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VO Lyrik von Opitz bis Goethe. Von der Poesie zur Lyrik - SS 2016 (Franz Eybl)1
Einführung
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Von der Poesie (Normästhetik) zur Lyrik (Abbildung des Gefühls)
o Norm der rhetorischen Gestaltung
 Norm der Zwecke und Mittel
 Kategorie des Aptum: Zuordnung von Gegenstand, Sprache, Sprecher/Hörer
 Normative Gattungssysteme, z.B. das Sonett
 Spiegelt sich auch in der Publikation wieder (z.B. bestimmte Sammlungen)
o Bildervorrat, allegorisches Denken & Topik: wird von der Antike, der Bibel und der Geschichte geliefert
o ‚Subjektivität‘
 Ästhetik einer Epoche ist uns grundsätzlich fremd
 Ästhetik der Identität (vor 18. Jhd.): nimmt das Bestehende auf und variiert es (vgl. in der Musik: Fuge, Kontrapunkt); immolatio veterum
(‚Überbieten der Alten‘)
 Ästhetik der Authentizität (ab 18. Jhd.): eigene Gestaltungskraft bzw.
Genie soll zum Ausdruck gebracht werden
 Individualisierung erfolgte in Schritten (Grundstein zu subjektiver Empfindung
legte der Pietismus: Introspektion, Leute begannen Tagebücher zu schreiben und
von sich selbst zu sprechen)
 Authentizität: vgl. Herder, Ossian und Volkspoesie
Sprachen der Poesie: Europa (historisch & geografisch)
o Kultureller Austausch und Wettbewerb zwischen den Nationalsprachen & -kulturen
o Latein: lingua franca für Gelehrte (bis 1848 Amtssprache in Ungarn); problemlose Verständigung und Korrespondenz in ganz Europa
o Übersetzungsleistungen
Konventionen und Praktiken
o Medialität: z.B. Poesie und Musik, Poesie in Handschrift und Druck, Emblematik als Bilddichtung, etc.
o Poesie als ‚öffentliches‘ Kunsthandwerk: panegyrische Geste (zu jedem Anlass muss etwas gedichtet werden [‚Casual-Carmina‘); Poesie als dekorative Dienstbarkeit
o Vergesellschaftung
 der Autoren: Sprachgesellschaften (vgl. Zunftwesen), Dichterbünde (z.B. Göttinger Hain)
 Handwerk, Stadt und Kirchengemeinde
 Leserschaften
 Kollektivität in Produktion & Rezeption (z.B. Bürgers „Lenore“: holte sich Rat,
häufige Rücksprachen, etc.)
o Poesie und Herrschaft: Hof, Kirche, Eliten, Macht; Institutionen bestimmen Ereignisse
o Zirkulation und Markt: Patronage, Tausch, Geschenk und Verkauf
Epochen
o Barock
 Sowohl Stil, Epoche (Absolutismus) als auch Geschichts- und Weltauffassung
(Vanitas, Carpe Diem, Konfessionalisierung)
 Barock im deutschsprachigen Raum, Renaissance/early modern period im angelsächsischen Raum
 Deleuze: ‚Falte‘ (frz. ‚pli‘) als Verständnisfigur (schafft Abstand zwischen Körper
und Umwelt)
o Aufklärung (18. Jhd.)
Diese Mitschrift wurde auf Basis von Vorlesungsbesuchen und den Folien von Prof. Eybl erstellt.
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Kommt von der Philosophie Descartes‘ (Subjektbegriff, Rationalisierung, Empirie, utopischer Optimismus)
 Empfindsamkeit (Mitte 18. Jhd.)
 Selbstwahrnehmung (Pietismus) und deren Kommunikation (Briefsystem); hoher Stellenwert des Mitleids (vgl. Lessings Dramentheorie); politischer Austausch der Subjekte
Sturm und Drang: Genieästhetik und Regelsprengung; Poesie als Götterkraft und kultureller Ursprung
Klassik: Darstellung und Idealisierung, Integration der (antiken und neuen) Kunst sowie
Ausschluss der (politischen) Weltgestaltung (Autonomie)
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Martin Opitz: „Ach Liebste lass uns eilen“ (2. Ausgabe, 1644)
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Rollenrede: Dialog wird simuliert; Verführungsrede
Argumentation: Warten tut uns nicht gut, weil sich die Dinge zum Schlechteren verändern
Wörter hatten oft andere Bedeutung als heute (Wörterbuch zeigt oft Gebrauchsgeschichte)
o „Händ‘ als Schnee verfallen“: ‚als‘ heißt hier ‚so, wie‘, also die ‚schneeweißen Hände‘
o „wir haben Zeit“: hieß früher ‚wir haben Eile‘
o „Haare wird greiß“: in der Grundbedeutung ‚hellerer Ton als grau‘
Metapher „der Augen Feuer“: anthropologisches Modell der Temperamentenlehre; zu Opitz‘ Zeit:
Wahrnehmung löst körperliche Reaktion aus
Struktur
o Vergleiche: „Mündlein von Corallen“, „Händ‘ als Schnee“
o Anrede als praepositio
o Argumentation beginnt mit enumeratio partis, um sie zu stützen; beliebige Aufzählung
o Mündet in Apell: „Drum laß vns jetzt geniessen…“
o Schluss: Austausch von Körperflüssigkeiten im Geschlechtsakt; zeitgenössische Auffassung: auch weibliche Ejakulation dafür nötig (noch expliziter in „Das Fieberliedlein“
[1624])
Regie der Beziehung durch Personalpronomina (‚wir‘, ‚vns‘); Zuspitzung: „vnd du wirst alt“;
Schluss: ‚du‘ und ‚ich‘
Gender-Unterscheidung: nur weiblicher Körper wird thematisiert
1. Ausgabe (1624) gibt wichtige Kontextinformationen
o Charakter eines Liedes
o Geselliges Unterhaltungslied, nicht konkrete Verführung
o Opitz‘ Gedicht ist die Variation eines Sujets: Ton wird angegeben (Gabriel Bataille: „Ma
belle, je vous prie“)
o In der 2. Fassung von 1644 wurde die Angabe der Vorlage nicht angegeben
o Also wenig Eigenständigkeit; stattdessen Intention der Überbietung
o Vergleich der Gedichte
 Bataille
 Spielt im Winter: häusliche in dieser Jahreszeit als Geselligkeit als Singund Musikpraxis?
 ‚höfisch‘-höfliche Form des Dialogs
 ‚scherzhafte‘ Überredung als rhetorische Struktur
 Opitz
 Zeitsituation nicht konkret
 Körperliche Veranschaulichung der Vergänglichkeit (jedoch wird nur
der weibliche Körper thematisiert: ‚Tauschobjekt‘ weiblicher Körper in
der frühneuzeitlichen Gesellschaft)
 Metapher des Geschlechtsaktes als Austausch von Körpersäften
Martin Opitz: „Ode – Ueberdruß der Gelahrtheit“ („Ich empfinde fast ein grawen“, 1624)
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Fassung aus Des Knaben Wunderhorn (Brentano/von Arnim, 1804/05)
Anakreontische Dichtungstradition: ‚Wein, Weib & Gesang‘
Romantischer Publikationskontext
o Programmatisches Gedicht
o Zwischen zwei volkstümlichen Texten eingeschoben
o „Ueberdruß der Gelahrtheit“: erfundener Titel; im Original schlicht „Ode“
Zuerst erschienen im Buch der Deutschen Poeterey (1624)
Als Rollenrede inszeniert: spricht zwei Leute an, nämlich Platon und den Jungen
Topoi
o Laus ruri (Lob des Landlebens): geht auf Horaz zurück
o Laus amoenus (‚lieblicher Ort‘): Platz in der Natur im Frühling oder Sommer
Motti der älteren Barockauffassung: carpe diem und memento mori
„Wozu dienet das Studieren? Als zu lauter Ungemach?“: Selbstgespräch
Im Original: „die Bach“ (in Schlesien des 17. Jhd. geläufig)
Bach als Bildspender (Original) vs. Bach als Führer (romantische Version)
„Hola“: Exklamation
„Süßer Saft der Traube“: Metonymie für Wein
Trauer, Leid und Klagen wird in Wein vergraben (Sterbensmetapher)
Wer rafft uns fort? – Original: Clotho (Morie, die den Lebensfaden abschneidet); romantische Version: „der Strom“
„Zucker“
o Bis ins späte 18. Jhd. Luxusprodukt
o Musste aus den Kolonien importiert werden
o Dann Herstellungsverfahren aus der Zuckerrübe entwickelt
o Deshalb in Verbindung mit Reichtum („Ich will, weil ich kann, mich letzen.“)
‚letzen‘ (Dt. Wörterbuch): ‚etwas zu einem Ende bringen‘, Abschied nehmen‘, ‚sich vor dem Abschied vergnügen‘
5. Strophe
o Gesellschaft und Musik („Brüder“)
o Dreifacher Befehl („Ich will…“)
o Romantische Version: metrische Veränderung (z.B. ‚músic‘ zu ‚Musík‘)
