Mit guten Kontakten wächst die Motivation

Süddeutsche Zeitung vom 01.07.2016
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Fern- studium & Fern- unterricht
Mit guten Kontakten wächst die Motivation
Die Abbruchquoten sind bei der Lehre aus der Ferne vergleichsweise hoch. Was unternehmen
die Hochschulen dagegen?
VON CHRISTINE DEMMER
Weiterbildung steht hoch im Kurs. Vor
allem dann, wenn man des Bachelors
oder Masters zuliebe nicht den Beruf
aufgeben muss, was allein das Fernstudium erlaubt. Im Jahr 2014, das ist die
neueste Zahl, waren nach Angaben des
Anbieterverbands Forum Distance Learning mit Sitz in Hamburg mehr als 423
000 Männer und Frauen im Fernunterricht angemeldet. Nur ein Teil von ihnen
schrieb sich für ein akademisches Fernstudium ein. 2014 entschieden sich mehr
als 154 000 Menschen dafür, das war
ein leichtes Plus von einem Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Über den
anhaltenden Lerneifer könnten sich Lehrer, Politiker und Arbeitgeber eigentlich
freuen – würden nur nicht so viele Studien vorzeitig an den Nagel gehängt.
Die Abbrecherquote ist hoch. Wie hoch
genau, lässt sich nur schätzen, denn die
Anbieter von Fernunterricht weigern
sich, Zahlen vorzulegen. Am liebsten
würden sie noch nicht einmal den
Begriff „Studienabbrecher“ in den
Mund nehmen. „Wir sprechen lieber
von Erfolgsquoten“, sagt Susanne Bossemeyer von der staatlichen Fernuni
Hagen, an der zum Wintersemester
2015/16 knapp 77 000 Studenten eingeschrieben waren. Die Berechnung sei
mühsam, erklärt sie. Zum einen seien
unter den Teilnehmern sehr viele
Berufstätige, die gar keinen Abschluss
anstrebten, sondern nur einzelne Kurse
zur Auffrischung ihres Wissens belegten. Zum anderen kann man ein Fernstudium jederzeit unterbrechen, eine Zeitlang ruhen lassen, dann wieder aufnehmen und sich frei entscheiden, wann
man sich zur Prüfung anmeldet. Absolventen von 2015 können 2003 ebenso
gut wie 2007 oder 2010 mit ihrem Studium begonnen haben. So hat die Fernuniversität Schwierigkeiten, eine
Abschlussquote zu errechnen. Bossemeyer: „Bei wem fängt man an, bei
wem hört man auf?“
Mit just diesem Argument hatte die
Fernuni 2010 eine unvorsichtige Äußerung ihres damaligen Rektors Helmut
Hoyer zu entkräften versucht. Der hatte
die Abschlussquote an seiner Hochschule auf 30 Prozent geschätzt, was im
Umkehrschluss bedeuten würde, dass
sieben von zehn Studierenden ihre Ausbildung in den Sand setzen. Eine Studienabbruchquote von 70 Prozent? Diese
Zahl rief das nordrhein-westfälische
Wissenschaftsministerium als Financier
der Fernuni auf den Plan: Das müsse
sich ändern. Konkrete Zahlen zum Studienabbruch könne sie nicht nennen,
sagt Bossemeyer. Nur so viel könne sie
sagen. Im ersten Studienjahr werfe jeder
zweite Studierende das Handtuch.
Anschließend gleiche sich die Quote an
die der Präsenzuniversitäten an.
Die von der Fernuni im Internet veröffentlichte Statistik der Studierenden und
Absolventen lässt daran zweifeln. Im
Wintersemester 2009/10 beispielsweise,
als insgesamt 66 479 Studenten eingeschrieben waren, legten genau 1327 eine
Bachelor-, Master- oder Diplomprüfung
ab. An einer Präsenzhochschule könnte
man diese Zahl nun mit jener der Studienanfänger drei bis vier Jahre zuvor ins
Verhältnis setzen und so eine ziemlich
genaue Abschlussquote errechnen. Das
funktioniert bei Fernhochschulen nicht,
weil sich die Studenten unbestimmte
Zeit bis zum Examen nehmen können
und überdies viele von ihnen nur einzelne Fächer belegen und nach einem
oder zwei Semestern aussteigen.
Ein ungefähres Bild kann man sich
allenfalls über eine Zeitreihenbetrachtung machen. Bezieht man nämlich die
Zahl der Absolventen eines bestimmten
Jahres auf die Gesamtzahl der in diesem Jahr Studierenden, kommt man beispielsweise für 2009/10 auf eine (studienzeitunabhängige) Erfolgsquote von
circa zwei Prozent. Im Wintersemester
2012/13 studierten insgesamt 83 391
Männer und Frauen an der Fernuni. Da
im selben Jahr 2487 Studierende ihr Studium abschlossen, gelangt man nach
obiger Berechnung auf eine Erfolgsquote von circa drei Prozent. Im Prüfungsjahr 2015 erwarben 2949 Teilnehmer einen akademischen Abschluss. Ins
Verhältnis gesetzt zur Gesamtzahl der
Studierenden – im Wintersemester
2015/16 ungefähr 75 500 – erhält man
eine Erfolgsquote von vier Prozent.
