Berichterstattung NZZ

SCHWEIZ
Freitag, 1. Juli 2016
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Neuö Zürcör Zäitung
Der Spitalverband ist mit den Abrechnungstarifen
nicht mehr zufrieden – und kündigt den Vertrag SEITE 14
Die Schwyzer Regierung ärgert sich über die Asylpolitik
des Bundes – und fordert eine Aussprache SEITE 15
Mobilitätsabgabe geht in Testphase
Bundesrat prüft mit interessierten Kantonen und Gemeinden Pilotversuche mit Mobility-Pricing
Mit einer Mobilitätsabgabe will
der Bundesrat die Spitzen auf
Schiene und Strasse brechen.
Für die Mobilität soll insgesamt
nicht mehr bezahlt werden. Ab
2019 sind Pilotprojekte geplant.
Die politischen und technischen
Hürden sind jedoch gross.
CHRISTOF FORSTER, BERN
Auf dem Papier ist die Idee überzeugend. Wer zu Stosszeiten Schiene oder
Strasse nutzt, soll mehr dafür bezahlen.
Umgekehrt werden Zeiten mit schwacher Nachfrage günstiger. Ihre Umsetzung in die Praxis ist jedoch gespickt mit
unzähligen technischen und politischen
Hürden. Der Bundesrat prüft deshalb
Verkehrspolitisches
Minenfeld
Kommentar auf Seite 11
erst einmal Pilotversuche mit MobilityPricing. Interesse angemeldet haben die
Kantone Genf, Tessin, Zug sowie die
Stadt Rapperswil-Jona und der Grossraum Bern. Mit zeitlich befristeten
Pilotprojekten könnten Erfahrungen
gesammelt und offene Fragen geklärt
werden, sagte Verkehrsministerin Doris
Leuthard am Donnerstag. Für die Versuche ist ein befristetes Bundesgesetz
notwendig, über welches das Parlament
voraussichtlich 2018 entscheiden wird.
Die ersten Pilotprojekte könnten dann
laut Leuthard 2019 starten und dauern
sechs bis sieben Jahre. Je nach Erfahrungen könnte die Mobilitätsabgabe später
in der ganzen Schweiz eingeführt werden – frühestens 2030. Dafür braucht es
eine Verfassungsänderung.
Der Bundesrat hat in seinem «Konzeptbericht Mobility-Pricing» wichtige
Verkehrsministerin Doris Leuthard während der Präsentation des Konzeptberichts Mobility-Pricing.
PETER SCHNEIDER / KEYSTONE
Explizit wies die Verkehrsministerin
darauf hin, was Mobility-Pricing laut
Bundesrat nicht sein soll: ein zusätzliches Finanzierungsinstrument. Die
neue Abgabe für Autofahrer würde
schrittweise bestehende Abgaben wie
Mineralölsteuer, Automobilsteuer, Vignette und kantonale Motorfahrzeugsteuern ersetzen. Die Mineralölsteuer
hat bereits Elemente der künftigen Mobilitätsabgabe. Sie funktioniert nach
dem Prinzip «Wer mehr fährt, bezahlt
mehr» – allerdings ohne Zuschlag für
Spitzenzeiten. Im Bericht stellt der Bundesrat diverse Modelle mit ihren Stärken und Schwächen zur Diskussion.
Entscheidend ist laut Leuthard der
Einbezug von Strasse und Schiene, da es
sonst zu Verlagerungen komme. Darin
unterscheidet sich das Vorhaben von
Road-Pricing, das sich – wie in London
und Stockholm – auf die Strasse beschränkt. Im öffentlichen Verkehr würden auf besonders stark belasteten
Bahn-, Bus- und Tramlinien örtlich und
zeitlich differenzierte Tarife eingeführt.
Kompensiert werden soll das mit geringeren Tariferhöhungen. Voraussetzung
dafür ist ein elektronisches Erhebungssystem, mit welchem das Ein- und Aussteigen registriert und verrechnet wird,
wie Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamtes für Verkehr, sagte.