o Kontrastierung von Armut und Fröhlichkeit
o Sterben in Einsamkeit, leben in Geselligkeit
o Summationsschema: am Schluss wird zusammengefasst, was die Hauptaussage ist
Medialität (Texte werden durch Medien in Umlauf gebracht; deshalb ist es sinnvoll, mediale Umgebung des Textes anzusehen): Publikationskontext
o Entstanden als Beispielgedicht zur Verdeutlichung von Opitz‘ poetologischen Überlegungen (also gelehrter Kontext, nicht wie bei den Romantikern)
o Deutsche Poeterey: Beleg für poetologisches Programm
 Dinge, von denen wir schreiben wollen: Beschreibung der res durch Worte (vor
dem linguistic turn)
 ‚Lyrica‘: Poesie, die zur Musik gebraucht werden kann
 Darin Lehren und schöne Sprüche sowie einfache Dinge
 Themen: z.B. Buhlerei, Tänze, Frauen, Wein, Nichtigkeit des Todes
 Hauptaufgabe: Vermittlung der Fröhlichkeit
 Pointe des Gedichts: Kunst besteht im Verbergen der Kunst (velare artem); klarer Kontext der Gelehrsamkeit
Intertextualität: in Wirklichkeit Übertragung einer Ode von Pierre de Ronsard (1550)
o In der Ästhetik der Identität: kein Plagiat, sondern Versuch der Überbietung
o Ronsards letzte Strophe ist kürzer: bewahrt Charakter der antiken Ode (Strophe – Antistrophe)
o Schluss bei Ronsard: will am Schluss allein sein und den Tod verlachen
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Statt Platon: Aratost von Soloe (unpopulärer alexandrinischer Dichter)
Statt Bach: Orkus (antikes Motiv); Junge hat Namen (‚Corydon‘)
Soll Aprikosen, Pompons, Artischocken, Erdbeeren und Creme kaufen
Opitz ordnet Gedicht, verstärkt den anakreontischen Charakter und bringt Geselligkeit
und Musik ein
Reform der Barockpoetik: Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624)
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Regelpoetik für deutsche Dichtung
Opitz: *1597 Bunzlau (Schlesien; heute Bolesławiec, Polen), †1639 Danzig
Wichtige Werke z.B. Schäfferey von der Nimfen Hercinie (1630), Trostgedicht in Widerwärtigkeit
des Krieges (1633)
Titelblatt: will doctrina et exemplum liefern
Motto von Horaz (aus Pisones): der, der sich nicht auskennt, soll sich nicht genieren, sondern es
lernen
Widmungsbrief
o Hohe Stilebene (im Gegensatz zur „Ode“)
o Topos im Schreibmotiv: Beauftragung der Arbeit durch Andere
o Soll Vorbehalte gegenüber deutscher Dichtung entkräften
o Programmatischer Wirkungsimpuls: Begabte sollen zum Schreiben angeregt werden
o Folgt der Epistolografie (Briefrhetorik)
1. narratio als Bericht vom Schreibanlass
2. Briefanliegen: was soll geschehen (propositio: was sollen die Adressierten tun,
und argumentatio: warum sie das tun sollen)
3. Epilog und Segensformel
o Patronage: Bezahlung von Leuten, die durch symbolisches Kapital entlohnt werden (z.B.
Lob)
Dann folgt Huldigungsgedicht (Autor wird von jemand anderem gelobt)
Leser wird durch diese Peritexte (Genette) ans Werk herangeführt
Inhalte
o Rückbindung der Dichtung an Tradition bis zur Antike
o Entschuldigung/Verteidigung vor Kritikern
o Inventio – dispositio – elocutio: rhetorisches Sprachverständnis
o Reim- und Verslehre (lautliche und metrische); zählt Möglichkeiten auf
o Anleitung, jedoch muss die Antike genau gekannt werden; Ziel: Aufbereitung der Antike
für die deutsche Literatur (System gegen das Chaos, vgl. 30-jähriger Krieg)
Programm der Poeterey
o Rhetorik und Topik
o Res et verba (Dinge und Worte): Worte sollen Dinge beschreiben
o Dreistillehre (je nach Angemessenheit)
o ‚Zierlichkeit‘ (ornatus)
o Versreform: ersetzt quantitierende Metrik der Antike durch akzentuierende (betont –
unbetont) der germanischen Sprachen; sehr kompakte Zusammenfassung
o Doctrina et exempla
Anwendungsbeispiele
o Nicht nur illustrierende, auch erweiternde Funktion
o Implizite Poetik durch Beispiele
o Auch Musterkompendium, welches Themenrepertoire beinhaltet
Nur humanistisch Gebildete konnten mit dem Werk etwas anfangen; sie sollten von der Legitimation der deutschen Dichtung überzeugt werden
2 Oden der peroratio
o Ode: in der Antike höchste Lobform
o Epithalamion (Hochzeitslied): „Du güldne Leier“
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 Apollo gibt ihm Leier: Anknüpfen an der Antike
 Will deutsche Dichtung gleich angesehen machen wie die romanische
 Literatur als Medium der Gedächtnisstiftung: kollektiver Gedächtnisspeicher
 Zusammenfassung und Beispiel von Opitz‘ Konzepten (z.B. Zierlichkeit)
 Zwischen bürgerlicher Geselligkeit und poetischem Konzept des Dichters
 Beginnt mit Apoll und endet im Ehebett
o Epicedium: „Trawerliedt“
 Freie Übersetzung aus dem Italienischen
 Begebnis wird durch Literatur gespeichert: Gedächtnisstiftung
Literaturhistorische Wirkung
o Poesie als Gedächtnisstiftung
o Opitz stellt Literatur auf die gleiche Stufe wie die 3 gängigen Wissenssysteme:
 Religiöses Wissen (Literatur sei laut Opitz anfangs nichts anderes gewesen als
eine ‚verborgene Theologie‘)
 Naturwissen (Mikrokosmos – Makrokosmos)
 Politisches Herrschaftswissen
o 3 Diskurse der dt. Dichtung
 Konfessionalismus: Schlesien (= Polen) war Gebiet von Zwangskatholisierung
 Gelehrtendichtung
 Rhetorikunterricht lehrte, wie man Gedichte schreiben müsse; wurzelt
auf lateinischer Tradition
 Abwertung des Pöbels
o Zuvor: Meistergesang (dichtende Handwerker)
o Vgl. Gryphius: „Peter Squenz“ (aus Shakespeares Midsummernight’s Dream)
o Pöbel könne sich nicht beherrschen und somit auch nicht an
höhere Formen halten
 Gesellschaftlichkeit (z.B. Sprachgesellschaften)
 Z.B. Fruchtbringende Gesellschaft, Tannenorden, Pegnitzschäfer,
Deutschgesinnte Genossenschaft, etc.
 Ausländische Muster (z.B. Arcadia)
 Bewusstsein der Kollektivität der Dichtkunst
 Bereinigung der Sprache von Fremdworten
 Ausbildung des Deutschen auf Basis von Opitz
Martin Opitz: „Sonnet. Auß dem Italienischen Petrarchae“ (1624)
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Gedicht über die Liebe; deutliche Sonettstruktur; Alexandriner
Übersetzung aus Petrarcas Canzoniere
Temperaturen: beruht auf dem humoralpathologischen Modell
Quartette: Topik der rhetorischen Argumentationskunst als Basis
o Erste Vershälfte als Frage, zweite Vershälfte als Anwendung
o Fragen
 Antithetische Fragestellungen
 „nichts“ – „[et]was“: scholastische Wissensstruktur
 „recht und gut“ – „nicht gut“: Moral
 Wille – Zwang: Ethik (Gesetze und Gebote)
 „nicht gern“ – „gern“: Affekt
o A causis – A consequentibus
Vom Allgemeinen „sie“ zum individuellen „ich“
Einzige Metapher in den Quartetten: Liebe „entzündet“; sonst philosophische Sprache
Terzette
o Zwei Bewegungen ergreifen das Ich: Schweben im Gras und Reise mit dem Schiff
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Gras: alte Metapher für die Hinfälligkeit des Menschen (nicht im Petrarca)
Schifffahrt: noch im heutigen Sprachgebrauch viele Stilbilder daraus
Schluss: Auseinanderklaffen von Vernunft und Affekten wird thematisiert (Sprengen des
Affektmodells: seit der Antike der Vernunft untergeordnet)
Entindividualisiertes Ich: keine Eigenschaften, leeres Personalpronomen; weder lyrisches noch
Rollen-Ich
Hochgradig formalisierte, dialektische Darstellungsweise als Gerüst
Petrarcas Gedicht
o Bis in die frühe Neuzeit: 14 Übersetzungen in die europäischen Nationalsprachen, mind.
