wanderprediger früherer Jahrhunderte apokalyptische Visionen verkündeten, da ist Welzer
Empiriker, der Beobachtungen und
Nachrichten notiert und wissenschaftliche Studien heranzieht. «Liest das ausser
mir eigentlich niemand?», fragt er einmal
im Gestus des einsamen Rufers. Nicht
also, dass Welzer grundstürzend Neues
sagte. Er muss nur die Tendenzen des
Weltenlaufs zu grossen Haufen zusammenfegen, sie mit kritischer Urteilskraft beleuchten, und alsbald beginnen
diese Haufen zu stinken.
Selbstzwang nimmt zu
Privatheit, die stärkste Bastion gegen
totalitäre Herrschaft, schwindet. Die Digitalisierung ermöglicht, immer mehr
Daten über unsere Vorlieben, unser
Kaufverhalten, unsere Bewegungsmuster, unsere Ansichten zu sammeln. Staatliche und kommerzielle Überwachung
konvergieren. Und wir machen mit, liefern Informationen über uns frei Haus.
Soziale Netzwerke sind für Welzer weniger hilfreiche Kommunikationsmittel
denn Foren der Selbstentblössung. Und
solche der Domestizierung durch Beschämung und Ausgrenzung.
Dramatisch sind die Verhältnisse in
China. Dort werden Meinungen, Aktivitäten, Sozialkontakte, Einkommen oder
die Strafpunkte auf dem Führerschein
gemäss einem «Sozialen Kreditsystem»
erfasst. Firmen, Banken und Sozialnetzwerke tauschen die Daten der Bürgerinnen und Bürger aus und verknüpfen
sie mit einer Identifikationsnummer.
China ist eine Schamkultur. Wehe, jemand hat etwas getan, wofür er sich
schämen müsste, und es kommt heraus.
Dann fällt der Info-Mob der Netzwerke
über ihn her, wüst und unbarmherzig
und unter Offenlegung seiner Adresse,
Arbeitsstelle, der Familienverhältnisse.
QILAI SHEN / BLOOMBERG
Von Joachim Güntner
Längst nicht so
smart, wie es tut: Im
Herstellungsprozess
verschlingt das
moderne Handy
so viel Energie wie
ein Kühlschrank
(Produktionsstätte
in Dongguan, China,
2015).
Die Hatz hat einen eigenen Namen:
«renrou souso», zu Deutsch «die Suche
nach Menschenfleisch». Sie kann in Totschlag, Vergewaltigung oder Selbstmord
des Opfers enden.
Michel Foucault hat in «Überwachen
und Strafen» die Geschichte der Moderne als eine erzählt, in der sich die äussere
Gewalt in den Menschen hinein verlagert. Welzer spinnt diesen Faden fort.
Die innere Disziplinierung, der Selbstzwang nimmt zu. Die Forderung nach
totaler Transparenz, sinnigerweise oft
als Verlangen nach Bürgerbeteiligung erhoben, durchdringt unsere Gesellschaften. Mit der Sichtbarkeit des Bürgers
steigt der Druck, sich konform zu verhalten. Und wieder machen wir mit, tragen
zum Beispiel als «Lifelogger» und Jünger
des «Quantified Self» Geräte am Leib, die
ermitteln, wie es um unseren Schlaf, unsere Stimmung, unsere Pulsfrequenz,
unseren Kalorienverbrauch bestellt ist.
Man nutzt sie, um darauf hinzuarbeiten,
dass es einem besser geht. Tatsächlich
aber, so Welzer, erzeugen die Geräte «ein
permanentes Grundgefühl des Nichtgenügens». Ein Akt der Unterwerfung
unter äusserliche Standards.
Welzer nimmt uns Illusionen. Das
heissgeliebte Smartphone ist gar nicht
smart, denn seine Gestehungskosten an
Material und Energie kommen denen
eines Kühlschranks gleich – nur ist das
halt kaschiert und kein Käufer fragt danach. Die «Cloud» als scheinbar körperloser Datenspeicher braucht riesige Serverfarmen, die Strom fressen, dessen
Erzeugung nur durch Raubbau an den
Ressourcen geliefert werden kann. Das
Versprechen der Green Economy, Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit
seien vereinbar – für Welzer eine Lebenslüge. Die Sharing Economy, hochgelobt
als Modell sozialen Teilens? Für den
Autor ein Beispiel für die Monetarisierung von Sozialbeziehungen. Wenn früher eine studentische WG einfach einmal
Gäste aus dem Ausland beherbergte, so
vermietet diese WG heute ihre Bleibe lieber über Airbnb.
Folgen des Hyerkonsums
Bei uns sind politische Errungenschaften
der Moderne wie Rechtsstaatlichkeit und
Freiheit gefährdet, und Schwellenländer
werden den westlichen Weg nicht nachholen können. Kapitalismus funktioniert
auch ohne Demokratie – als «Neofeudalismus». Den Preis unseres Wohlstands zahlen Billiglohnländer. In Welzers Buch würde gut ein Diktum des Soziologen Stephan Lessenich passen: «Wir
leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir
leben über die Verhältnisse der anderen.» Und Welzer würde sagen: Wir machen uns zudem blind dagegen, wie sehr
sich unsere Existenz im Stoffwechsel mit
der Natur vollzieht. Die Grenzen des
Wachstums sind längst überschritten,
der ökologische Kollaps vollzieht sich,
nur trifft er die Armen schneller und härter als die Reichen.
Ohne Verzicht keine Abwendung der
Katastrophe. Wer Schuld hat, ist für Harald Welzer klar: eine auf «Überproduktion und Hyperkonsum» geeichte,
letzlich letale Wachstumswirtschaft. Das
Buch ist radikal in seiner Schärfe und der
Zusammenschau der Probleme. Und es
ruft zu Widerstand auf, ist schwungvoll,
polemisch, bisweilen nostalgisch mit
persönlichen Reminiszenzen und flott
zu lesen. ●
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Psychologie Grassiert in unserer Selfie-Kultur eine Narzissmusepidemie? Drei Autoren setzen sich mit
dem Phänomen der Selbstverliebtheit auseinander
HybriskommtvordemFall
Roger Schawinski: Ich bin der Allergrösste.