Der politische Kampf beginnt
Eckpunkte festgelegt. So hat die Mobilitätsabgabe nur ein Ziel: Sie soll Verkehrsspitzen brechen. Aus Kosten- und
Platzgründen sei es nicht möglich, die
Verkehrsinfrastruktur auf die Stosszeiten auszurichten, sagte Leuthard.
Leuthards Versprechen
Auch andere Instrumente wie flexible
Arbeitszeitmodelle, angepasste Unterrichtszeiten, Heimbüro und Fahrgemeinschaften sollen dazu beitragen, die
Auslastung zu glätten.
Auch das GA wäre tangiert
For. V Das Generalabonnement ist eine
Knacknuss für den Übergang zu Mobility-Pricing. Mit Änderungen am beliebten Abo riskiert man, Kunden zu verlieren. Doch als pauschales Ticket widerspricht das GA der Mobilitätsabgabe.
Im Verkehrsdepartement gibt es Ideen,
das GA aufzuteilen in eine Grundversorgung, in der weiterhin pauschale Bezahlung gilt, und in ein Zusatzangebot,
das nach der tatsächlichen Nutzung zu
berappen wäre, wie Bundesrätin Doris
Leuthard ausführte. Modelle dafür gebe
es bei Handy-Abonnementen, sagte
Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr. Er gab zu bedenken,
dass das GA zwar sehr attraktiv sei, aber
auch ungerecht. Die übrigen ÖV-Nutzer
und die Steuerzahler bezahlten für jene,
die das GA schnell amortisiert hätten.
Die ersten Reaktionen am Donnerstag
geben einen Vorgeschmack auf den politischen Kampf um Mobility-Pricing. Der
Gewerbeverband befürchtet einen Kostenschub und lehnt deshalb die Abgabe
und auch Pilotversuche ab. Den Grünliberalen hingegen geht sie zu wenig
weit, da die externen Kosten nicht berücksichtigt werden. TCS-Vizepräsident
und FDP-Nationalrat Thierry Burkart
zeigt sich grundsätzlich offen gegenüber
dem Thema. Doch angesichts der grossen Hürden räumt er dem Vorhaben
keine grossen Chancen ein.
Etappiertes Umstellen auf leistungsabhängige Abgaben
Der Wirtschaftsverband Swisscleantech will bis 2030 verkehrs- und energiepolitische Ziele zusammenführen
Während der Bundesrat über
leistungsabhängige Abgaben
vor allem die Verkehrsspitzen in
Stosszeiten brechen möchte, hat
Swisscleantech ein konsequent
ökonomisches Konzept für die
Verkehrsfinanzierung formuliert.
PAUL SCHNEEBERGER
Eine grosse Ungewissheit im Hinblick
auf das heisse Eisen Mobility-Pricing ist,
wohin die Einführung von leistungsabhängigen Verkehrsabgaben führen
soll. Eine Antwort darauf gibt der Wirtschaftsverband Swisscleantech in einem
am Donnerstag veröffentlichten Konzeptpapier. Der Verband sieht eine Kollision zwischen verkehrs- und energiepolitischen Zielsetzungen kommen, wie
Co-Geschäftsführer Christian Zeyer
sagt. Der Fonds für Nationalstrassen und
den Agglomerationsverkehr (NAF),
über den zusätzliche Steuermittel ins
System fliessen sollen, werde «als Folge
der Klimapolitik in Zukunft nur ungenügend gefüllt werden».
Swisscleantech hat deshalb ein Konzeptpapier erarbeitet, das aufzeigt, wie
die Verkehrsfinanzierung inklusive der
Abgeltung externer Kosten bis 2030 neu
organisiert werden könnte. Ziel wäre ein
System, das den mittleren Kilometer-
preis im Strassenverkehr von heute 7,5
auf rund 15 Rappen erhöhen würde. Davon würden jene 57 Prozent, die für
externe Kosten (Abgeltung der Belastungen durch Raumverbrauch, Lärm,
Unfälle usw.) bestimmt sind, in einer
noch zu bestimmenden ökonomisch
sinnvollen Form an die Bürger zurückerstattet. Das heisst: Die Mobilität
würde für jene teurer, die sie überdurchschnittlich konsumieren. Wer sie massvoll nutzt, würde entlastet – ebenso die
Gesellschaft insgesamt.