5 in Neulatein
o Keine Grasmetapher: keine Religiosität
o Auch hier rigorose Argumentationsstruktur
o Opitz stärkt die Formwahrnehmung des Sonetts
o Schluss bleibt bei Petrarca unausgesprochen, bei Opitz doppelte Antithese
Beobachtungsfelder
o Übersetzen als Inbesitznahme
o Kollektivität der Autorschaft
o Agonistik nach antikem Vorbild: Überbietung des Gleichen
o Textualitätskonzept der Vormoderne: Werk ist antastbar (keine Autonomieästhetik)
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Paul Fleming: „An sich“ (1641)
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Sonettstruktur
Wer spricht?
o Selbstanrede? (Ich an sich?): Versformen sind Imperative, es benötigt also theoretisch
zwei Gesprächspartner
o „du“ ist ab dritter Zeile präsent
o Bei den Terzetten ändert sich der Gesichtspunkt: nun allgemein
o Vom Imperativischen zum Sentenziösen (reine Aussagesätze)
Argumentation: Imperative abwechselnd als Gebot und Verbot
„demnach“
o Antwort auf eine (unausgesprochene) Klage: Gefühlsausdruck nicht gegeben, nur impliziert
o Oder: Gedicht spielt an Allgemeinwissen der Zeit an: verbreitete Meinung, dass die Welt
schlecht sei
o Oder: Antwort auf die Zeit des 30-jährigen Krieges
Glück
o Lat. ‚fortuna‘ = Verhängnis/Schicksal, also nicht nur das Positive
o Nicht mehr blinde Fortuna der Antike, sondern gottgeleitete Providentia (Vorsehung)
o Aber auch im Gedicht: Unterscheidung „Glück und Unglück“
Andreas Gryphius: „35. Beschluß-Sonnet“
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Noch keine Autonomieästhetik (Schleiermacher: Autorenintention, Gestaltung und Geschlossenheit)
Gedichtausgaben von Gryphius (*1616 – †1664)
o Sonnete [Lissaer Sonette] (1637): früheste Publikation
o Son- und Feyrtagssonnete (1639): geistlich
o Erste Gesamtausgabe: Sonnete. Das erste Buch (1643)
o Erstes Projekt einer Gesamtausgabe in Straßburg: unvollständige Zusammenstellung
(Werk ist zu dieser Zeit Besitz des Druckers)
o Freuden und Trauer-Spiele auch Oden und Sonnette (1663): Ausgabe letzter Hand
„Beschluß-Sonnet“ stammt aus Son- und Feyrtagssonnete (1639)
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o Insgesamt 100 Sonette
o Perikopendichtung: poetische Verarbeitung von Perikopen
o Perikopen: Ausschnitte der Bibel, die im Gottesdienst gelesen werden
Kriegs-und Exilerfahrung: Kontext von Lausitz
o Ab 1620: Gegenreformation in Schlesien
o Katholiken (Bayern und Österreich) sind Gegner Gustav Adolfs II.: ‚Kolonisierung‘ durch
die Katholiken
o Gryphius wächst als protestantischer Pastorensohn auf
o 1621: schlesische Stände behalten Privilegien; Sachsen überlässt Schlesien aber den
Habsburgern
o Leute wurden ins Exil gezwungen; Familiennachzug verhindert (Kinder durften erst folgen, wenn sie 15 Jahre alt wurden)
o 1635: Prager Frieden (beendet Mitspracherecht d. Adels; erneut Gegenreformation)
o Pestepidemien, Kindersterblichkeit und Hungersnöte
o Armeen: lockere Disziplin außerhalb des Kampfes (total asoziale Menschen mit geringstem Sold; mussten sich also von den besetzten Landstrichen ‚ernähren‘)
Benennt zunächst innere Betroffenheit
o Krieg (Metonymie „Schwert und Feur“)
o Tod der Freunde
o Exilzwang der Verwandten
„als uns Gott/ Sein Wort, mein Licht, entzog“
o Metapher: Gott hat „mein Licht“ (=Heil) entzogen
o Verbot des lutherischen Gottesdienstes („sein Wort“)
Wendung: spricht nun von Kritikern/politischen Akteuren als Feinden
Sonett als Element des Paratextes: poetisches Nachwort
o Soll das Werk kommentieren und verteidigen
o Topik: Erläuterung des Schreibanlasses als narratio (nie persönlicher Impuls, sondern
von außen kommend; hier: „die scharfe Not“)
o „bellt und nagt“: Tiermetapher für Kritiker
o Widrigkeit gehöre dazu, um wachsen und reifen zu können
o Höhenordnung der Sentenzen: Regen – Ros – Baum
‚Ich‘ ist hier mit dem Auto identisch
2. Fassung: „Andreas Gryphius Vber seine Sonn- vnd Feyertags Sonnette“ (1657, in: Deutscher Gedichte, Vierdter Theil)
o Reimworte bleiben gleich
o Vereindeutigung: „diß was du sihst“ (statt „was jetzt kommt vor“)
o Rückschrauben des Konfessionalismus zugunsten biografischer Elemente: „als das Land/
In dem ich auffging fil‘“ (statt „als uns Gott/ Sein Wort, mein Licht, entzog“)
o Stärkung der paratextuellen Dimension: Leser wird angesprochen
o Weniger harte Angriffe auf Kritiker
o Anspielungen auf Catharina von Georgien, Leo Armenius und Die Heilige Felicitas
o Son- und Feyrtagssonnete als mangelhaftes Jugendwerk
o Stilisierung von sich selbst ins Allgemeine
Ergebnisse
o Zweck- und Gelegenheitsdichtung des Schreibens
o Gesellschaftlichkeit durch Aufzeichnungspflicht und Gedächtnisstiftung
o Heteronome Poesie in Zusammenhängen der Publikation bzw. Performanz
o Kunst braucht Legitimation
Andreas Gryphius: „Trawrklage“ (1637) und „Threnen des Vaterlandes“ (1643)
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„Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes“ (aus: Lissaer Sonette, 1637)
o Verklammerung von Sprecher und Leser („wir“)
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Correctio: „gantz/ ja mehr alß gantz“
Tilde [~] über ‚n‘: Auslassungszeichen
„Korbe“: Körbe zur Errichtung von Befestigungsanlagen (Wälle)
„Seelen-Schatz“: der Glaube
Vgl. Opitz: „Trostgedicht“ (intertextueller Bezug)
Metaphysische Sinnebene („Seelen-Schatz“) hinter empirisch erfassbarer Zerstörung
Mischung aus akustischen und optischen Eindrücken
„rasende Posaun“: Kommunikationswerkzeug des Krieges
Pars pro toto: z.B. Schwert steht für den Krieg
Räumliche Fixierung: Straßburg
Geschlechterdifferenz: stark und schwach
Keine Allegorie, sondern Verschiebung durch Metynomien
Geschlossenheit der Bilder: alles ist ‚gestürzt‘
Praeteritio im letzten Terzett: man sagt, man wolle nichts darüber sagen, sagt es aber genau dadurch
o „Dreymal sind schon sechs Jahr“: 18 Jahre, aber auch 666 (Zahl des Tieres; nach Luther:
weltliches Papstbild stehe für 666 Jahre)
o Kaminsky: Straßburg (dort gab es keine Hungersnot) sei Decknennung für Augsburg, wo
die eingekesselte Bevölkerung scheinbar sogar Leichen essen musste
„Threnen des Vatterlandes. Anno 1636“ (aus: Sonnete. Das erste Buch, 1643)
o Veränderte Reime
o Enumeratio verstärkt, was „auff gezeheret“ ist
o Sentenziöses wird durch das Exemplarische verstärkt: Faktoren, die der Zerstörung unterworfen sind
o Verstärkte enumeratio (bis zu fünfgliedrig) erzeugt dokumentarisch anmutenden Effekt
o Klimax im letzten Terzett: „ärger“ – „grimmer“
o Ich-Position als allegorische Sprecherfiguration: verwüstetes Deutschland, nicht Gryphius selbst spricht
o Vereindeutigung von „dreymal sind schon sechs Jahr“ im Titel („Anno 1636“)
o Keine räumliche Fixierung mehr
o Institutionentrias Türme – Kirche – Rathaus metonymisch für die Gesellschaft
Ergebnisse
o Entsetzen und Klage als Sprecher-Figurationen
o Kriegsschilderung durch metonymische Personifikation
o Kriegswirkung zwischen Historie und Metaphysik
o Historische Kontextualisierbarkeit
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Christine Regina von Greiffenberg (1633–1694)
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Schreibsituation und Werk
o Entstammt lutheranischem Landadel in Österreich
o Heiratete unter größtem Widerstand ihren um 30 Jahre älteren Onkel und Vormund;
scheint in Religion und Dichtung geflohen zu sein
o Verkehrte mit Sigmund von Birken (große Vermittlerfigur in der deutschen Literatur)
o Johann Wilhelm von Stubenberg: weiterer Vermittler, Österreicher (österr. Diaspora)
o 1662: Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte, zu Gottseligem Zeitvertreib, erfunden und
gesetzet (Eintrittskarte in die res pubblica litteraria; keine Perikopendichtung, sondern
Betrachtungen entlang der Heilsgeschichte)
Poetologie religiöser Barockdichtung
o Literatur der Einsamkeit
 Kulturtechnik des Rückzugs-und Introspektionsort
 Verdoppelungstechnik: Herstellung eines Gegenübers und Idealisierung des
Selbst (hängt mit dem Konzept der ‚Fremdeigentümerschaft‘ der Zeit zusammen)
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 Eigentümerschaft des Schreibenden durch Gott
 Gegenüber der Einsamkeit: Gebet
o ‚Sprachgefäße‘: Sonett, Epigramm (Czepko, Silesius, von Logen, etc.)