Warum Narzissten scheitern.
Kein & Aber, Zürich 2016. 224 Seiten,
Fr. 25.90, E-Book 18.90.
Craig Malkin: Der Narzissten-Test. Wie man
übergrosse Egos erkennt… und
überraschend gute Dinge von ihnen
lernt. Dumont, Köln 2016. 285 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 22.–.
Theodor Itten: Grössenwahn. Ursachen
und Folgen der Selbstüberschätzung.
Orell Füssli, Zürich 2016. 211 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 21.–.
In der griechischen
Mythologie verliebt
sich der schöne
Göttersohn Narziss
in sein eigenes
Spiegelbild. (Gemälde
von John William
Waterhouse, 1903).
Von Kathrin Meier-Rust
«Ich bin der Allergrösste» – von Roger
Schawinski. Nein, es ist keine Fortsetzung seiner Autobiografie. Der Untertitel
seines neuen Buches lautet «Warum Narzissten scheitern». Doch das ironische
Doppelspiel mit dem Titel ist ebenso entwaffnend wie das freimütige Bekenntnis
des Autors, dass er das Thema Narzissmus nicht ganz zufällig gewählt habe. Zu
seiner Verblüffung nähmen ihn nämlich
andere Menschen nicht selten als narzisstisch wahr. Und weil es ein Merkmal
des übersteigerten Narzissmus sei, dass
er «anderen mehr ins Auge fällt als einem
selbst», habe sich eine gewisse Introspektion geradezu aufgedrängt…
Die Dosis macht das Gift
Dem amüsanten Auftakt folgt ein amüsantes Buch. Denn wie anders als mit
Amüsement, allerdings einem halb mitleidsvollen, halb entsetzten Amüsement,
lassen sich diese flüssig präsentierten
Porträts von Menschen lesen, die sich
durch eigene Eitelkeit, groteske Selbstüberschätzung, masslose Arroganz oder
grenzenlose Gier selbst ins Unglück
stürzten? Menschen wie Lance Armstrong und Sepp Blatter, Marcel Ospel,
Joe Ackermann und Daniel Vasella, Jörg
Kachelmann oder auch Steve Jobs, der
die rechtzeitige Behandlung seines Krebses verpasste, weil er weder Ärzten noch
Wissenschaft, sondern nur der eigenen
Intuition vertraute.
Der Kern der dreizehn Porträts dieses
Buches ist mithin die narzisstische
Hybris, jene kolossale Selbstüberschätzung, die diesen Geschichten von Aufstieg und Fall zu Grunde liegt. Auch andere Gemeinsamkeiten arbeitet Schawinski interessant heraus – alle der Porträtierten waren ehrgeizig und fleissig,
alle verstanden es, die Gunst der Stunde
ebenso zu nutzen wie verwandtschaftliche Beziehungen. Viele von ihnen sind
gutaussehend, charismatisch und überaus kommunikationsfähig, alle sind
Männer. Und alle erwiesen sich als arrogant, unempathisch und letztlich ohne
Bodenhaftung. Eine kurze Einführung in
den psychologischen Hintergrund der
Narzisstischen Persönlichkeitsstörung
sowie ein Interview mit dem Psychiater
Mario Gmür verleihen dieser Hitparade
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
der gefallenen Narzissten einen erklärenden Rahmen.
Ist Narzissmus also ein Defekt, eine
Krankheit, oder gar eine Kulturkrankheit,
wie es die Rede von der angeblich grassierenden Narzissmusepidemie suggeriert, die eine egozentrische Selfie- und
Facebook-Kultur ausgelöst haben soll?
Nein, sagt der amerikanische Psychologe
Craig Malkin. Wohltuend unaufgeregt,
genau und verständlich beschreibt er
den heutigen Erkentnisstand zum Phänomen Narzissmus. Sich selbst als etwas
Besonderes vorzukommen – die Grundlage jedes Narzissmus – ist ein ganz normales menschliches Phänomen. Wie
zahlreiche Studien aus allen Ländern der
Welt zeigen, hält sich fast niemand für
ganz gewöhnlichen Durchschnitt, sondern nahezu alle Menschen halten sich
selbst für «etwas besser» als die meisten
anderen Menschen. Dieses rosige Selbstbild hat grosse Vorteile: Es macht nämlich gesünder, geselliger, kreativer – kurz
glücklicher, als es jene sind, denen es
fehlt. Denn diese leiden meist an Angst
und Depression. Sie mögen zwar richtig
liegen mit ihrem Selbstbild – aber sie
opfern diesem Realismus ihr Glück.
Allerdings kommt es auf den Grad dieses «sich besonders fühlen» an. Wenn
wir umgangssprachlich von Narzissmus
sprechen, meinen wir meist die extremen Narzissten, die die Welt nur aus
dem eigenen Blickpukt wahrnehmen,
weder Empathie noch Reue zeigen und
einen Hang zum Manipulieren haben.
Aber auch zu wenig Narzissmus ist
schädlich. Malkin nennt die entspre-
chenden Menschen «Echoisten», nach
der Nymphe Echo, die sich in den schönen Narziss verliebte und von diesem
verstossen wurde, weil sie nur seine
Worte nachsprechen konnte und keine
eigene Sprache hatte. Während extreme
Narzissten anderen schaden, schaden
sich extreme Echoisten selbst. Gesundheit dagegen liegt in der Mitte dieser
Skala zwischen Selbstverleugnung und
Selbstgefälligkeit. Und damit sich jede
Leserin auf dieser Skala selbst einordnen
kann,enthältdasBuchdenNarzisstentest
zum Selbstausfüllen.
Gene und Umweltprägung
Die verschiedenen Theorien zum Narzissmus seit Freud stellt Malkin ebenso
dar wie dessen verschiedene Erscheinungsweisen: nämlich extrovertierte,
introvertierte, subtile und soziale Narzissten. Die Ursache des Narzissmus
sieht der Autor im Zusammenspiel von
genetischer Anlage mit Umweltprägung,
wobei er in der Erziehung einen entscheidenden Faktor für eine extreme
Ausprägung sieht: Nicht wenn Kinder
übertrieben gelobt und verwöhnt werden, entwickeln sie sich zu Narzissten,
sondern wenn dieses Lob das einzige ist,
was sie von ihren Eltern bekommen.
