J. Tauber: Arbeit als Hoffnung. Jüdische Ghettos in - H-Soz-Kult

J. Tauber: Arbeit als Hoffnung. Jüdische Ghettos in Litauen 1941–1944
Tauber, Joachim: Arbeit als Hoffnung. Jüdische
Ghettos in Litauen 1941–1944. Berlin: de Gruyter Oldenbourg 2015. ISBN: 978-3-11-0414769; X, 442 S.
Rezensiert von: Svenja Bethke, Modern European History, School of History, University of
Leicester
Joachim Taubers Habilitationsschrift über die
Organisation des jüdischen Arbeitseinsatzes
in den litauischen Ghettos im NS-besetzten
Osteuropa zeigt, wie fruchtbar sich gegenwärtige politische und juristische Entwicklungen auf die historische Forschung auswirken können. Anschaulich umreißt Tauber
die Impulse, die zur Entstehung seiner Studie beigetragen haben. Einen wichtigen Anstoß bildete das sogenannte Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen
in einem Ghetto (ZRBG) von 2002, das vorsah, Menschen, die in einem nationalsozialistischen Ghetto gearbeitet hatten, Rentenansprüche aus der deutschen Rentenversicherung zu gewähren. Angesichts einer skandalösen Ablehnungsquote wurden Historiker
damit beauftragt, in Gutachten zu klären, ob
die von den Antragstellern geschilderten Zustände zutreffend gewesen sein können. Im
Mittelpunkt stand dabei meist die Frage nach
den Arbeitsbedingungen.1 Diese Gutachten
machten deutlich, wie wenig über die Ghettos
bekannt war, die man bis dato in erster Linie
als „Vorstufen zur Vernichtung“ interpretiert
hatte. Joachim Taubers Buch ist einer neueren
Ghettoforschung zuzuordnen, die bestrebt ist,
die Ghettos nicht primär als „Todesräume“,
sondern auch als „Lebenswelten“ zu beschreiben, ohne dabei den Zwangscharakter der
von den Deutschen eingerichteten Gemeinschaften aus dem Blick zu verlieren.2
Joachim Tauber setzt an, indem er untersucht, auf welche Weise die deutschen Besatzer in Litauen den „jüdischen Arbeitseinsatz“ organisierten und wie sich das auf die
Lebensrealität der betroffenen Menschen auswirkte. In diesem Bereich, so Taubers These,
„trafen sich die Interessen der deutschen Besatzer und Arbeitgeber, die der Führung des
Ghettos – und nicht zuletzt teilweise auch der
betroffenen Menschen“ (S. 2). Taubers besonderer Verdienst besteht darin, dass er die na-
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tionalsozialistischen Ghettos in Litauen (vor
allem in Vilnius, Kaunas und Šiauliai) in den
Fokus rückt, die im Vergleich zu den großen
Ghettos im besetzten Polen in der Forschung
bisher eine geringe Beachtung gefunden haben.3 Im besetzten Litauen macht Tauber eine besondere „Dynamik“ aus, „die die Ghettos (...) immer mehr Arbeitslagern ähneln ließ,
bis schließlich in der langsamen Umgliederung nach der Übernahme durch die SS im
Herbst 1943 sich in der Tat Strukturen abzeichneten, die denen der Konzentrationslager entsprachen“ (S. 4). Tauber betont, dass
sich gerade in Hinblick auf den Stellenwert
der „jüdischen Arbeit“ zentrale Konfliktlinien und widerstreitende Interessen der deutschen Besatzer nachzeichnen lassen. Dies sei
umso mehr für die im besetzten Litauen eingerichteten Ghettos von Belang, wurden diese schließlich anders als die Ghettos im besetzten Polen nicht als Provisorien, sondern
bereits mit der Absicht eingerichtet, die dort
eingepferchten Menschen systematisch zu ermorden.
Joachim Tauber stützt seine Ausführungen
auf Quellen, die er in deutschen, litauischen,
amerikanischen und israelischen Archiven erhoben hat. Seine breite Materialbasis ermöglicht es ihm, sowohl die deutsche Perspektive, die Perspektive der internen Judenräte
als auch – in Form von Memoiren, Tagebüchern und Zeugenaussagen im Rahmen der
1 Zu
dem ZRBG vgl. Jürgen Zarusky (Hrsg.), Ghettorenten, Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, Oldenburg 2010; Stephan Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzesauslegung. Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011.
2 Zutreffend machte Tim Cole in der Forschung eine
Gegenüberstellung von „arischen Lebensräumen“ und
„jüdischen Todesräumen“ aus. Tim Cole, Holocaust City. The Making of a Jewish Ghetto, New York 2003, S. 7.
Vgl. Imke Hansen / Katrin Steffen / Joachim Tauber
(Hrsg.), Lebenswelt Ghetto. Alltag und soziales Umfeld während der nationalsozialistischen Verfolgung,
Wiesbaden 2013; Dalia Ofer, Everyday Life of Jews under Nazi Occupation. Methodological Issues, in: Holocaust and Genocide Studies 9 (1995), Nr. 1, S. 42–69.
3 Die wenigen vorhandenen Studien für Litauen beziehen sich zumeist auf das Ghetto in Vilnius. Vgl. Yitzhak
Arad, Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction
of the Jews in Wilna in the Holocaust, New York 1982;
Gudrun Schroeter, Worte aus einer zerstörten Welt. Das
Ghetto in Wilna, St. Ingbert 2008.