 Verknappung und Zuspitzung durch delectatio
 Sentenzenstil als ‚Merkhilfe‘
 Gedankenbewegung des Scharfsinns: intellektueller Anspruch
o Raum der Performanz: Andacht und Betrachtung
Poesie und Mystik
o Ausdruck einer altersubjektiven inneren Erfahrung
o Theologie des Mittelalters (Cusanus): complexio/coincidentio oppositorum (Zusammenfall
des Gegensätzlichen), z.B. Gott – menschliches Herz
o Darstellbarkeit des Undarstellbaren: Kodierung von etwas nicht Wahrnehmbaren
o (Sprach-)Bilder und Neologismen: Vergleich/Gleichnis, Bild/Allegorie, Bildtheorie der
Abbildbarkeit (Kodierung)
„Auff meinen bestürmten Lebens=Lauff“ (1662)
o Durchgängige Bildhaftigkeit der Nautik: Wirbelstrom, Zirkel, Port, See, Segel, Mast, Ruderknecht, Hafen, etc.)
o Allegorie: geschlossene, fortgesetzte Bilderwelt; Bildbereich vs. Sinnbereich
o „jetz hab ich/ mein Vhr zu richten/ keinen fug“: nautische Uhr muss an der Sonne (=
Gott) ausgerichtet werden (= keine Möglichkeit zur Ausübung des Protestantismus);
mahnt auf Zeitlichkeit
o Zirkel: grundsätzliche Orientierung ist vorhanden; traditionelles Liebesemblem; Symbol
für den Betrachtenden
o Schiff: Verbildlichung der constantia (Hilfe Gottes in der Verzweiflung)
o Korrespondenz mur Birken: Beschäftigung mit Emblematik
o „Mein Herz und Aug‘ ist dort“: Herz: Metapher, Aug‘: Metonymie (was man sieht)
o Zünglein: auch Zunge der Dichterin
o Kaum Adjektive, viele Alliterationen
o Antithese: ruhevoller Hafen – stürmische See
o Noch kein lyrisches, aber bereits mehr Rollen-Ich (Ich-Inszenierung)
o Konstruktion als Folge von Variationen
 Variierte Reihenfolge von Bild- und Sinnbereich
 Variation der Vergleichsbeziehung
 Temporalisierung durch Partikel (schon, dieweil, oft, bald, jetzt, dann)
 Wechsel der metaphorisch-metonymischen Sinnebene im laufenden Satz: „Herz
und Aug“
 Koppelung verbindlicher Bildlichkeit mit personaler (Glaubens-)Inszenierung
(Durchgängigkeit des Pronomen „ich“)
 Schiffahrtsallegorie in neuer Variation: Aufgreifen emblematischer Vorstellungen und starke Verrätselung als meditativer Reiz
„Mein Glaube/ ist ein Glas“ (1683)
o Pictura (Ölgefäß) – subscriptio (Auslegung)
o Penetrante Alliterationen am Schluss
o Sonne: Symbol für Gott; Relation der Gnade: sie wiederstrahlt im Glanz des Glases
o „Es nützet und behagt“: Motto; auch poetologische Aussage als Horaz-Zitat („prodesse et
delectare“); auch dieses Gedicht soll ‚nützen und behagen‘
o Präsenz des Blutes (in ihrem ganzen Werk)
 Vgl. Hl. Gral als Gefäß
 „dein Wunden-wundoel“: Blut als Heilmittel (Blut Christi kann Menschen heilen)
 Mensch ist flüssigkeitsgesteuert (Humoralpathologie)
 Brief an Birken: „Sein Blut ist ein Durst- und Dintenmagnet“ (poetologischer
Grundsatz der Greiffenberg)
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„Vom H. Nachtmahl“
o Eine Form von Selbstanrede
o Tinte ‚brät‘ das Himmelslamm auf Erden
o Sünder darf Gott selbst in der Kommunion empfangen
o Engführung der Antithese: „verzucken“ – „verrucken“
o Steigerungsbewegungen
o Thematisiert Repräsentationsproblem der Eucharistie
 Reihe von Transformationen, die geläufig sind
 Weiterer Schritt: Abbildung von Erwartung und Erfüllung
 Metapher: Christus als eigenes Herz (Verschränkung von Gott und Ich)
 Angelpunkt in Strophe 6: anima (Selbst) vs. deus (Gott)
 Durch die Einverleibung verschränkt sich Ich und Gott
 Inversion: „mache mich“ – „backe dich“ (Brot backt sich selbst)
o Beginnt mit Tinte, endet mit Verstummen wegen der Fülle (barocker Topos)
o Anlehnung an Osterlied Luthers
o Greiffenbergs Dichtung als Ketzerei
 Fluidum: Verschmelzung der Seele (körperlicher Vorgang, Humoralpathologie)
 Erotisierung der mystischen unio
 Orthodoxe Korrekturen durch Hedinger (u.a.)
 Einordnung in Liedpraxis (Umdichtung von Fünfhebern zu Alexandrinern)
 Vereinfachung und Streichung von 5 Strophen („zu übertrieben“)
 Nimmt Körperlichkeit, Poetologie und Aktivität heraus
 Ich ‚lallt‘: Verkindlichung/Abwertung des Menschen
 „versinken“ (passiv) statt „will ganz mich drein versenken“ (aktiv)
Poesie der Liebe: Poetische Konzepte und Darstellungssysteme
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Anakreontik
o Anakreon aus Teon (6. Jhd. v. Chr.)
o Wein, Weib und Gesang
o Hedonistische Tradition
o Vgl. Opitz, Schillers „Ode an die Freude“, „Gaudeamus igitur“, etc.
Petrarkismus
o Francesco Petrarca (1304–1374), Il Canzoniere
o Laura wird besungen: taucht v.a. in Metaphern auf
o 366 Gedichte (Jahr, in dem sie starb, war ein Schaltjahr)
o Oxymora der Gefühle und Hyperbeln
o Poetizität statt mimetischer Absicht
o Antipetrarkismus: Hässlichleitsbeschreibung
Marinismus
o Giambattista Marino (1569–1625)
o Metrisch exakt, blumiger Stil (barocke Schwulstgedichte)
Überblick (Volker Meid)
o Imitation, Innovation und ästhetische Sensibilisierung (von Logau, Gryphius, von Zesen,
von Birken, Greiffenberg)
o Protestantische und katholische Lieddichtung nach der Literaturreform
o Mystiker und Chiliasten (Czepko, Scheffler/Silesius, von Rosenroth, Kuhlmann)
o Spätzeit (Hofmann von Hoffmannswaldau, von Lohenstein, Neukirch, Günther)
Galante Poesie
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Soll eher bürgerlich-gesellig sein
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Nur noch bedingt höfisch nutzbar
Mittlere/niedere Stilebene (statt hoher Stilebene des Petrarkismus)
Körperkonzeption als Voraussetzung von dargestellter Erotik: Humoralpathologie/Temperamentenlehre (menschlicher Körper wird durch Flüssigkeit gesteuert; Aristoteles,
Hippokrates, Galenus; auch: Liebeswirkung durch Blick [Augenstrahl])
Kulturhistorischer Übergang
o Zwischen Barock und Aufklärung (literarisch)
o Zwischen Absolutismus und aufgeklärtem Absolutismus
o Zwischen Absolutismus und bürgerlicher Gesellschaft
Das Galante Tun
o Lebensideal des gallant homme: anständiges Leben, gutes Reden und Betragen, Dekorum,
sprezzatura (Lässigkeit, unangestrengte Eleganz, ‚Coolness‘)
o Übernahme aus Frankreich (Wichtigkeit des Hofes)
o Nicht mehr Umgang am Hof, sondern auch innerhalb der Gesellschaft
o Programm bürgerlicher Affektregulierung (drückt sich im Neostoizismus aus)
o Später auch Adolph von Knigge: Philosophie des Umgangs mit sich selbst & mit anderen
Das Galante Schreiben
o Ausgangspunkt: Briefe (Kombination und Abschleifung der poetologisch geläufigen Stilrichtungen; Aufweichung der Rhetorik
o Galanter Roman: daraus konnte man lernen, wie man galant spricht/schreibt
o Ungezwungenheit in Reim und Satzbau, mittlere Stilebene
Christian Hofmann von Hoffmannswaldau: „Albanie“
o Gedicht als diskursives Spiel: scheint keiner persönlichen Erfahrung zugrunde zu liegen
o Neukirch‘sche Sammlung: überregionale Mode
o Eingang: Gegenwart (Bild des Mai) vs. Zukunft (Schnee)
o Anrede: Ich spricht ein Du an und will es überreden
o Zweck des attraktiven Körpers; Projektion des männlichen Diskurses von Sexualität
o Konventionelle Beschreibung des erotischen Körpers (vgl. Petrarca)
o Schifffahrtsmetapher „Armuths-see“
o Metapher des Paradiesapfels
o Gegensatz zwischen Selbstzwang und natürlicher Bestimmung: Analogie mit der Natur
(auch Sonne wendet sich in die Höhe)
o Argumentationsreihe: 5 erotische Annäherungsstufen (Quinque lineae amoris,Mittelalter)
1. Visus (Fernsinn)
2. Allocutio (Hörsinn)
3. Tactus (Tastsinn)
4. Osculum/basium
5. Coitus/actus
 Hier verkürzt: Kuss – Brust – Vereinigung
o Gegensatz von Natur und Kultur: bedeutet, dass dies der heutige Maßstab se