Die angebliche Narzissmusepidemie
unter verwöhnten, egozentrischen Millenials sieht Malkin skeptisch: Natürlich
seien junge Menschen heute selbstsicherer als früher. Doch gleichzeitig zeige
diese Generation auch mehr Empathie
und Altruismus. Woran man Narzissten
erkennt, wie man mit ihnen umgehen
Kaukasus Ein Schweizer durchquert die höchsten Berge Europas
VulkaneaufPulverfässern
Mario Casella: Schwarz Weiss Schwarz.
Eine abenteuerliche Reise durch das
Gebirge und die Geschichte des Kaukasus. AS, Zürich 2016. 304 Seiten, Fr. 31.90.
kann, inwieweit sie sich verändern können – dieses Buch deckt alle Fragen mit
sorgfältigen Antworten ab.
Der St.Galler Psychotherapeut Theodor Itten hat ein originelles Buch zum
Phänomen des Jähzorns geschrieben,
das kulturgeschichtliche und individuelle Zeugnisse mit einer eigenen Jähzornumfrage kombinierte. Mit «Grössenwahn» will uns dieser Autor nun «diverse
Betrachtungen eines irrigen Verhaltens
im sozialen Kontext» vorstellen. Was
dann folgt, scheint der Methode auf der
Couch entsprungen zu sein. In einer Art
assoziativem Freistil wird hier alles mit
allem durcheinander gewirbelt: Interviews mit etymologischen Erklärungen,
das Unheil von «Facebook, Twitter,
Instagram, Homepage und Tumblr» mit
dem «Verrat» von Fidel Castro, nacherzählte Märchen mit einem imaginierten
Besuch des mythischen Narziss bei
Freud, sowie Hegel-Anekdoten, Kindheitserlebnissen des Autors und, leider,
vieles vieles mehr.
Ein Buch zu schreiben, bleibt selbstverständlich jedem Berufenen unbenommen. Doch wenn der Autor dieses
skurrilen Gedankenstroms voll verquaster Sätze, Ungenauigkeiten und Fehler
(Ariadne, die Tochter des Königs Minos,
heisst durchwegs «Adriane» und Aschenputtel kehrt heim «zu den Zwergen») am
Schluss Verlag und Lektor für die «verfeinerte Kunst des Sprachschaffens» dankt
– dann reibt man sich erstaunt die Augen.
Ist das nun Grössenwahn oder Narzissmus oder Hybris, oder vielleicht einfach
Selbstverliebtheit? ●
Den Kaukasus zu durchqueren, ist ein
ziemlich abenteuerliches Unterfangen.
Auf den rund 1000 Kilometern zwischen
Kaspischem und Schwarzem Meer reiht
sich Unruheherd an Unruheherd; ethnische Konflikte und ungelöste Territorialfragen ziehen sich von Dagestan bis Abchasien, machen den Menschen das
postsowjetische Leben schwer – und den
Besuchern das Reisen zur Lotterie.
Den Kaukasus auf Skiern zu durchqueren, ist ein vollkommen verrücktes
Unterfangen. In dem Gebiet, das für die
Alten Griechen das Ende der Welt bezeichnete, türmen sich über 150 Viertausender und zwischen sieben und zwölf
Fünftausender – so genau weiss man das
nicht. Präzises Kartenmaterial gibt’s im
Kaukasus ebenso wenig wie Wettervorhersagen oder Lawinenbulletins. Auf
solche Dinge pflegt Mario Casella als
Schweizer Bergführer in der Regel zurückzugreifen. Im Frühling 2009 hat er
aber jeden alpinen Komfort hinter sich
gelassen und zusammen mit einem russischen Freund das sportlich-logistische
Doppelabenteuer im Kaukasus gesucht.
Amateurfotografie Posieren im Blätterwerk
SAMMLUNG JOCHEN RAISS
SUPERSTOCK / GETTY IMAGES
Von Claudia Mäder
Was die beiden während rund einem
Monat auf ihrem Weg über die Schneeberge zwischen Baku (wo das schwarze
Gold sprudelt) und Sotschi (das am
Schwarzen Meer liegt) erlebt haben, ist in
«Schwarz Weiss Schwarz» nachzulesen.
Dem Titel zum Trotz, handelt es sich
dabei um ein differenziertes Buch, das
Raum für Grautöne lässt. Tagebuchartige
Kapitel, in denen Casella den Fortgang
der Reise schildert und also von der eisigen Schönheit der Berge, den Bausünden
der aufkeimenden Tourismusindustrie
oder der legendären kaukasischen Gastfreundschaft berichtet, kontrastieren
mit Einschüben, die Schlaglichter auf die
Geschichte des Gebiets werfen.
Wie die imperiale Expansion des Zarenreichs, die Unterwerfung unter das
Sowjetsystem oder die stalinistischen
Deportationen den Kaukasus zerfurcht
haben, deuten die kurzen Ausführungen
zwar nur an. Sie vermitteln aber immerhin einen Eindruck von den unzähligen
Bruchlinien, die den Boden durchlaufen,
auf dem Europas höchste Berge stehen –
viele davon sind sinnigerweise wie der
Elbrus erloschene Vulkane. Ihre Gipfel
erreicht man beschwingt, wenn man sich
lesend an Casellas Seilschaft hängt. Und
hoch oben von der Ferne träumend, sieht
man denn auch über die vielen sprachlichen Unzulänglichkeiten des Buchs hinweg. Am Schluss zählt schliesslich nur
das Überleben. ●
Viel kann eine Frau auf die Palme bringen. Was aber
treibt sie auf Bäume? Jochen Raiss’ Buch zu glauben,
befand sich die Damenwelt zwischen 1920 und 1950
ziemlich oft im Geäst. Bei einem Streifzug über den Flohmarkt ist der Sammler per Zufall auf das Foto einer Frau
auf einem Baum gestossen; später ist ihm das Motiv auf
Amateurbildern immer wieder begegnet, und nun hat
er ihm einen ganzen Band gewidmet. Er zeigt Frauen,
die entspannt wie Faultiere in den Bäumen liegen, keck
wie Bergsteigerinnen die Stämme hochklettern oder
drapiert wie Models im Blätterwerk posieren. Vor allem
aber zeigen die künstlerisch anspruchslosen Bilder Momente privaten Glücks: Die schäumende Leichtigkeit
des Lebens ist es, die die Frauen in die Höhe trägt, denkt
man beim Blättern und lächelt leise, auch wenn man mit
beiden Füssen auf dem Boden steht. Claudia Mäder
Jochen Raiss (Hrsg.): Frauen auf Bäumen. Hatje Cantz,
Berlin 2016. 112 Seiten, 55 Abbildungen, Fr. 21.90.