Fortschritte sind also durchaus erkennbar.
Doch im Vergleich mit den Abschlussquoten klassischer Hochschulen
schneidet das Fernstudium schlecht ab.
An Präsenzuniversitäten kommt nach
Angaben des Statistik-Portals Statista
selbst in den als schwierig geltenden
Mint-Fächern (Mathe, Informatik,
Naturwissenschaften, Technik) im
Durchschnitt mehr als jeder zweite Student ans Ziel. In den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
beträgt die Erfolgsquote sogar 78,2 Prozent.
Ob die von der staatlichen Fernuni
Hagen im Wintersemester 2015/2016
eingeführte höhere Studiengebühr für
Unterrichtsmaterial und Betreuung mehr
Teilnehmer als bisher zum Abschluss
bringen, bleibt abzuwarten. Nach Angaben der Hochschule liegen die Kosten
im Teilzeitstudium bei bis zu 200 Euro
je Semester, im Vollzeitstudium bei bis
zu 400 Euro. Doch selbst private Fernhochschulen, deren Unterricht deutlich
mehr kostet, klagen hinter vorgehaltener Hand über hohe Schwundraten.
Nach Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft lebenslanges Lernen durch Fernstudium (AGLL Fernstudium) in Hamburg liegen die Abbrecherquoten bei 20
bis 35 Prozent. Genaue Erhebungen gibt
es nicht, denn in der Branche herrscht
das Gesetz des Schweigens. Die Wilhelm Büchner Hochschule in Darmstadt
mauert ebenso wie die Fernhochschule
Akad University in Stuttgart. „Die Zahlen tragen wir nicht in die Öffentlichkeit“, sagt Akad-Mitarbeiterin Sandra
Lauer. Mit Hochdruck arbeite man
daran, mehr Teilnehmer als bisher zum
Abschluss zu führen.
Seit Beginn dieses Jahres werden AkadFernstudenten vor Studienbeginn zu
einem kostenlosen zweitägigen Workshop in Stuttgart eingeladen. „Da erklären wir das Studienmodell, stellen wissenschaftliche Arbeitsmethoden vor und
gehen auf das richtige Zeitmanagement
ein“, sagt Lauer. Außerdem lernten die
Studenten dort Professoren und Kommilitonen kennen: „So können sie schon
erste Kontakte knüpfen und sich ein bisschen an die Hochschule gewöhnen.“
Weitere Ideen zielen auf eine bessere
Betreuung der Studierenden durch
Hochschulmitarbeiter ab. Hier stecke
man aber noch mitten in der Testphase.
Auch die Fernuni Hagen experimentiert
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mit Lösungsmöglichkeiten. So hat sie
zum Beispiel ein „Study-BuddySystem“ eingeführt, bei dem erfahrene
Studierende den Anfängern zur Seite
stehen. Künftig wird vor Studienbeginn
ein „Selfassessment“ obligatorisch sein,
mit dem Bewerber mehr über die Besonderheiten des Fernstudiums erfahren und
ihre persönliche Eignung testen können.
Wie groß das Geheimnis auch immer
ist, das die Fernhochschulen um ihre
unterwegs abhandengekommenen Studenten machen: Es sind nur statistische
Mittelwerte. Für Fortbildungswillige
sind sie von begrenzter Aussagekraft,
denn es hängt nicht von theoretischen
Wahrscheinlichkeiten ab, wie das eigene
Studium verläuft. Stattdessen von der
Motivation, der Selbstdisziplin, dem
Durchhaltewillen und den Rahmenbedingungen. Ein Fernstudium wird nachweislich am ehesten abgebrochen, wenn
sich die Studenten isoliert fühlen, wenn
sie schlecht planen können, wenn es
lange dauert bis zu einem ersten
Abschluss, und wenn das persönliche
Umfeld das Vorhaben nicht unterstützt.
Darum ist es wichtig, sich genau über
die Inhalte des Studiums und den zu
erwartenden Zeitaufwand zu informieren und sich mit Familie und Kollegen
abzustimmen.
Während des Studiums helfen persönliche Kontakte zu Kommilitonen und
Dozenten über Formtiefs hinweg und
unterstützen dabei, das langfristige Ziel
nicht aus den Augen zu verlieren: den
erfolgreichen Abschluss des Fernstudiums.
In Workshops kann man schon vor
Beginn der Ausbildung andere Studenten und Dozenten treffen
Bei einem „Selfassessment“ erfahren
Aspiranten mehr über ihre Eignung
für das Studium
E-Learning hat den Vorzug, dass man sich in der Natur weiterbilden kann. Das birgt aber auch die Gefahr,
dass man sich ablenken lässt. Foto: Imago
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