o Kultur als „Menschen-satz“ (menschliches Gesetz) im Gegensatz zum göttlichen Gesetz
o Funktionalisierung von religiösen Konzepten als Sprachspiel
o Argumentum ab usu als Speisemetaphorik, aber auch Metonymie der Einverleibung
o „Wünscht nicht ein hertz, daß es dabey vergeh?“: ‚kleiner Tod‘ im Orgasmus
o Schlussstrophe nimmt Imperativ der 1. Strophe wieder auf; dazwischen immer Fragen
o Locus amoenus: „Venus-au“
o Keine Figur gewinnt eine Kontur: Austauschbarkeit; Albanie als weibliche Abstraktion
o „uns“: spricht von allen Menschen bzw. Männern; nie „ich“: vollkommen unpersönlich
Johann Christian Günther (1695–1723): „Aria. An seine Leonore. Die immer grünende Hofnung”
o Der Autor
 Diskursivität ist nicht mehr hinreichend, um seine Lyrik zu interpretieren
 In seiner Lyrik sind Partikel der Realität erkennbar
11
Bruch mit dem Vater: wird 1716 zum Dichter gekrönt (kostete Geld); Vater bezahlte ihm die Schulden nicht
 War eine Art ‚Ghostwriter‘ für Gelegenheitsdichtung
 Lebte immer bei Freunden; stirbt an Tuberkulose
Titel zeigt Signale dreier Gattungen:
 Arie: singbarer Liedtext, keine metrische/strukturelle Bindung
 Leonore: Überredungsziel der galanten Liebe
 Immer grünende Hoffnung: Emblematik (zitiert Emblem von Hohberg)
Strophenschema: Lang- und Kurzzeilenwechsel; metrische Vierzeiler durch Sechszeiler
gebrochen, dessen Metrik unbestimmt scheint
1. Strophe
 Eindruck bewegter Dramatik: 12 Tätigkeitsverben, ohne komplizierte syntaktische Struktur
 Schilderung eines Baumes, der immer wieder grünen wird (enumeratio partis)
 Wetter verweist auf Sinnebene des Unglücks
 Zwei Abstrakta: ‚Tyrannei‘ und ‚Wüten‘ (Unwetter wird personifiziert)
 Konventionelle Versatzstücke
 Programm der constantia: in der Stürmigkeit beständig bleiben
 Vgl. Justus Lipsius: De constantia (1599, Neostoizismus)
2. Strophe
 Herz und Geist bleiben hart und unnachgiebig
 Pathetische Sprache
 Heroische Entschlossenheit
 Natur wird auch auf die Innerlichkeit der Sprecherinstanz angewandt
 Einlösung der Hoffnung wird mit Geduld erwartet (im Widerspruch mit Wille
zum Kampf)
3. Strophe
 Anakreontische Anklänge
 Drehpunkt: galante Konzeption von Liebe
 Sprechsituation wird zum Kampfplatz
 Palme und Anker: Symbole der Beständigkeit
4. Strophe
 Beständigkeit wird wiederholt und direkt in den Fokus gerückt
 Apostrophe an die Geliebte
 Topos, dass die Dichter Ewigkeit herstellen
 Gedicht zitiert durch seine Form Philipp von Zesens „Ehrenlied auf das herliche
Zimer der Himlischen Dichtmeister“: Unsterblichkeit der Dichtung als Thema
5. Strophe
 Galante Überredung: Überzeugen von der Treue wird versucht
 Punkt der weitesten Entfernung (Jüngster Tag): Perspektive dreht sich von Blick
in die Zukunft zum Blick in die Vergangenheit
Anstelle des galanten Scherzens wird die bürgerliche Ethik der Treue thematisiert
Riesige Kenntnis von Poesie: macht die Intertextualität zu Spielmaterial
Poetologischer Bezug: Dichter stellt Ewigkeit her (vgl. Catull) – biografische Argumentation: in seinem Leben gab es sonst nichts, woran man anhalten konnte
Liebe wird um Verbindlichkeit erweitert

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Der Blick in die Natur
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Was heißt ‚sehen‘?
o Wissensmodell des Sehens
 Ausgangspunkt: humoralpathologisches Modell
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Augen beschießen sich mit ‚Lichtpfeilen‘; Verdickung des Blicks im Blut des Beschauten
 Mikroskop und Fernrohr: Erweiterung des Sehens
 Zentralperspektive in der Malerei

‚skopisches Regime‘: zeitspezifische Rangordnung des Blickes
o Imaginations- und Meditationstheorie
 Meditation und Betrachtung: phantasia und visus (Vorstellung/Verbildlichung
von Spirituellem)
 5 Aspekte
 Memoria: Bildgedächtnis
 Imaginatio: Produkition von Bildern
 Sensus: sinnliche Wahrnehmung
 Intellectus/cogitatio/applicatio: Verarbeitung durch den Verstand, Reflexion und Anwendung
 Voluntas: der Wille muss das Leben ändern wollen
o Evidenz und Inszenierung: Bild, Text, Akt
 Rhetorik des Einleuchtens: evidentia als rhetorisch hergestellter Augenschein
 Zusammenfassend: „Der Akt des Sehens gehört zur Physiologie und Anthropologie, der Akt der Bildverarbeitung bedarf der Abbildungs- und Erkenntnistheorie,
der Akt des Sprechens ist in der Rhetorizität und Medialität der frühneuzeitlichen Poetik verankert.“
 Okassionelle (zufällige) Meditation führte zu speziellen Gedichttypen
Friedrich von Spee (1591–1635)
o Bekannt v.a. wegen seiner „Trutz-Nachtigall“
o Übernimmt Opitz’sche Theorien für den süddeutschen (katholischen) Raum
o „Conterfey des menschlichen Lebens“
 Verzeitlichung der Natur: nicht momentane Beschreibung, sondern Vergänglichkeit im Zentrum
 Augenblick zeigt nichts festes
o „Lob Gottes auß einer weitleuffigen Poetischen beschreibung der frölichen SommerZeit“
 Natur als Abbild eines göttlichen Bildentwurfs
 Phänomene sollen durchsichtig gemacht werden, um göttlichen Plan zu sehen
 Übergang von Erfassen zu Bedenken: zweite meditative Stufe
o Seine Werke seien zum ‚Brauchen‘, nicht nur zum Lesen gemacht
o Hineinstellung seiner Poesie in den heilsgeschichtlichen Horizont
Cathartina Regina von Greiffenberg
o „Lust Liedlein bey dem Ypserfluß“
 Doppelte Funktion von Schrift: Aufzeichnungs- und Kommunikationsmedium
 Allegorisierung: ‚Blatt‘ gehört sowohl zum Baum als auch zum Buch
o „Göttlicher Gnade Betrachtung/ in der Blühe“
 1. Strophe
 Es geht um blühende Kirschbäume
 Sprechendes Ich ist umringt von visuellen Eindrücken; Perspektive des
Sehens wird zunächst nicht festgemacht
 Freude über den Natureindruck als Freude über Gott
 Räumliches leitet sich in Zeitliches um
 Ausdruckswille ‚verstopft‘ die Wortquellen
 Meditation mündet im Gebet
 Gattungskonventionen der Erbaulichkeit werden abgehandelt
 2. Strophe
 Flug des Reihers zur Sonne („läst er alles Nidre ligen“): Bild der Seele

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-
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
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Geist zieht die Sinne nach, da er sich dem Ewigen und nicht dem Zeitlichen widmet (umgekehrtes Meditationsmodell)
 3. Strophe
 Reiher wird nun plötzlich zum Storch (wohl Fehler)
 Reiher frisst & erbricht in Hals seiner Kinder: Bild des Brotbrechens
 Geistliche und poetologische Funktion: Herunterbrechen von Glaubensinhalten sowie Gedächtnisstiftung
 4. Strophe
 Comparatio: Gott blüht viel schöner als der Weichselgarten
 Exclamatio: entspricht meditativem Gebet, bleibt aber poetische Selbstansprache (spricht Gott nicht direkt an)
 Schlusssequenz bekräftigt die Teilhabe des Ich an einem guten, gottgefälligen Leben im Bild von Samen und Reife mit dem Wortspiel des ‚Versenkens‘ als allegorische Klammer
 Keine Verortung des Ich; auch keine Erkenntnisrichtung von Betrachtendem
und Gegenüber
 Implizite Poetik
 Allegorischer Charakter der Welt ist wichtiger als empirische Erscheinung
Barthold Heinrich Brockes (1680–1747)
o Vertreter der literarischen Anschaulichkeit
o Übergangsfigur zwischen Barock und Aufklärung
o Galanter Vertreter einer frühbürgerlichen Funktionselite
o Erweiterung der galanten Poetik um Patriotismus (bürgerliche Nützlichkeit)
o Neunbändiges Gesamtwerk: Irdisches Vergnügen in Gott (1721–48)
o Verbindet Elemente naturwissenschaftlicher Épistème, Religiosität und Empirik
o Interesse an visuellen Phänomenen: Farbspiele, Schatten, Lichtbrechung, etc.