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Briefe Karl Jaspers hat nicht enthusiastisch, aber rege korrespondiert. Eine Auswahl von 2000 Briefen
zeigt den Philosophen als kritischen Ratgeber und macht Hintergründe seines Schaffens fassbar
KeinebilligeAutorität,
keinefalscheHarmonie
Karl Jaspers: Korrespondenzen. Hrsg. von
M. Bormuth, C. Dutt, D. Engelhardt,
D. Kaegi, R. Wiehl, E. Wolgast. Wallstein,
Göttingen 2016. 3 Bde., 2292 S., Fr. 121.–.
Von Florian Bissig
Kurz, bündig, ehrlich
Zahllose Anfragen um Rat, Referenzen
oder anderen Sukkurs richteten sich an
Jaspers. Er hilft – aber nie, ohne genau
hinzuschauen. Hans-Georg Gadamers
Bitte von 1949, einen Beitrag zu einer
Heidegger-Festschrift zu leisten, lehnt er
ab. Mit dem Band sollte Heidegger rehabilitiert werden, weshalb die Mitarbeiterliste möglichst breit sein und auch «aus
Deutschland Vertriebene und von Heidegger Gekränkte» enthalten sollte. Jaspers stösst sich an Gadamers banalisierender Wortwahl: «Das sind nicht Kränkungen, sondern Ereignisse in der Tiefe,
wo Ethos und Philosophie wurzeln.
Nichts geschieht dort, was nicht zu heilen wäre. Aber die Heilung muss in der
gleichen Tiefe geschehen und nicht
durch den Schein einer Überdeckung.»
In den Briefwechseln mit Philosophenkollegen, die Dominic Kaegi und
Reiner Wiehl ausgewählt haben, ist Jaspers oft in der Rolle des Mentors und
warnt etwa frischgebackene Professoren
vor der «Verkapselung in die billige Autorität des Amtes». Zu fachlichen Fragen
antwortet er meist knapp. Der junge Gadamer etwa berichtet ihm ausführlich
von einem Kolloquium, das er in Marburg zu Jaspers’ Buch «Die geistige Situa-
Einzelkämpfer geblieben
Karl Jaspers mit
seiner Frau Gertrud
in der gemeinsamen
Wohnung in Basel,
1968.
THOMAS HOEPKER / MAGNUM
Wenn Briefe oder Notizen eines Autors
postum erscheinen, ergänzen sie sein zu
Lebzeiten gepflegtes Bild nicht immer
vorteilhaft. So geschah es unlängst mit
Martin Heideggers «Schwarzen Heften»,
die belegten, dass seine Philosophie und
sein Antisemitismus eben doch unauflöslich verstrickt sind. Da ist Karl Jaspers
– den Überschneidungen im philosophischen Denken zum Trotz – eine Gegenfigur zu Heidegger, der sich als Rektor in
den Dienst des Nationalsozialismus stellte und seine jüdischen Kollegen verriet.
Als «jüdisch Versippter» stand Jaspers
selbst im Visier des Regimes. Er lehnte
die Trennung von seiner jüdischen Frau
ab, wurde so von seiner Heidelberger
Professur abgesetzt und erhielt Publikationsverbot. Das Ehepaar lebte jahrelang
in der Angst vor der Verhaftung. Für diesen Fall waren sie mit Zyankali-Kapseln
ausgerüstet: Jaspers wäre mit seiner
Frau in den Tod gegangen. Nach Kriegsende bemühte er sich um den Wiederaufbau der Universität Heidelberg und
trat als engagierter Publizist hervor, etwa
zur Schuldfrage, zur Wiedervereinigung
oder zur Atombombe.
Die hier anzuzeigenden Briefbände,
eingeteilt in Philosophie, Politik und
Universität, Psychiatrie, Medizin und
Naturwissenschaften, präsentieren zwar
tion der Zeit» abgehalten hat. Als er Jaspers eigene Aufsätze zuschickt, lässt ihn
dieser lediglich wissen, er nehme Kenntnis von Gadamers «Haltung im Philosophieren – vorbereitend, wie mir scheint,
die Geschichte ernst nehmend und zunächst das aneignende Verstehen der
philosophischen Werke der Vergangenheit als gemässen Weg des Vorangehens
wählend». Das musste dem Begründer
der philosophischen Hermeneutik als
Feedback genügen. Auch im Dialog mit
Karl Löwith, mit dem er in Nietzsche ein
gemeinsames Exegese-Thema hat, sucht
Jaspers keine falsche Harmonie. Nachdem ihm Löwith begeistert von seiner
Zarathustra-Relektüre berichtet, informiert er ihn bündig: «Ich vermute eine
radikale Differenz zwischen uns in der
Nietzsche-Auffassung, die wiederum
gründet in einer Differenz über den Sinn
von Philosophie überhaupt.»
