Vox populi, vox Rindvieh?

leitartikel
Vox populi, vox Rindvieh?
Volksabstimmungen sind ein Spiegel für die Gesellschaft. Er zeigt, was ist. Und nicht das,
was man gerne hätte.
W
von Alexandra
Aschbacher
Das Volk in seiner
Mehrheit ist nicht
dümmer oder
klüger als eine
Parlamentsmehr­
heit. Das Volk, das
abstimmt, kann
genauso viel oder
wenig daneben­
liegen wie die
Politik.
er kennt nicht die wundersamen Einfälle der Bürger von Schilda? Einmal
zum Beispiel bauten sie ein dreieckiges Rathaus – der Plan stammte vom Schweinehirten, der sich stolz rühmte, schon den schiefen
Turm von Pisa erbaut zu haben. Bei der feierlichen Einweihung kam es zum Chaos. Die drin
waren, wollten wieder heraus. Die draußen standen, wollten hinein. Es gab ein fürchterliches
Durcheinander – im Rathaus war es nämlich
stockdunkel. Man hatte die Fenster vergessen.
Also schaufelten die Schildbürger den Sonnenschein in Eimer und Kessel, andere hielten Kartoffelsäcke ins Sonnenlicht, banden die Säcke zu
und schleppten sie ins Rathaus. Aber so sehr man
sich auch mühte – es wurde nicht heller.
Die Europäische Union sowie ihre einzelnen
Nationalstaaten sind ein bisschen wie Schilda.
Nur viel größer. Auch darf man den Schildbürgern zugute halten, dass sie ein wenig dumm waren und zu wenig nachdachten. In der EU und
im aktuellen Fall von Großbritannien ist das etwas anders. Die Mehrheit der Briten ließ sich
bei vollem Bewusstsein von Rattenfängern wie
Nigel Farage oder Boris Johnson an der Nase
herumführen.
Abgeklärte Demokraten werden nun freilich sagen: Das ist eben der Wille des Volkes. So
funktioniert Demokratie. Würde jemand etwas
anderes behaupten, er würde schnell als schlechter Verlierer und als noch schlechterer Demokrat
abgeurteilt werden.
In Großbritannien hat es nun gesprochen: das
Volk. Es hat Nein gesagt zum Verbleib in der EU
und Ja zum Brexit, also für den Austritt aus der
EU. Jetzt ist der Katzenjammer bei vielen groß,
Ernüchterung stellt sich ein. Etwa drei Millionen
Menschen unterzeichneten innerhalb kürzester
Zeit eine Onlinepetition zur Wiederholung der
Abstimmung. Junge Menschen, die mit großer
Mehrheit für den Verbleib gestimmt haben, protestieren auf den Straßen. Die EU-freundlichen
Schotten wollen erneut über ihren Verbleib im
vereinigten Königreich abstimmen. Die Parteien
sind zerstritten und gespalten wie noch nie.
® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl Das Volk hat gesprochen, aber der Spruch hat
keine Klarheit gebracht. Das ansonsten so coole
und selbstironische britische Volk hat sich selbst
in die Krise gestürzt.
Man kann jetzt darüber streiten, ob Volksabstimmungen bei so großen nationalen Fragen tatsächlich dem Gemeinwohl dienen. Ob zutrifft,
wie der legendäre bayerische Ministerpräsident
Franz Josef Strauß seine Wähler anzusprechen
pflegte: „Vox populi, vox Rindvieh“ (in Anlehnung an die lateinische Sentenz „Vox populi vox
Dei“: Volkes Stimme ist Gottes Stimme.
Das Volk in seiner Mehrheit aber ist nicht
dümmer oder klüger als eine Parlamentsmehrheit. Das Volk, das abstimmt, kann genauso viel
oder wenig danebenliegen wie die Politik, der es
sein Vertretungsmandat gegeben hat. Die Gefahr
des Populismus existiert in der repräsentativen
wie auch in der direkten Demokratie.
Allerdings hat auch die direkte Demokratie
ihre Tücken. Eine Abstimmung dieses Ausmaßes
sollte klarere Regeln und Hürden vorsehen. Ein
höheres Zustimmungsquorum zum Beispiel oder
eine Mindestbeteiligung. All das gab es beim
Brexit-Referendum nicht.
In derart existenziellen Fragen ist zu überlegen, ob die Volksabstimmung auch wirklich das
richtige Mittel ist. Nicht immer entspricht der
Mehrheitswille unbedingt dem Allgemeinwohl.
Schon der griechische Philosoph Platon warnte,
dass eine Demokratie in reinster Form die Tyrannei hervorbringen könnte.
Und was den Katzenjammer betrifft: Es
reicht, wenn sich dieser im Vereinigten Königreich einstellt. Die Europäische Union sollte sich
jetzt nicht die Wunden lecken, sondern erst recht
alles dafür tun, um zusammenzuwachsen. Wer
nicht bleiben will, der soll gehen. Der britische
Abschied wirbelt viel durcheinander, die europäische Idee liegt am Boden. Das ist schlimm. Man
kann es aber auch als Chance für bessere Zeiten
sehen.
Zurück nach Schilda: Dort haben es die Bürger irgendwann doch kapiert, dass man Fenster
braucht. Sie wurden rasch in die Mauer gebron
chen. Und es wurde hell.
No. 26 / 2016