M. Poppe: Öl - H-Soz-Kult

M. Poppe: Öl- und Treibstoffpipelines
Poppe, Michael: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 5:
Öl- und Treibstoffpipelines. Baden-Baden: Nomos Verlag 2015. ISBN: 978-3-8487-2738-4;
Broschiert
Rezensiert von: Irene Pallua, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck
Infrastrukturen wie Hochspannungsleitungen und Pipelines, die der Energieverteilung und Energieversorgung dienen, bilden
die Adern der energieintensiven Lebens- und
Wirtschaftsweise Europas. Trotz ihrer eminenten wirtschaftlichen Bedeutung und gesellschaftlichen Transformationskraft haben
Energietransport- und Transmissionstechnologien in der historischen Forschung bislang
wenig Aufmerksamkeit erfahren.1
Michael Poppes 2015 an der Universität
Siegen angenommene Dissertation über Ölund Treibstoffpipelines unternimmt den Versuch, diese Forschungslücke zu füllen und anhand archivarischer Quellen die Entwicklung
der Pipelines zu einem dominanten Transportsystem für Erdöl nachzuzeichnen. Poppe
konzentriert sich hierbei nicht nur auf zivil
genutzte Pipelines, sondern beschäftigt sich
auch mit den für militärische Zwecke konzipierten NATO-Pipelines. Dabei stehen Fragen
nach den Entstehungswegen, Organisationund Betriebsformen von nationalen und länderübergreifenden zivilen und militärischen
Pipelinenetzen, politischen Einflussmöglichkeiten und anderen durch gesetzliche Regelungen sowie nach begünstigenden und
hinderlichen Faktoren dieser Entwicklungen
im Vordergrund. Den räumlichen Schwerpunkt setzt Poppe auf die von der NATO als
„Central Europe“ (S. 20) bezeichneten Staaten Frankreich, Bundesrepublik Deutschland
und die BENELUX-Länder, wobei speziell der
Zeitraum von 1950 bis 1970 ausgeleuchtet
wird – also die Zeit, in der sowohl die zivilen als auch die militärischen Netze aufgebaut und im Wesentlichen fertiggestellt wurden. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Je ein
Teil beschäftigt sich mit den zivilen bzw. den
militärischen Pipelines, ein dritter nimmt eine
vergleichende Perspektive ein.
Im ersten Teil wird zunächst die Trans-
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portinfrastruktur beschrieben, die die europäische Versorgung mit Erdölprodukten bis
Ende der 1940er-Jahre gewährleistete. Diese
bestand aus wenigen Häfen, welche von den
immer größer werdenden Öltankern angelaufen werden konnten. Von hier wurden die
Erdölprodukte dann mittels der klassischen
Verkehrsträger Eisenbahn, Binnenschiff und
Tankwagen verteilt. Mit Anwachsen des Erdölkonsums und der Errichtung erster Raffineriezentren traten in den 1950er-Jahren zunehmend Pipelines für Rohöl und Erdölprodukte in Konkurrenz zu diesen etablierten Infrastrukturen, die angesichts der wachsenden Nachfrage nach Erdölprodukten und
Rohöl bald ihre Kapazitätsgrenzen erreichten.
Pipelines ermöglichten hingegen eine schnelle, kontinuierliche und kostengünstige Verteilung des begehrten Rohstoffs.
Angesichts dieses offensichtlichen „Verdrängungswettbewerbs“ (S. 33) kam bald die
Frage auf, ob die Errichtung und der Betrieb von Pipelines einer staatlichen Kontrolle unterworfen werden sollten, wie es bei anderen Verkehrsinfrastrukturen durchaus üblich war, oder ob die Pipelines den privaten Mineralölgesellschaften überlassen und
die klassischen Verkehrsträger dieser Konkurrenz ungeschützt ausgesetzt werden sollten. Aufgrund internationaler Verflechtungen
zwischen den großen Mineralölkonzernen,
welche durch die Errichtung eines Pipelinenetzes ihr Marktpotential erweitern wollten,
betraf diese Problematik nicht nur einzelne
Länder, sondern war von gesamteuropäischer
Bedeutung. Poppe diskutiert vor diesem Hintergrund die Einflussmöglichkeiten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf
die Pipelineinfrastruktur. Zwar erkannte die
EWG die verkehrspolitische Bedeutung der
Pipelines, scheiterte jedoch bei ihrem Versuch,
ab Anfang der 1960er-Jahre gezielt koordinierende und gesetzgeberische Maßnahmen zu
1 Erst
kürzlich veröffentlichte Ausnahmen sind: Christopher F. Jones, Routes of Power. Energy and Modern America, Cambridge, MA 2014; Miriam A. BaderGassner, Pipelineboom. Internationale Ölkonzerne im
westdeutschen Wirtschaftswunder, Baden-Baden 2014.