«nur» rund 2000 von etwa 35000 überlieferten Briefen. Doch die von drei
Herausgeberduos nach Kriterien der
Relevanz und Wirkmächtigkeit der Briefpartner zusammengestellte Auswahl
vermag zu zeigen, dass Jaspers seine aufrechte Haltung auch unter schwierigsten
Umständen wahrte.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
Jaspers war kein enthusiastischer Briefeschreiber. Aufgrund einer lebenslangen
Atemwegserkrankung musste er seine
Kräfte einteilen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Briefe schrieb er aus
Notwendigkeit, um Kontakt mit Kollegen
und Freunden zu halten. So bietet die
dreibändige Auswahl kaum Substanzielles zu Jaspers’ Werk. Doch eine Vielzahl
seiner Themen, von der Beschreibung
psychopathologischer Phänomene über
die philosophische Existenzerhellung bis
hin zur Idee der Universität, werden hier
in ihren biografischen, akademischen
und gesellschaftlichen Kontexten greifbar. Knappe Fussnoten verweisen den
Leser auf verwandte Stellen und Zitate
aus dem publizierten Werk.
Im von Matthias Bormuth und Dietrich von Engelhardt besorgten Band zur
Psychiatrie lässt sich nachvollziehen,
wie sich Jaspers bei den führenden Forschern teilweise widerwillig über die
Entwicklungen der Seelenheilkunst informierte, um seine «Allgemeine Psychopathologie» aufzudatieren, wobei er sowohl die Psychosomatik wie die Psychoanalyse immer vehementer ablehnt. Die
Korrespondenzen mit den Chefredaktoren von «Spiegel», «FAZ» und «Zeit» sind
im Band zur Politik von Carsten Dutt und
Eike Wolgast nachzulesen. Dass Jaspers
auch in der Kommunikation mit der breiteren Öffentlichkeit ein Einzelkämpfer
blieb, zeigt sich, als ihn Max Frisch und
Alfred Andersch 1960 bitten, eine Petition von Intellektuellen zum Algerienkrieg an die französische Regierung zu
unterzeichnen. Solche Sachen hätten
keine Wirkung, schrieb er ihnen. Ausserdem sei er der Ansicht, «dass ‚Intellektuelle’, die ihrerseits corporativ auftreten,
vielleicht immer einen etwas wunderlichen Anblick bieten». ●
Kosmologie Die amerikanische Physikerin Lisa Randall erläutert die Zusammenhänge zwischen dem
Aussterben der Dinosaurier und der Existenz des Homo sapiens
MehrLichtindieDunkleMaterie
Lisa Randall: Dunkle Materie und Dinosaurier. Die erstaunlichen Zusammenhänge
des Universums. S. Fischer, Frankfurt am
Main 2016. 459 S., Fr. 31.90, E-Book 24.–.
Stadtmenschen erscheint ein Nachthimmel selbst bei vermeintlich klarer Sicht
als ziemlich leer. Wer jedoch beispielsweise in der auf über 2000 Meter gelegenen Hochebene beim Teide auf Teneriffa
einmal eine «Sternenführung» miterleben durfte, weiss aus sinnlicher Erfahrung, dass unsere stolze Erde nicht mehr
als ein Staubkorn im All sein kann. Die
US-amerikanische Physikerin Lisa Randall hatte ein analoges Erlebnis in einem
Wüstengebiet von Colorado, als sie durch
eine militärische Nachtsichtbrille schaute. Von dem, was sie dabei sah, erstaunten die heute 54-jährige Harvard-Professorin vor allem die vielen herumsausenden Sternschnuppen.
Täglich tritt in solcher Form an die 50
Tonnen ausserirdisches Material in die
Atmosphäre ein, ohne ernsthaft Schaden
anzurichten. Auf der Erdoberfläche gelandete, nicht verglühte Reste davon
nennt man Meteoriten. Es sind Steine
mit Sammlerwert. Vereinzelt kommt es
jedoch zu Einschlägen von viel grösseren
Brocken mit verheerenden Folgen. Geradezu apokalyptisch muss vor 66 Millionen Jahren das jüngste solcher Ereignisse gewesen sein, als ein mindestens
10 Kilometer grosser Himmelskörper
auf die Uferregion der Yukatan-Halbinsel
im Golf von Mexiko prallte und uns den
180 Kilometer breiten Krater Chicxulub
hinterliess.
Jene Kollision setzte die Energie von
einer Milliarde Atombomben frei, die
Erdoberfläche wurde buchstäblich ge-
MARK GARLICK / GETTY IMAGES
Von André Behr
Vor 66 Millionen Jahren prallte ein 10 Kilometer grosser Himmelskörper
auf das heutige Mexiko und löschte die Hälfte aller Arten aus.
braten, und etwa die Hälfte aller biologischen Arten dürfte ausgestorben sein –
darunter auch die landlebenden Dinosaurier. In ihrem neusten Buch beschreibt Lisa Randall (*1962) diese gigantische Katastrophe ausführlich und mit
Bezug zur sogenannten Dunklen Materie. Danach hat eine Scheibe aus Dunkler
Materie in der Ebene unserer Milchstrasse das Ungetüm auf die für die Erde fatale Bahn gelenkt.
Die Existenz Dunkler Materie wurde in
den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts als waghalsige Hypothese formuliert. Jan Hendrik Oort aus Holland
und der in den USA forschende Schwei-
zer Fritz Zwicky konnten gewisse gemessene Bewegungs- und Dichtemuster in
Galaxien und deren Haufen nicht erklären und vermuteten im Zentrum von
Galaxien zusätzliche Massen, die gravitativ wirken, wie unsere Sonne auf die
Planeten, aber direkt nicht nachweisbar
sind. Inzwischen gehört diese These
zum Standardmodell der Kosmologie
und ist Gegenstand weltweiter Grundlagenforschung.
Dunkle Materie war entscheidend bei
der Entstehung von schweren Atomkernen und Sternen sowie für die Einbindung in Galaxien von in Supernovae gebildeten schweren Elementen, die für
das Leben auf unserem Planeten unentbehrlich sind. Indem Lisa Randall das
Massensterben von Dinosauriern, die
zuvor mehr als 100 Millionen Jahre lang
eine beherrschende Rolle auf unserem
Planeten gespielt hatten, in Zusammenhang mit unserer Umwelt im Sonnensystem bringt, arbeitet sie an einem Entwurf
für ein Gesamtbild von unserem Leben.
Auch der Dunklen Materie, so lautet
Randalls Botschaft, verdanken wir mit
unsere Existenz.