In der Lesart von Swisscleantech
wäre Mobility-Pricing ein Instrument,
das auf Strasse und Schiene anzuwen-
den wäre und sämtliche von den Benützern zu tragenden Kosten abzudecken
hätte, auch jene für die (Mit-)Finanzierung des Strassen- und Bahnnetzes.
Auch die Auslastung würde in den Preis
einbezogen. In den Spitzenzeiten wäre
die Gebühr auf stark belasteten Abschnitten mit 20 Rappen pro Kilometer
doppelt so hoch wie sonst. Das Konzept
sieht vor, die heutigen Verkehrsabgaben
auf eidgenössischer und kantonaler
Ebene bis in 15 Jahren durch die neuen
leistungsabhängigen Gebühren zu ersetzen. Anders als der Bundesrat würde
Swisscleantech den ersten Schritt nicht
regional setzen, da durch Zonen mit und
Kilometerpreis-Entwicklung gemäss Konzept Swisscleantech, in Rappen
Mit 57 Prozent Rückerstattung
7,5
Kilometerpreis
15
Mittlerer
Kilometerpreis
2016
QUELLE: KONZEPT MOBILITY PRICING SWISSCLEANTECH
20
10
Kilometerpreis
in Randzeiten
Kilometerpreis
in Stauzeiten
2030
NZZ-Infografik/lvg.
ohne zusätzliche leistungsabhängige
Komponente Ungleichheiten dies- und
jenseits dieser Grenzen geschaffen werden. Für eine erste Phase schwebt dem
Verband vor, ab einem bestimmten
Marktanteil Kilometer-Tarife für Elektrofahrzeuge einzuführen. Ab 2020 wären dann «örtlich und zeitlich begründete Knappheitspreise» auf Strasse und
Schiene einzuführen. Die Zuschläge für
die Lenkungswirkung würden der Gesellschaft zurückerstattet.
Ab 2025 würden pauschale Abgaben
durch eine Gebühr pro Kilometer für
alle Fahrzeuge ersetzt. Um Tanktourismus zu vermeiden, soll der Treibstoffpreis das Niveau nicht überschreiten, auf
dem er sich im Ausland bewegt. Ab 2030
schliesslich sollten die externen Kosten
in die leistungsabhängigen Abgaben
integriert werden. Dannzumal sollen
auch auf der Schiene nur noch leistungsabhängige Tarife gelten, und die Rückvergütung jenes Teils der Abgaben für
externe Kosten an die gesamte Bürgerschaft käme zum Tragen.
Christian Zeyer und Co-Leiterin
Franziska Barmettler sind sich bewusst,
dass sie politisch ein dickes Brett bohren, zumal durch den NAF andere
Signale vermittelt werden. Sie zeigen
sich aber zuversichtlich, dass ihr konsequent ökonomischer Ansatz das Potenzial hat, mehrheitsfähig zu werden.
Viel Rückenwind für neues System
P. S. V Nicht nur der Wirtschaftsverband
Swisscleantech, der sich Engagement für
die Nachhaltigkeit auf die Fahne geschrieben hat, gehört zu den Verfechtern leistungsabhängiger Verkehrsabgaben. Das Spektrum derer, die den
Grundsatz propagieren, Konsum und
Preis im Verkehr stärker aneinander zu
koppeln, reicht von der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse über
den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse bis hin zur Sektion Zürich des
Automobilclubs der Schweiz. Econo-
miesuisse hat letztes Jahr ein Dreistufenmodell propagiert, das zuerst die
Schaffung technischer Grundlagen vorsieht, dann eine grundsätzliche politische Diskussion und schliesslich einen
«Paradigmenwechsel» in der Verkehrsfinanzierung, wobei Verursacherprinzip
und Kostenwahrheit zu stärken wären.
Avenir Suisse hat 2013 in einer
Schrift unter anderem festgehalten, Mobility-Pricing würde die Nachfrage nach
Mobilität dämpfen und die enormen
Kosten des Verkehrssystems verringern.