Poppe führt Bader-Gassners Arbeit zwar als „geschichtswissenschaftliche Arbeit zu zivilen Pipelines“
an und spricht sogar einige ihrer Aspekte an (S. 25).
Unverständlich bleibt aber, dass an dieser Stelle weder
Autorin noch Titel genannt werden.
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setzen. „Sie wollten – aber sie konnten nicht“,
so fasst Poppe die Möglichkeiten der EWG
plakativ, aber treffend zusammen (S. 88). Das
mag auch für die europäische Verkehrsministerkonferenz (CEMT) gelten, welche für den
Binnenverkehr zuständig war und sich an
Pipelines durchaus interessiert zeigte. Da sich
ihre Kompetenzen jedoch auf Empfehlungen
beschränkten und sich hier – ähnlich wie in
den Institutionen der EWG – divergierende
nationale Interessen gegenüberstanden, besaß
sie ebenso wenig Einflussmöglichkeiten. Eine
grenzüberschreitende Integration der Pipelineinfrastruktur erfolgte daher durch die Mineralölkonzerne selbst.
Ähnliches gilt auch für Deutschland und
die Niederlande: Die Politik hatte hier generell nur einen geringen Anteil an der Entstehung der Pipelines und hielt sich in der Gesetzgebung stark zurück, an eine öffentliche
Finanzierung wurde nicht gedacht. Als wichtige Voraussetzung für den Aufbau des Pipelinenetzes nennt Poppe den von der BRD bzw.
den Niederlanden betriebenen Ausbau der
Häfen Bremerhaven und Rotterdam. Anders
war es in Frankreich, dessen Mineralölsektor
nach dem Zweiten Weltkrieg staatlich reguliert wurde. Hier war der Aufbau der Pipelineinfrastruktur eine durchaus politisch herbeigeführte Entscheidung, die von der Schaffung
rechtlicher Grundlagen begleitet war. Nicht
nur zivile Pipelines, die per Gesetz zu öffentlichen Einrichtungen wurden, sondern auch
militärische wurden von der 1950 gegründeten gemischtwirtschaftlichen Société des
Transports Pétroliers par Pipelines (TRAPIL)
gebaut, betrieben und teils auch finanziert.
Im zweiten Teil, der sich mit der Errichtung der militärischen Pipelineinfrastruktur
der NATO befasst, nimmt Poppe zunächst
die Entstehung der von den Alliierten im Zuge ihres militärischen Vormarsches auf dem
europäischen Festland 1944/1945 errichteten
Pipelines in den Blick. Auch wenn diese nach
dem Krieg zum Großteil wieder abgetragen
wurden, waren „Pipelines [. . . ] kein absolutes Neuland mehr und auf vorhandenes Wissen konnte zumindest teilweise zurückgegriffen werden“ (S. 211). Dieser Schluss, den
Poppe aus den Kriegserfahrungen der Alliierten zieht, legt nahe, dass sowohl Frankreich als auch die 1949 gegründete NATO
auf diese Erfahrungen zurückgreifen konnten. Die NATO legte vor allem aus sicherheitsund versorgungspolitischen Gründen großen
Wert auf eine eigenständige Treibstoffversorgungsinfrastruktur und plante ihre Pipelines
deshalb als integriertes Netz. Dieses ging ab
1954/55 als Central Europe Pipeline System
(CEPS) in Bau. Innerhalb der NATO wurde
bis Ende der 1950er-Jahre eine Mehrebenenorganisation geschaffen, die für Pipelines zuständig war und in welche die zentraleuropäischen „Gaststaaten“ ihrerseits eingebunden waren. Die Betriebsführung der Pipelines
war jedoch überwiegend zivil organisiert, finanziert wurden Bau und Betrieb durch die
NATO- Mitglieder. Die NATO verhandelte
hinsichtlich der Pipelines grundsätzlich kooperativ mit ihren Mitgliedsländern. Die BRD
ist, wie Poppe hervorhebt, durch ihren späten