Die amerikanische Forscherin interessiert sich seit ihrer Kindheit für die ganze
Palette der Naturwissenschaften. Ihre
ungebrochene Neugier äussert sich besonders in diesem dritten Buch, in dem
sie über die Physik hinaus auch die Forschungswege der Geologen und Biologen
detailliert nachzeichnet. Es umfasst wieder an die 500 Seiten und verlangt beim
Lesen Ausdauer. Dafür erhält man einen
tiefen Einblick in das Innenleben von
Wissenschaft. Denn Fortschritt in den
Naturwissenschaften braucht beides:
Mutige Spekulationen über vermeintliche Grenzen hinweg und akribisch genaue Detailüberprüfung, die meist sehr
viel Zeit beansprucht. ●
Wissenschaft Daten können so manches belegen – ein Plädoyer für Bedacht im Umgang mit Statistiken
Zahlenreihen sind voller Stolpersteine
Katharina Schüller: Statistik und Intuition.
Springer Spektrum, Berlin 2016.
294 Seiten, Fr. 21.90, E-Book 12.40.
Von George Szpiro
«Big Data» ist zum Modewort geworden.
Nicht nur Firmen wie Google, Amazon,
Facebook oder Apple sammeln Unmengen von Daten, auch Amtsstellen, Meinungsforscher, universitäre Labors tun
dies. Auf Grundlage der angeblich gewonnenen Erkenntnisse sollen wir Bürger dann entscheiden, wen wir wählen,
welches Medikament wir nehmen und
welches Auto wir kaufen.
Nicht zu Unrecht misstrauen Menschen diesen Erkenntnissen, denn jeder
weiss inzwischen, dass nicht nur die
Auswahl von Daten, sondern auch die
Darstellung der Resultate manipuliert
werden kann. Aus diesem Misstrauen
heraus verlasse sich der Durchschnittsbürger dann oft auf sein Bauchgefühl,
auf anekdotische Einzelbeobachtungen
oder Daumenregeln, meint Katharina
Schüller, die eine Unternehmensberatung mit Fokus auf Statistik gegründet
hat. Diesem Missstand will sie in ihrem
anregenden, aber auch nachdenklich
stimmenden Buch «Statistik und Intuition» entgegenwirken.
Schüller beginnt ihr Buch mit einer
Einführung in kritisches Denken. In Dutzenden von Beispielen zeigt sie dann im
Detail, wo sich in der langen Kette vom
Erfassen und Beschreiben der Daten bis
zu den Schlüssen, die aus ihnen gezogen
werden, ungeahnte Stolpersteine verbergen können. Ein Kinderunfallatlas zum
Beispiel vergleicht die Zahl der Unfälle
mit der Anzahl der in den Gebieten lebenden Kinder. Tourismusregionen
kommen dabei schlechter weg, weil die
Zahlen zwar alle Unfälle, aber bloss die
dort wohnhaften Kinder – und nicht die
Ferienkinder – einbeziehen.
Dies ist zwar beeindruckend, aber die
Lektüre lässt auch ein wenig ratlos. Denn
das böse Wort, dass man mit Statistik
alles, was man will, beweisen kann, lässt
sich ja auch auf die Kritik an ihr anwenden: Mit entsprechender Absicht lässt
sich jede statistische Untersuchung bemängeln. Mit ihrer Aufforderung, «alles»
anzuzweifeln, scheint die Autorin etwas
zu viel des Guten getan zu haben. Am
Ende fragt sich der Leser, ob es überhaupt statistisch belegte Hypothesen
gibt, denen man trauen darf, oder ob
schlichtweg jede statistische Analyse in
irgendeiner Weise irreführend sei. ●
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Gesellschaft Michael Nast erklärt, was Männern seines Alters das Eingehen von Bindungen erschwert
Vorsicht vor Kosenamen!
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Edel, Berlin 2016. 239 Seiten,
Fr. 19.90.
Von Simone Karpf
Was sind die Charakteristiken einer Generation? Generation Babyboom, Generation X oder Y – seit je suchen Autoren
nach griffigen Bezeichnungen für ganze
Altersklassen. Michael Nast (*1975), Autor und Kolumnist, reiht sich in diese
Tradition ein und nimmt sich das
Beziehungsverhalten als generationenprägendes Merkmal vor. Im Vorwort
macht Nast klar, dass er weder Psychologe noch Soziologe sei, auch Ratgeberliteratur schreibe er nicht, vielmehr sieht
er sich als scharfer Beobachter seiner Zeit.
Diese ausgeprägte Beobachtungsgabe
führt ihn zum Schluss, dass er selbst,
sein Umfeld und somit eine ganze Generation «beziehungsunfähig» sei. Was auf
den 240 Seiten seines Buches quasi als
Beweisführung für diesen Befund folgt,
ist eine Reihe von Anekdoten, die Michael Nast entweder selbst oder aber
Freunde von ihm erlebt haben. So quält
etwa Christian das Problem, dass er seit
einem halben Jahr keinen Sex mehr mit
seiner Freundin hat. Der Grund dafür
sind Kosenamen wie «Schnüsel» oder
«Puschel», die ihm seine Freundin gibt.
Sie haben dazu geführt, dass sich Christian von seiner Partnerin sexuell nicht
mehr angezogen fühlt. An einer anderen
Stelle erläutert Nast, warum die Wohnungen von Frauen ordentlicher sind als
jene von Männern – was in Liebesbeziehungen zu Problemen führe. «Ich betrachte Putzen als Zeitverschwendung.
Es gibt mir nichts. (...) Frauen haben mir
erklärt, warum sie gerne ihre Wohnung
putzen. Um sich zu erden, um runterzukommen...»
