32 FEUILLETON Neuö Zürcör Zäitung Montag, 27. Juni 2016 Rhinozeritis Eugène Ionescos «Nashörner» als komisch-tragisches Freilichtspiel auf dem Berner Hausberg BEATRICE EICHMANN-LEUTENEGGER Die Krankheit verläuft schleichend. Der mit dem Erreger infizierte Patient sagt Sätze wie «Man muss mit der Zeit gehen» oder «Man möchte doch dazugehören». Er plädiert für Aufgeschlossenheit und Toleranz gegenüber der neuen Bewegung, lässt sich von ihrer Kraft faszinieren und spürt den Herdentrieb in sich. Das Ende der Inkubationszeit ist nahe, wenn er aus dem Brüllen der Anführer Gesang heraushört. Dann bricht in voller Wucht die Krankheit aus: Rhinozeritis. Mitläufertum «Die Nashörner» von Eugène Ionesco, 1959 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt, lässt sich als Parabel auf das Mitläufertum deuten. Die Erfahrungen des Stalinismus und des Faschismus haben den Dramatiker des absurden Theaters inspiriert, doch eignet dem Stück zeitlose Gültigkeit. Daher verzichtet Livia Anne Richard, die es als Freilichtspiel auf dem Gurten inszeniert, auf aktuelle Anspielungen. Auch die Raumgestaltung (Fredi Stettler) in Schwarz-Weiss begnügt sich mit kubischen Elementen, die sich bei Szenenwechseln rasch zu einem neuen Arrangement fügen. Als schiefe Ebene erweist sich die Bühne und droht in einer Welt, aus der alles aus dem Lot geraten ist, mit gefährlichem Ausgleiten. Wer befürchtet hat, Nashörner aus Pappmaché würden aufmarschieren, sieht sich zum Glück getäuscht. Diese Produktion kommt ohne szenischen Schnickschnack aus und hält mutig die einmal eingeschlagene Richtung ein. Die Freilichtspiele auf dem Gurten ziehen seit Jahren auch ein Publikum an, das nicht zu den regulären Besuchern der städtischen Theater zählt. Auf den Brettern steht ein erprobtes Ensemble, zusammengesetzt hauptsächlich aus Laien. Entschieden und voller Elan hat Livia Anne Richard seit Anfang April ihre Truppe durch die Proben geführt, die wegen der schlechten Wetterverhältnisse oft gar nicht im Freien stattfinden konnten. Auch die Mundartfassung, eine rhythmisch stimmige Version, stammt von der Regisseurin, so dass die Figuren nicht papieren wirken, sondern wie Menschen aus Fleisch und Blut. Zwar dominiert das Berndeutsche, aber dennoch deutet sich der moderne sprachliche Pluralismus an, wenn der Kellner mit italienischem und die Wirtin mit russischem Akzent spricht. Am Ende: nachdenklich Trotz aller Tendenz zur Abstraktion schnauben die Nashörner auf dem Gurten, und ihr rasender Galopp jagt Schauder über die Haut. Man sieht die Viecher nicht, aber man hört sie durchaus. Die akustischen Eindrücke vermittelt live das Musiker-Duo Hank Shizzoe (Gitarre) und Simon Baumann (Schlagzeug). Überaus suggestiv wirken die von Shizzoe komponierten Sequenzen, die sich in ihrer Heftigkeit während des Abends steigern. Die Handlung selbst setzt mit komödiantischen Momenten ein. Rasche Wortwechsel der Protagonisten Behringer (Fredi Stettler) und Hans (Markus Maria Enggist) sowie parallel geführte Dialoge der einzelnen Figurengruppen, die sich auf komische Weise überlagern, sorgen für präzis gesetzten Witz. Nachdem ein Drittel der Massenverführung erlegen und das Gebrüll der Nashörner omnipräsent geworden ist, kippt das Stück ins Tragische. Mutterseelenallein fühlt sich Behringer. «Ich will ein menschliches Wesen bleiben», schreit er verzweifelt. Da ist auch auf dem Gurten die Dunkelheit hereingebrochen. Nur schwach schimmert noch die Abendröte. Ein Spiel ist aus, das nicht wie einst die «Dällenbach»Produktion an die Herz- und Schmerzzentren rührt, aber trotzdem beeindruckt und das Publikum in nachdenklicher Stimmung entlässt. www.theatergurten.ch
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