NATO-Beitritt (1955) jedoch als Sonderfall zu
betrachten, denn wesentliche Entscheidungen
hinsichtlich des Pipelinebaus waren schon getroffen, zudem hatten die Besatzungsmächte auf deutschem Boden bereits Pipelines errichtet, die nunmehr ins NATO-System integriert werden mussten. Ein weiterer interessanter Aspekt, dem Poppe nachgeht, ist die
zivile Nutzung der NATO-Pipelines, welche
insbesondere von Frankreich und den Niederlanden ab den 1960er-Jahren intensiv betrieben wurde. Die NATO selbst war durchaus offen dafür, da dies Auslastungen verbessern und Kosten reduzieren konnte. Hinderlich wirkten sich hier in erster Linie Bedenken verschiedener nationaler Instanzen an einer zivilen Nutzung aus.
Abgerundet wird Poppes Werk durch einen sehr knappen dritten Teil, der die zivile Pipeline-Infrastruktur mit der militärischen vergleicht: Während in Zentraleuropa
mit Ausnahme Frankreichs die private Mineralölwirtschaft treibende Kraft hinter der Errichtung der zivilen Pipelineinfrastruktur war
und diese ebenso betrieb wie finanzierte, förderte die NATO in Kooperation mit den hier
untersuchten Staaten die meist unter ziviler
Betriebsführung stehenden Pipelines. Enteignungen führten zu keinen größeren Verzögerungen oder Problemen beim Bau, da diese Mineralölgesellschaften bzw. der französischen TRAPIL übertragen worden waren. Einige sicherheitstechnische Standards hinsicht-
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M. Poppe: Öl- und Treibstoffpipelines
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lich der Stahlqualität setzten sich in beiden
Bereichen durch, doch zu einer vollständigen
Standardisierung kam es nicht.
Michael Poppe hat mit „Öl- und Treibstoffpipelines“ ein Werk vorgelegt, das mit der integrativen Betrachtung von zivilen und militärischen Pipelines eine bislang nahezu unerforschte Thematik aufgreift. Das Buch stützt
sich vor allem auf unveröffentlichte Dokumente aus Archiven in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, zudem aus dem
NATO-Archiv in Belgien. Diese Quellen hat
Michael Poppe akribisch aufgearbeitet und
präsentiert sie in wohlstrukturierter Form, ergänzt durch Überblickstabellen, Organigramme und Karten. Schade ist allerdings, dass
Poppe seine Studie in keinen größeren theoretischen Bezugsrahmen stellt, wofür sich unter
anderem das Konzept der „Großtechnischen
Systeme“ anbieten würde.2 Das soll die Leistung des Autors aber nicht schmälern. Das
Buch birgt viele neue Erkenntnisse, insbesondere zum militärischen Pipelinenetzwerk. Somit ist es ein Gewinn für an Energie-, Rechts-,
Militär- und Infrastrukturgeschichte interessierte Leser und hat das Potential, auch weitere Forschungsarbeiten zur doch speziellen
Thematik der Pipelines anzuregen.
HistLit 2016-2-212 / Irene Pallua über Poppe, Michael: Integration von Infrastrukturen in
Europa im historischen Vergleich. Band 5: Ölund Treibstoffpipelines. Baden-Baden 2015, in:
H-Soz-Kult 30.06.2016.
2 Thomas P. Hughes, The Evolution of Large Technologi-
cal Systems, in: Wiebe E. Bijker / Thomas P. Hughes
/ Trevor J. Pinch (Hrsg.), The Social Construction of
Technological Systems: New Directions in the Sociology and History of Technology, Cambridge, MA 1987,
S. 51–82; Renate Mayntz / Thomas P. Hughes (Hrsg.),
The development of large technical systems, Frankfurt
am Main 1988.
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