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ZRBG-Verfahren – diejenige der in den Ghettos lebenden Menschen in seine Studie zu integrieren. Das Buch ist schlüssig in sechs Kapitel gegliedert, die die deutsche Maßnahme
der Ghettoisierung im besetzten Litauen, das
Ghetto als Wirtschaftsbetrieb, als Lebens- und
Zwangsgemeinschaft, das historische Verhältnis zwischen Litauern und Juden und schließlich die Auflösung der Ghettos im Zeichen der
Massenmorde beleuchten.
Tauber zeigt anschaulich, welche Konsequenzen die deutschen Absichten und das
Wissen der jüdischen Instanzen um die Absichten für die Ausgestaltung des Arbeitseinsatzes der Ghettobewohner und für die Ghettogesellschaften hatten. Somit berührt die Studie eine zentrale Frage in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – die Frage danach, wie der Holocaust möglich war.
Gerade in der Auseinandersetzung mit dem
Arbeitseinsatz treten die widerstreitenden Interessen der Deutschen und der verzweifelte Versuch der Judenräte zu Tage, sich deutsche Interessen zu Nutzen zu machen, um das
Überleben zu sichern.
Das Neue an Taubers Studie ist, dass er das
bisher tradierte Bild in Frage stellt, das Arbeit
in den Ghettos in erster Linie mit „Zwangsarbeit“ gleichsetzt. Tauber schlüsselt überzeugend auf, wie es zu der Entstehung dieser einseitigen Interpretation kommen konnte. Nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten viele Holocaustüberlebende dem schnell
formulierten Vorwurf der „Kollaboration’ zu
entgehen. Das schloss mitunter auch den Vorwurf ein, für die Deutschen gearbeitet zu haben. Tauber weist darauf hin, dass viele Holocaustüberlebende rückblickend den Zwangscharakter des Arbeitseinsatzes betonten, um
entsprechende Anschuldigungen von sich zu
weisen. Zweifelsohne gab es das zwanghafte
Moment in der ghettointernen Arbeitssphäre.
Zudem zeigt Tauber jedoch die Ambivalenz,
die sich aus Sicht der Ghettobewohner mit
der Arbeit verband, weil sie für jüdische Menschen eben auch mit der Hoffnung auf Überleben verknüpft war. Tauber verweist auf eine
partielle „Interessenidentität zwischen Tätern
und Opfern“ (S. 410). „Nur weil der Arbeitseinsatz Vorteile für beide Seiten bot, erreichte er diesen Umfang, entwickelten sich ausdifferenzierte Strukturen“ (ebd.), so Taubers
zentrale These. Diese Argumentation überzeugt und fördert insbesondere in den Kapiteln Neues zu Tage, in denen Tauber die Bedeutung der Arbeit für die Ghettobewohner
veranschaulicht. Er zeigt, wie Arbeit zunehmend mit dem „Recht auf Leben“ verknüpft
war, jedoch auch, welchen individuellen Stellenwert sie für die Menschen hatte, weil sie es
vermochte, von den Bedingungen im Ghetto
zumindest zeitweise abzulenken. Damit reiht
sich Taubers Buch in eine Tendenz der Holocaustforschung ein, die fernab von SchwarzWeiß-Kontrastierungen die Ambivalenzen im
Verhältnis zwischen Tätern und Opfern aufzeigt.4
Mit seiner Arbeit leistet Tauber nicht nur
einen Beitrag zur Alltagsgeschichte der von
den Deutschen durch die Ghettos errichteten
Zwangsgemeinschaften, sondern er schreibt
in gewisser Weise auch eine kulturwissenschaftlich inspirierte Wirtschaftsgeschichte.
In deren Mittelpunkt stehen die Ghettos
als spezifische Räume, in denen deutsche
(Ausbeutungs-) Interessen, der Umgang der
Judenräte mit diesen Interessen und der Stellenwert der Arbeit für die ghettoisierten Menschen aufeinandertrafen.
Taubers Studie bereichert die Ghettoforschung um aussagekräftige Fallstudien zu
Ghettos im litauischen Raum. Diese können
ein bisher sehr unvollständiges Bild ergänzen, das durch einen deutlichen Forschungsschwerpunkt auf den großen Ghettos im besetzten Polen wie Warschau und Lodz entstanden ist. Zweifelsohne überzeugt auch
Taubers abschließendes Kapitel durch einen
Vergleich mit den Ghettos in Riga, Białystok
und Weißrussland. Fraglich ist dennoch, ob
nicht zusätzlich ein Vergleich mit den gut erforschten, früher eingerichteten Ghettos im
besetzten Polen Spezifika in Litauen hätte hervorheben können.
Dies schmälert jedoch nicht den positiven
Gesamteindruck der Studie und zeigt nur
einmal mehr das Erfordernis, vergleichende Studien gerade im Bereich der Ghettoforschung zu verfassen, um den jahrzehntelang dominierenden Eindruck entgegenzu4 Vgl.
bspw. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung.
Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2011.
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J. Tauber: Arbeit als Hoffnung. Jüdische Ghettos in Litauen 1941–1944
wirken, dass die Ghettos in erste Linie Wartesäle auf dem Weg in die Vernichtung waren. Für den geographischen Raum des NSbesetzten Litauens hat Tauber hier wichtige
Grundlagenforschung geleistet, an die Folgeprojekte anknüpfen können. Insbesondere
zeigt seine gelungene Arbeit die Verknüpfung
von deutschen Interessen und Zwangsmaßnahmen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die als jüdisch klassifizierte Bevölkerung.
HistLit 2016-3-001 / Svenja Bethke über Tauber, Joachim: Arbeit als Hoffnung. Jüdische Ghettos in Litauen 1941–1944. Berlin 2015, in: HSoz-Kult 01.07.2016.
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