Gegen den Rückgriff auf eigene Erfahrungen und veranschaulichende Beispiele ist im Grunde nichts einzuwenden. Nur vermag Nast nicht über diese
Einzelfälle hinauszukommen – und fühlt
sich dennoch befähigt, Aussagen über
eine ganze Generation zu machen. Seine
Konklusionen gipfeln folglich in Banalitäten sondergleichen: «Wie gesagt, Sex
ist eine sensible Angelegenheit.» oder
«Und darum geht es: sein Leben nicht zu
verschwenden, denn wir haben nur
eins.». Das ist schade, denn die Themen,
die er anschneidet, wären durchaus interessant. So zum Beispiel die Frage, wie
Dating-Apps wie Tinder, die einem die
permanente Verfügbarkeit und eine endlose Auswahl an möglichen Partnerinnen
und Partnern suggerieren, sich auf das
Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen auswirken.
Aber anstatt solche Praktiken in grössere Zusammenhänge zu stellen, inszeniert sich Nast lieber selbst, und zwar
als zweifelnder Intellektueller und als
Mann, der sich, verwirrt durch veränderte Rollenbilder, erst selbst finden muss
«Auch ich bin einer dieser schwierigen
Fälle, an dem Frauen verzweifeln.» ●
Wohin mit Hut, Handschuhen und Spazierstock? Diese bange Frage beutelte
Ende des 19. Jahrhunderts junge Männer aus den besseren Ständen Amerikas, wenn sie im Hause einer Angebeteten vorsprachen. War das Mädchen
zu einer Begegnung im Salon bereit,
durfte der Besucher die Utensilien im
Vorraum ablegen. In der frühen Kolonialzeit waren die Rituale der Paarbildung noch merkwürdiger. Da durften
zwar gemeinsame Probenächte in
einem Bett stattfinden – zuvor mussten
sich die Eheaspiranten jedoch bis zum
Hals in grobe Stoffsäcke einnähen lassen. Der Brauch war als «bundling» bekannt. Das nach 1900 zunehmend auch
in der Öffentlichkeit populäre Petting
war so ausgeschlossen.
So anschaulich führt Moira Weigel in
ihrem weithin beachteten Erstling
Labor of Love. The Invention of Dating
(Farrar, Straus and Giroux, 292 Seiten)
durch die Geschichte des «Dating». Im
Zusammenhang mit Liebeswerben und
Eheanbahnung taucht der Begriff
«date» erstmals 1896 in einer Chicagoer
Zeitung auf, so Weigel. Damit war eine
feste Verabredung zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeint. Diese Art von
erotischer Buchführung war durch die
rapide Industrialisierung der USA möglich und notwendig geworden. Nach
dem Bürgerkrieg fanden Mädchen aus
ärmeren Schichten in grosser Zahl Anstellungen als Verkäuferinnen, Dienstmädchen oder in Fabriken. Der Kontrolle der Eltern entronnen, aber meist
eingepfercht in Wohnheimen, begegneten sie ständig unbekannten und ledigen Männern. Besonders Angestellte in
Kaufhäusern nahmen die Gelegenheit
wahr, Herren aus höheren Schichten zu
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2016
TEGRA NUESS / GETTY IMAGES
Das amerikanische Buch Lebensbund und Liebesbündel: Dating in den USA
Moira Weigel (unten),
Yale-Doktorandin der
Philosophie, widmet
sich in ihrem Buch
dem Dating-Verhalten
der Amerikaner.
beeindrucken. Auch für diese Dates
standen neuartige Örtlichkeiten wie
Cafés bereit.
Die Initiative ging jedoch meist von den
Männern aus, die dank besserer Gehälter die Kosten eines Abends oder Sonntagnachmittags übernahmen. So zerflossen die Grenzen zwischen Dating
und Prostitution. Dass die von Medien
und Moralinstanzen bis heute idealisierte romantische Liebe den rauen
Winden der wirtschaftlichen Realität
ausgesetzt war und bleibt, bildet eine
Erkenntnis des Buchs. Dating wurde zu
einer Form von Konkurrenzkampf, der
besonders auf Mädchen und Frauen lastete. Gipfel dieser Entwicklung waren
die Millionen-Seller von Helen Gurley
Brown in den 1960er Jahren, die Sekretärinnen in ein Beauty-Wettrüsten um
die Gunst der Chefs trieben.
Zeigte sich dieses Rollenverständnis
noch 1995 im Erfolgsbuch «The Rules»
von Ellen Fein und Sherrie Schneider,
so stellt Weigel in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine andere
Tendenz fest: Seit 1910 und verstärkt in
der Depressions- und Weltkriegsära
zeigte sich eine dramatische Lockerung
der Sitten, nicht zuletzt an den zunehmend von Mädchen besuchten Universitäten. Dabei halfen legaler und illegaler Gin, aber auch körpernahe Tänze
und nicht zuletzt das Automobil als
bundle-freier Bettersatz. Dahinter erkennt Weigel als Ursachen unsichere
Lebens- und Einkommensverhältnisse,
die in den 1950ern Wohlstand und dem
neuen Ideal fester Beziehungen schon
für Teenager wichen. Heute klingt
«Going Steady» wie ein Begriff aus der
Steinzeit: Die auch in gebildete Kreise
vordringende Unsicherheit der «GigÖkonomie» mit ihren ständig wechselnden Jobs und Wohnsitzen nimmt
Amerikanern beiden Geschlechtes zunehmend die Grundlage für Lebensbünde. Dank Apps und Internet stehen
dafür endlose Möglichkeiten für Dates
zur Verfügung. Diese erzeugen aber
neue Zwänge der Selbstvermarktung.
Moira Weigel bietet diese Übersicht in
einem flotten Stil. Als Yale-Doktorandin der Philosophie demonstriert die
31-Jährige ihre Lehrjahre an den EliteUniversitäten Cambridge (England)
und Harvard auch mit Seitenhieben
gegen Social-Media-Mogule wie Mark
Zuckerberg, der von den emotionalen
Nöten seiner Kundschaft profitiere. Allerdings liegen Kritiker richtig, die Weigel einen Fokus auf elitäre und heterosexuelle Weisse wie sich selbst vorwerfen. Doch auch so erscheint Liebe als
Luxus, den sich immer weniger Amerikaner leisten können. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Bildergeschichten Stürmischer Hagestolz
Agenda Juli 16
Basel
Freitag, 1. Juli, 20 Uhr
Sofa-Sommer-Sause: Trampeltier of
Love. Text und Tuba mit Matto Kämpf,
Simon Hari und Marc Unternäher,
Eintritt frei, Kollekte.