o Beschreibung des Auges („Das Gesicht“) im Lehrgedicht Die fünf Sinne: Beschäftigung mit
gängigen Theorien des Sehens
o „Kirsch-Blühte bey der Nacht“ (1727)
 Jambisch, Paarreim, Verslänge zwischen 3–6 Hebungen, niedriger Stil
 Blickrichtung und visuelle Effekte
 Beginnt mit „ich“: Fixierung des Standpunktes
 Zwei Vergleiche, aber keine metaphorische Verschlüsselung
 Zweifach sich nach oben bewegender Blick: Kirschbaum – Stern
 Gestaltung durch Beschreibung als enumeratio partis
 Wirkungsmoment ist Evidenz: Eindruck des Gedichtes soll im Lesen
verfestigt werden
 Aufbau und Pointe
 Auf eine Erkenntnis gerichtet
 Verben, die mit dem Ich verbunden sind, sind entweder mit Schauen
oder mit Denken beschäftigt
 Sentenz als Essenz
 Argumentation a minore ad maiorem: extreme Übertreffung der Weiße
 Ich
 Betrachtungshaltung an die Natur: Dinge sind neutral
 Reflektieren des Gesehenen auf Gehalt in meditativer Betrachtung
 Neuer theologisch-philosophischer Horizont: Physikotheologie
 Vernunft wird nun auch zum Maßstab für Theologie
 Empirisierung der Welt wird von der Theologie beantwortet
 Teleologische Auffassung: Welt strebt einem Ziel zu
 Deismus (mechanistische Auffassung)
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
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
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o
o
Optimismus bezüglich der Perfektion der Welt
Sinnliche Anschauung der Weltphänomene
Denkbewegung gleicht induktivem Vorgehen
Ausgehend von der Betrachtung des Sinnlich-Konkreten wird durch einen Rückschluss auf Abstraktes geschlossen
 Erbauliche Tendenz mit populärwissenschaftlicher Information
 Theodizee (Gottrechtslehre)
Brockes als Übergangsfigur
 Bevorzugt deskribierende Nachahmung zur Herstellung eines Gotteseindrucks
 Kennt meditative Religionspraxis gut
 Wurde oft als ‚wissenschaftlicher Beschreiber‘ statt religiösem Poet gelesen
 Thematisiert auch literarische Veränderung (z.B. Vereinigung des Auftragsschreibens mit persönlichem Impuls)
„Der Kürbis“: biblische Allegorie; am Schluss behält die Textwelt die Überhand (statt
Meditation auch Aufmerksamkeit)
Klopstock und das Erhabene
-
-
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Die Verschiebung im System von Poesie: Poetik von Ode und Lied
o Ode
 „lyrische Dichtart erhabenen Charakters“
 Um 1800 das Inbild der Poesie (vgl. Hölderlin)
 Wird zu einer Art Synonym für Empfindungsaussprache
 Hohe Stillage, Pathetik, fast keine Reime
 Strenges Metrum: Bezeichnung durch Länge und Kürze (quantitierend, Antike) –
im Deutschen jedoch nach Hebungen und Senkungen (akzentuierend)
 Antikes Formprinzip: benannt nach Schöpfern (z.B. Sappho, Alkaois, Pindar)
o Lied
 Sangbar, musikalisch und melodisch
 Entwickelt sich zum Gegenbegriff der Ode (bei Opitz noch weitgehend synonym)
o Sonett verliert an Wichtigkeit
Friedrich Gottlieb Klosptock (1724–1803): Dichter, Autor, öffentliche Person
o Verfasser des Messias: wurde zu nationalem Epos; Vorlage: John Miltons Paradise Lost
und Paradise Regained
o 230 Oden, 6 Dramen und viele theoretische Abhandlungen
o Selbstaussage in der Liebeslyrik: Andichtung von Fanny
o Adaption der antiken Metrik und Strophik
o Etablierung dichterischer Autorschaft im Spannungsfeld zwischen literarischem Markt
und Patronage (Pension vom Herrscher von Dänemark)
Poetik der Innerlichkeit: Gefühl und Erhabenheit
o Gefühl als poetisches Wirkungsziel
 Poesie zeige Gegenstände von einer bestimmten Seite und setze somit die Seele
in Bewegung
 Realitätsabbildung: Gegenstände, die wir kennen oder vermuten
 Hängt mit dem Literaturstreit über Phantasie in der Literatur (Gottsched – Bodner/Breitinger) zusammen
o Das Erhabene
 Europäisches Phänomen
 Noch bei Gottsched: rhetorisch-formale Kategorie (höchste Stilebene)
 Ergreifen des Natureindrucks
 Bodmer: Eindruck setze unsere Sinne still und lasse uns erstarren (beängstigend); sowohl das Schöne als auch das Hässliche/Erschreckende
 Künstlerische Nachahmung durch Mimesis
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o
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 Kant: gänzlich formale Konzeption als subjektive Wahrnehmung
 Schiller: das Erhabene soll im Drama erzeugt werden
Vergleich zur Barockpoesie
 Braucht keine Rückbindung an die Spiritualität mehr
„An Lyda“ (1773)
o Erschien zunächst anonym, 1774 unter Klopstocks Namen, 1778 wieder anonym
o Später unter dem Titel „Hedone“
o Steht noch in der Programmatik der Empfindsamkeit
o Nicht durchgängig gereimt (nur 3 identische Wörter als ‚Reime‘)
o 1. Doppelstrophe
 Weinen verstärkt sich immer mehr
 Sinneseindruck des Sehens verklammert die Doppelstrophe
 Liebesimagination: Bild wird vom lyrischen Ich selbst erzeugt
o 2. Doppelstrophe
 Nun räumliche Ausfaltung (Tal, Blumen, etc.)
 Amouröse Requisiten werden gesammelt und ‚geflochten‘
 Zweifache Beschwörung, dass sich die Erscheinung in Lyda verwandeln soll
(Ähnlichkeit zur Geisterbeschwörung)
 Liebesdarstellung als Absenz, Präsenz und Angestrebtes
 Substitution von Liebe/personaler Kommunikation durch Literatur (in der
Schrift fixierte Selbstaussage muss nun so authentisch wie möglich sein)
„Der Zürchersee“ (1750)
o Hintergrund
 1748: erster Teil des Messias (großer Erfolg)
 Einladung von Bodmer: Gast erwies sich aber als lebenslustiger junger Mann, der
nicht wirklich mit ihnen diskutierte
 Fahrt mit ca. 15 Leuten auf dem Zürchersee (Fest, Gesang, Natur, Unterhaltung,
etc. ohne Bodmer und Breitinger)
o Nicht bloße Erlebnislyrik
o 1. Strophe
 Kahnfahrt als literarischer Topos, jedoch verlässt er diesen und schwankt auf
subjektive Empfindungen um
 Zunächst Reflexion der Natur: Modus des Vergleichs
 3 Erklärungsebenen: Natur, Mutter Natur und „deiner Erfindungen Pracht“
o 2/3. Strophe
 Musenaufruf an die süße Freude
 Genauere Beschreibung der Situation (Natur, Abend, Geselligkeit)
o 4./5. Strophe: zweimal ‚schon‘ in jeder Strophe; ‚jetzt‘ in Strophe 5 wird bereits erwartet
(Narration setzt ein)
o 6. Strophe
 Aus Jauchzen wird Gespräch, aus Gespräch Gesang
 Kette von Signalworten aus dem zeitgenössischen Literaturbetrieb
 Haller und seine Ode „Doris“ (1730)
 Hirzel: Schriftsteller, der augenscheinlich auf der Bootstour dabei war
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-
 E.C. von Kleist: Dichter und Offizier
 Hagedorn und Gleim: anakreontische Dichter
 „wir Jünglinge“: soziale Performanz als Voraussetzung von Freude
o 7./8. Strophe
 Plötzlichkeit: Göttin Freude zeigt sich
 Religiöse Vorstellung (vgl. Heiliger Geist)
o 9.–16. Strophe
 Anakreontische Topik: Spannung in Form einer Überbietung
 Frühling als Rahmen für Liebe, Wein und Ruhm/Unsterblichkeit
 Emlematisch: thesenhaftes Motto – pictura – subscriptio
o 17.–19. Strophe
 Auftritt eines Ich: enthusiastischer Wunsch
 Freundeskreis auf dem Boot wird auf Gesellschaft des Vaterlandes erweitert
 Biblische und antike Konzepte
 Apotheose der Literatur und des Dichters
 Entfernung zwischen Autor und Leser wird thematisiert
o Dem Muster Pindars verhaftet: ein Hauptaffekt (Freundschaft) hält ungeordnete Affekte
zusammen
o Individuelle Freude und freundschaftlicher Austausch der Herzen
o Klarnamen der Männer vs. literarische Decknamen der Frauen (Objektivierung, männliche Dominanz)
o Diskussion des Erhabenen
 Säkularisierung: Ästhetisierung des Sakralen
 Differenzierung: Ästhetik wird zur philosophischen Theorie
 Individualisierung: wahrnehmendes Subjekt als Adressat
o Poetik des Erhabenen
 Überraschungswirkung des Erhabenen: Schönheit der gestörten Ordnung
 Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Literatur: Konzeption d. Wunderbaren
Der Messias (1749–73) – Alter Stoff, neu geschrieben
o Säkularisierung: Bibel wird mit dem Epos verbunden
o Identifikationsfigur Abdiel Abadona (nicht in der Bibel)
o Dignität des Stoffes: neue Leser
Volksgesang und Ballade
A. Theorie
-
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Ursprünglichkeit: Die Suche nach dem Authentischen
Veränderung der epistemografischen Normen und neue Möglichkeiten
Empfindsamkeit: Ausgleich zu der Rationalisierung der Aufklärung, aber nicht voneinander
trennbar
Zärtlichkeit: neue Wahrnehmung des Kommunikationspartners, Stärkung des Individuums, Sozialkompetenz und Kombination von Verstand & Herz
Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769): Brieflehren
o Forderung nach Natürlichkeit, Überzeugungskraft und Lebhaftigkeit des Briefes
o Brief vertrete das Gespräch (bereits seit der Antike)
o Aber: keine Kolloquialität, höhere Formalisierung
o Natürlichkeit: nicht das Unverstellte/Spontane, sondern v.a. sollen Affekte fließen
o Authentischer Transfer des Gefühls
o Dies verlangt jedoch nach neuer Rhetorik und Ordnung (celare-artem-Prinzip)
o Sensibilität: Frauen könnten natürlichere Briefe schreiben
Johann Gottfried Herder (1744–1803): Historische Spurensuche in der vorgeschichtlichen Poesie
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Hintergrund: Schwinden des alten Ursprungsmythos (durch Gott); Wo liegt der Ursprung
der Kultur?
o Sprachtheorie: Ist der Laut des Tieres die Urform der Sprache? Sprache verfasse uns die
Welt (vgl. später linguistic turn); Welt sei sprachlich konstruiert und historisch vermittelt
o Historisierung der Kultur: Verzeitlichung des Kulturbegriffs, Kreislauf aus Aufschwung
und Niedergang (auch bei Kunst, Wissenschaft und Sprache)
o Ursprünglichkeit als poetische Qualität: Medienmodell; direkte Relation von Volkspoesie
(unschriftlich) und Literatur
o Authentizität und Medialität: Unmittelbarkeit hänge mit Medialität zusammen (gesungen
> gedruckt); Sprache zunächst ‚lebendiges Wort‘; Verfall durch Schrift und v.a. Buchdruck
o Suche nach Volksballaden, Märchen und Liedern: Nachforschung im Volksmund
James Macpherson (1736–1796): Ossian-Gesänge (Fragments of Ancient Poetry, Hugh Blair, 1760)
o Herder verweigert am längsten das Faktum der Verfälschung
o Eigentlich das Ideal der Natürlichkeit
o Musikalisch-metrisierende Qualität
o Maßgeblicher Einfluss auf den Sturm & Drang
o
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B. Gottfried August Bürger (1748–1794): „Lenore“ (1773)
-
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Autor
o Verfasser der Münchhausen-Lügengeschichten
o Übersetzer (v.a. Shakespeare)
o Unsteter und schwieriger Mensch; am Schluss verarmt
o Mitglied des Göttinger Hains (Ersatz von Publikum)
Narrative Struktur
o 1-4: Exordium
 Initium ex abrupto, in medias res, nachgetragene Vorgeschichte
 Figur erhält sofort das Wort
 Im Rahmen des Siebenjährigen Krieg
 Erzählerbericht ergänzt Figurenrede
 Lenorenstrophe: ruhiger, rhythmischer Fluss
 Zerrauft sich ihr „Rabenhaar“: Metapher der Schwärze, Vorausdeutung der Galgenvögel
o 5-11: Erzählphase 1 – Lenore und ihre Mutter
 Redeanteil der Mutter wächst
 Einschärfung der Religion: zwei Zitate (aus Kirchenlied & Lutherbibel)
 Blasphemische Tendenz: Religion als „eitler Wahn“
 Argument der Untreue: will möglichen Glaubensabfall verhindern
 Religiöse vs. emotionale Weltdeutung: Generationenkonflikt als zentraler Konflikt der Aufklärung
 Antikes Modell der Verzweiflung: Anmaßung (hybris) – Verblendung (ate) – Rache (nemesis)
 12–18: Erzählphase 2 – Überredung der Geliebten
 Verführung am Fenster (Figuration eines Totentanz)
 Massive Zweideutigkeiten erschließen sich Lenore nicht
 Naiver, traditioneller Liebesdiskurs überdeckt das Unheimliche
 Schnelle, kurze Dialoge
 19–28: Erzählphase 3 – Geisterritt
 Beschreibung der Geschwindigkeit (Strophe 24–27): Göttinger Hain wollte
die Reise besser angedeutet sehen
 Enumeratio partis: Steigerung von der Umgebung bis zum Himmel
 29–32: Finale auf dem Friedhof
 Zwischen Tod und Leben
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 Gespensterchor: Moritatenschluss mit plakativer Moral
 Tilgung der Blasphemie
 Aber: Moment der Säkularisierung durch unbedingte Liebe
Auch als Wahnvorstellung/Traum interpretierbar
Sinnliche Eindrücklichkeit: Simulation von Gegenwärtigkeit
o Dialogische Figurenrede (dramatisch, Erzähler tritt zurück)
o Lautmalerei: Simulation akustischer Eindrücke
o Synästhetische Kombinationen: akustische und optische Eindrücke
o Strategie der Leserlenkung: Figur und Leser verschwimmt in der Anrede
o Informationsdifferenz zwischen Lenore und dem Leser
Poetische Programmatik
o Kollektivität der Herstellung (Refrain entsteht erst durch die Mitformulierung des Göttinger Hains; unklar, von wem die Endfassung eigentlich stammt)
o Entbehrlichkeit der einzelnen Autorschaft knüpft an Volkspoesie an
o Hypotexte: Hamlet, Götz von Berlichingen, Herder Übersetzung von „Sweet William’s
Ghost“ (aus Percys Ancient English Poetry)
o Volkspoesie als natürlich-authentische Dichtung
„Herzens-Ausguss“: Bürgers Poetik des Populären
o Neuformulierung der Herderschen Ausführungen zur Volkspoesie
o Leserevolution: von Wiederholungs- zu verbrauchender Lektüre
o Problematisierung der vielen ‚abgeschmackten‘ Bücher
o Forderung der Genieästhetik: Schreiben aus der eigenen Schaffenskraft anstatt aus anderen Büchern
o Bei Klopstock und Wieland werde mit volksfremder ‚Gottessprache‘ gesprochen
o Poesie als ‚Odem Gottes‘, der für eine Vielzahl von Menschen gedacht sei
o Ballade als neue Modegattung
C. Johann Wolfgang Goethe: „Erlkönig“ (1782)
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War zur Zeit etabliert, beruflich (Geheimrat) und privat (Charlotte von Stein)
Eröffnungsgedicht des Singspiels Die Fischerin
o Freilichtbühne, ‚Wald- und Wasserdrama‘, harmlos und Happy End
o Meiste Lieder aus Herders Volksliedsammlung
o Vorlage: „Erlkönigs Tochter. Dänisch“
o Falschübersetzung von Herder: ‚elverkonge‘ ist eigentliche ‚Elfenkönig‘
o Goethe schreibt Entschuldigung an Caroline Herder für die Verwendung
Goethe erzeugt – im Gegensatz zu Bürger – Leerstellen
Narrativer Ablauf
o 1. Strophe
 Historisch offen: Ritter oder Bauer? (Hof kann auch Bauernhof heißen)
 Füllworte erzeugen Redundanz (Kunstlosigkeit)
o 2. Strophe
 Gesicht = nicht nur Antlitz, sondern auch Sehvermögen (also: Warum siehst du
es nicht?)
 Bedrohliche vs. entzauberte Natur – voraufgeklärtes vs. aufgeklärtes Naturbild
 Schweif: Schleppe des Königsmantels
o 3. Strophe
 Adjektive bringen Farbwerte hinein
 Strand als locus amoenus: See- oder Flussufer, südliche Atmosphäre
o 4. Strophe
 Vater ist aufgeregt: doppelte Beruhigung („Sei ruhig, bleibe ruhig“)
 Sprache wird zu vorsprachlichem Säuseln degradiert
o 5. Strophe
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Ziel des Erlkönigs: Einschlafen (= Tod)
Erotische Komponente im Angebot („feiner Knabe“, „meine Töchter sollen dich
warten schön“)
 Erlkönigs Töchter sind auch Mutterfiguren: gleichen festen väterlichen Halt aus
6. Strophe: junge Töchter seien eigentlich alte Weiden
7. Strophe
 Emotionale Öffnung des Metrums
 Pädophile Vergewaltigungsdrohung
 „ein Leids“: altertümlich und volksliedmäßig
8. Strophe
 „Dem Vater grausets“: hat keine Erklärungen mehr
 „er reitet geschwind“: will der Situation entfliehen
 Letzte Zeile: Vergangenheit (davor: historischer Präsens)


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o
o
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Metrik
o Knittelvers mit freier Senkungsfülle, männliche Endungen
o Bevorzugung eines Reimvokals: viele ‚i’s, wenige ‚u’s (dunkel)
o Metrum stellt Geschlossenheit her
Wer spricht?
o Rahmenstrophen durch Erzähler
o 2, 4, 6: Kind und Vater im Dialog
o 3, 5: Erlkönig allein, 7: mit Kind
o Höhepunkt: Strophe 7: 4 mal ‚a‘ im Reimvokal
o Erstfassung: Gedankenstriche, ab 1789: Anführungszeichen
o Anrede klärt jedoch bereits über Sprache auf („mein Sohn“ – „mein Vater“ – „Kind“)
Ballade zwischen Lyrik, Epik und Dramatik
Anschluss an das Authentische und Ursprüngliche
Sprechen der Natur und Stimme der Vernunft
o 18. Jhd.: pantheistische Natur als Mutter, aber auch Bewusstsein der Gefährlichkeit der
Natur (nicht mehr Strafe Gottes)
o Tobler: „Natur“ (1782/83) – Illustration des Naturbilds der Zeit, auch Rätselhaftigkeit
o Natur als Machtfiguration („Kron und Schweif“) sowie geschlechtliches Wesen (Liebe)
o Kind ist zunächst kein Opfer: ein Vater wirbt um das Kind eines anderen Vaters
o Vom Kindlichen zum Erotischen
o Topik: erste 3 Stufen der quinque lineae amoris (Anblick – Gespräch – Berührung)
o Rationalitätskritik: Vater scheitert
o Psychoanalytische Deutung: Verschiebungen
o Aber: Vater überlebt, nicht Kind (pädagogische Deutung: hänge nicht Träumen nach,
sondern sehe die Sachen, wie sie sind!)