Nachthafen / Warteck, Burgweg 15.
Infos: www.literaturhaus-basel.ch.
Freitag, 1., bis Sonntag, 3. Juli
21. Internationales Literaturfestival
Leukerbad. Lesungen und Gespräche an
verschiedenen Orten, literarische Spaziergänge etc., Autorinnen und Autoren:
Adolf Muschg, Dragica Rajcić, Monique
Schwitter, Benedict Wells,
Clemens J. Setz (Bild), u.a.
Detailliertes Programm,
Infos zu Veranstaltungsorten und Ticketpreise:
www.literaturfestival.ch.
HANS HOCHSTÖGER
Leukerbad
Rütli
unsere Abbildung entstammt, erzählt er die Geschichte
eines verliebten Hagestolzes. Auf unserem Bild will dieser sich aus Liebeskummer erhängen. Zum Glück ist der
Strick zu lang. Doch dann will der Held wieder der Geliebten hinterher stürzen, vergisst, dass er noch immer
den Hals in der Schlinge hat, und stranguliert sich um ein
Haar. Doch wiederum kommt er davon, denn in seinem
Furor reisst er den Dachbalken mit. Manfred Papst
Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur
Vieux Bois. Avant-Verlag, Berlin 2016. 280 S., Fr. 55.–.
Bestseller Juni 2016
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Donna Leon: Ewige Jugend.
Diogenes. 336 Seiten, Fr. 30.90.
Blanca Imboden: Schwingfest.
Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 25.90.
Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores.
Piper. 512 Seiten, Fr. 30.90.
Hazel Brugger: Ich bin so hübsch.
Kein & Aber. 176 Seiten, Fr. 13.90.
Martin Walker: Eskapaden.
Diogenes. 400 Seiten, Fr. 30.90.
Guillaume Musso: Vierundzwanzig Stunden.
Pendo. 384 Seiten, Fr. 15.90.
Jonas Jonasson: Mörder Anders und seine
Freunde. Carl’s Books. 352 Seiten, Fr. 26.90.
Harlan Coben: Ich schweige für dich.
Goldmann. 416 Seiten, Fr. 20.90.
Viveca Sten: Tödliche Nachbarschaft.
Kiepenheuer & Witsch. 400 Seiten, Fr. 19.90.
Viola Shipman: Für immer in deinem Herzen.
Fischer Krüger. 384 Seiten, Fr. 21.90.
Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90.
Roland Gohl: Unser Weltrekord-Tunnel Gotthard. Weltbild. 144 Seiten, Fr. 35.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90.
Thomas Widmer: Schweizer Wunder.
Echtzeit. 272 Seiten, Fr. 26.90.
Shindy, Josip Radovic: Der Schöne und die Beats.
Riva. 240 Seiten, Fr. 28.90.
Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier.
Campus. 292 Seiten, Fr. 27.90.
Berthold Budde: Chronik der Schweiz.
Weltbild. 256 Seiten, Fr. 37.90.
Jesper Juul: Leitwölfe sein.
Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90.
Peter Wohlleben: Das geheime Leben der
Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90.
Lisbeth Herger: Unter Vormundschaft.
Hier und Jetzt. 200 Seiten, Fr. 42.90.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 14.06.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Winterthur
Dienstag, 5. Juli, 19.30 Uhr
Vea Kaiser (Bild), Catalin Dorian
Florescu: Familienromane.
Lesung und Gespräch.
Moderation: Tom Gisler,
Fr. 25.–. Rosengarten,
Hochwachtstrasse.
Reservation:
052 267 68 60.
INGO PETRAMER
Der Genfer Zeichner und Erzähler Rodolphe Töpffer
(1799–1846) war mit seinen Bildergeschichten ein Vorläufer des Comic. Eigentlich wollte er Maler werden. Ein
Augenleiden stand dem im Wege. Töpffer wurde Lehrer,
eröffnete ein Knabenpensionat und wirkte als konservativer Parlamentarier. In seiner Freizeit zeichnete er
skurrile Bildergeschichten, die nicht nur den alten Goethe begeisterten. Rasch wurde er populär. Töpffer karikierte die feine Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. In «Les Amours de Monsieur Vieux-Bois» (1839), der
Samstag, 2. Juli, 17.30 Uhr
Arno Camenisch: Die Kur. Lesung
mit Apéro und 3-Gang-Menu, Fr. 91.–.
Rütlihaus. Info: www.ruetlihaus.ch.
Freitag, 22. Juli, 14 Uhr
Slam-Poetry-Workshop mit Lars Ruppel.
Für Jugendliche ab 12 Jahren, Fr. 25.–.
Sonnenbad Wolfensberg, Wolfensbergstrasse. Infos: www.lauschig.ch.
Zürich
Mittwoch, 13. Juli, 20 Uhr
Schorsch Kamerun: Die goldenen Zitronen. Lesung, Fr. 30.–. Openair Literatur
Festival im Alten Botanischen Garten,
Talstrasse. Reservation:
www.literaturhaus.ch.
Donnerstag, 14. Juli, ab 20 Uhr
Nell Zink: Der Mauerläufer / Ralf König:
Pornstory. Buchpräsentation und Lesung, Fr. 30.–. Alter Botanischer Garten
(siehe oben).
Samstag, 16. Juli, 20 Uhr
David Mitchell: Lesung und Gespräch.
Moderation: Blas Ulibarri, Lesung der
deutschen Texte: Thomas Sarbacher,
Fr. 35.–. Alter Botanischer Garten
(siehe oben).
Bücher am Sonntag Nr. 7
erscheint am 28.08.2016
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
26. Juni 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Geschichtsunterricht
bei einer 236-Jährigen.
Während die Franzosen im September
1799 die Schlacht um Zürich für sich
entscheiden konnten, sass in ebendieser
Stadt bereits einer unserer Redaktoren
bei seiner Arbeit im stillen Kämmerlein.
Wir verstehen etwas von Geschichte,
weil wir selbst Teil von ihr sind.
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