o Pädagogischer Diskurs: Desillusionierung soll hergestellt werden
o Eindeutigkeit ist nicht zu haben
D. Was kann Kunst? Friedrich Schillers Idealisierungskunst gegen Bürgers Popularitätskonzept
-
Bürger: „Popularität eines poetischen Werkes ist das Siegel seiner Vollkommenheit.“
Schiller: Über Bürgers Gedichte (1791)
o Aufgabe der Poesie sei die Wiederherstellung beschädigter Verhältnisse
o Autorschaft sei gesellschaftliche Verantwortung: Dichter könne nur Individualität vermitteln (diese müsse es also wert sein, verbreitet zu werden)
o Poetik des Volkstümlichen solle den Geschmack des Kenners genügen, ohne für das Volk
ungenießbar zu sein (Bürger lasse sich herab – man müsse das Volk aber heraufheben)
o Künstlerische Vollkommenheit: Idealisierungskunst statt Popularität
 Bedingung des Textes: innerer Wert, unabhängig von der Fassungskraft seines
Lesers (Kernthese der klassischen Autonomieästhetik)
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Idealisierungskunst: „Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freiheit des Geistes, durch eine Selbsttätigkeit möglich, welche die Übermacht der
Leidenschaft aufhebt.“
„Ritter Toggenburg“ (Ballade aus dem Musenalmanach von 1797)
o Schauplatz Spanien: vierhebiger Trochäus statt Knittelversen (Vers des spanischen Epos,
oft zur Nachahmung romanischer Vorbilder verwendet)
o Romanzenstrophe: elegisch-rührende Version des Erzählgedichts, in dem Liebe im Mittelpunkt steht
o Narrativer Ablauf
 1: Schwesterliebe ihrerseits vs. erotische Liebe seinerseits
 2: Kreuzzug, der eher als Wallfahrt denn als Krieg erscheint
 4: rasch überschlagene Erzählung der Heimreise
 5: Motiv des knappen Verpassens
 7: Kontrast: ritterliches (Schloss), religiöses (Kloster) & Eremitenleben (Hütte)
 8: Verklärung der Liebe zum „teuren Bild“
 10: Tod des Ritters
o Volkstümliche Traditionen in das Gedicht verwebt
o Subtext der bürgerlichen Werteordnung und der Religiosität

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Johann Wolfgang Goethe: „Prometheus“ (1773/74)
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Kontext
o Zunächst Dramenentwurf (bereits hier Religionsverwerfung)
o Gedicht zirkuliert vor Druck durch Weitergabe in Freundeskreisen
o Leichte Überarbeitung 1789
Mythologie
o Etymologisch ‚der Vordenker‘; Sohn eines Titanen, Schöpfer des Menschen (stiehlt Feuer
vom Sonnenwagen, um das Tierische des Menschen um etwas Göttliches zu erweitern)
o Strafe: wird an Berg geschmiedet, ein Adler Ethon frisst ihm jeden Tag die Leber
‚Sturm-und-Drang-Antike‘, an Herder orientiert
Gegensatz und Rhythmus: Erde vs. Himmel, Rebell vs. Gott
Rhetorische Anklagerede Prometheus‘: Goethe war Jurist
Gegensatz von Natur und Kultur: letzteres als Inbesitznahme von Natur
Prometheus als zentraler Kulturschöpfer der Menschheitsgeschichte
Schlichte Sprachbilder, nur ein Vergleich (Zeus – Knabe)
Inhaltliche Analyse
o Anklage 1 (1–12)
 1. Strophe
 Spricht Zeus an; 2 Befehle: Himmel bedecken & üben an Eichen und
Bergen (Blitze)
 Apostrophe oder Befehl?
 2. Strophe: seine weltlichen Besitztümer werden von Zeus nicht beeinflusst
o Anklage 2 (13–19)
 Verhöhnung aller Götter (‚göttliche Armut‘)
 „Unter der Sonne“: Götter seien also eher Teil der Menschenwelt
 Religion bereits hier als ‚Opium fürs Volk‘
 Kulturlosigkeit der Götter: leben von dem, was Menschen ihnen übrig lassen
o Kindheit (20–26)
 Narratio: Tempuswechsel
 Verirrter Blick der Kindheit zu den vermeintlichen Göttern
 Herz: steht nun im Bezug zum Irdischen (den Menschen vorbehalten)
 Kindheit als Entwicklungsphase erst ab 18. Jhd. anerkannt
 ‚elterliches Ohr‘ sollte sich des Kindes erbarmen
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Anspielung auf Korintherbrief: „Als ich ein Kind war […] Jetzt bin ich Mann geworden und brauche es nicht mehr“
„Heilig glühend Herz“ (27–35)
 Übermut der Titanen als Problem im Mythos: Tod & Sklaverei ist aber Erfindung
Goethes
 Religiöses (‚heilig‘) wird auf das Menschliche projiziert; das Innere des Menschen im Zentrum (vgl. Genieästhetik)
 Herz half ihm, nicht der deistische, ‚schlafende‘ Gott
Religion (36–44)
 Deistischer Gott darf keine Ehrung fordern
 Theodizee: Wie kann Gott Elend der Welt zulassen? (vgl. Erdbeben v. Lissabon)
 Biblisch angehauchte Rede
 Weitere Degradation: Zeit und Schicksal seien auch die Herren der Götter
 „allmächtige Zeit“ – „ewiges Schicksal“: Verschränkung (Attribute)
Anthropologie (45–49)
 Bilder werden im Laufe des Gedichts häufiger und komplexer
 Refutatio von Gegenargumenten
 Vita contemplativa vs. vita activa
 Rückzug: Bild der Wüstenflucht (vgl. Eremiten)
 Prometheus aber resigniert nicht, sondern arbeitet
 Naturanaloge Vorgänge der Entwicklung
 Traum als Selbstentwurf
Selbstermächtigung (50–56)
 Unabhängigkeit von einem Gott
 Effekt der Vergegenwärtigung: „Hier sitz ich“ (Präsens)
 Menschen seien dafür geschaffen, Götter nicht zu achten
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Poetik
o Ästhetische Geschlossenheit: Allmähliche Auflösung des jambischen hin zu freiem
Rhythmus (lebendiger Eindruck und Pathos); Strophen sind verbunden durch Argumentation und Bildbereich der Hitze
o Implizite Poetik
 Pathos der Ode (vgl. Klopstock und Hölderlin)
 Pindar als Vorbild: Herstellung von Leidenschaft, innerer Beteiligung, etc.; soll
chaotisch-überfüllt wirken
 Vgl. „Wanderers Sturmlied“ (1772): pindarisierende Ode (Erzeugung eines
sprechsprachlichen Gestus)
 Programmatik des Sturm & Drang: direkte Umsetzung von Gefühlen in Literatur
Publikationsgeschichte
o Skandal: Lessing könne sich mit pantheistischen Tendenzen (Spinozismus) identifizieren
o Anonyme Publikation auf Extraseite (konnte im Fall der Zensur herausgeschnitten werden), zusammen mit Goethegedicht
o In Gesamtausgabe zwischen „An Schwager Kronos“ (pindarisierende Ode) und „Ganymed“: beide haben positive Zeus-Bilder (Entschärfung)
Prometheus als Symbol
o Das Symbol: Theoretischer Kommentar von Goethe
 Dichtung und Wahrheit: Prometheus als Mittlerfigur, antike Figuren als Symbole
 Maximen und Reflexionen: Ästhetische Verwandlung der Erscheinung in Idee
 „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild.“
 Indirektes Aussprechen ist das Symbolische
 Symbol repräsentiert das Allgemeine im Besonderen, jedoch nicht als
Schatten wie bei Platon, sondern „als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“
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Versuch einer Witterungslehre: das Wahre (= Göttliche) zeige sich Menschen nur
im Symbol; Kunst hat symbolische Darstellung (Notwendigkeit d. Hermeneutik)
o Rebellion
 Religionskritik
 Steht damit noch in aufklärerischer Tradition
 Formale und kommunikative Strukturen des Gebets
 Prometheus als gefallener Engel (vgl. Luzifer = ‚Lichtbringer‘)
 Vatermord und Adoleszenz
 Bezug zu Goethes Vater
 Distelköpfen als Kastrationsphantasie
 Rebellion als Figuration des Geneartionenkonflikts
 Im Dramenentwurf: Prometheus ist explizit Zeus‘ Sohn
 Politische Revolte vor der Revolution
 V.a. in der DDR beliebte Interpretation
 Vorrevolutionäre Hoffnungen
 Eigene Entwicklung stehe im Zusammenhang mit Entwurf der gesamten
Menschheit
„Prometheus“ als Kontrafaktur: Gewittergebete (vgl. „Bedecke deinen Himmel, Zeus“: höhnische
Aufforderung) und Vaterunser
Poetologische Lektüre: Programmatik
o Künstler als ‚second maker‘
o Kunst mache das glühende Herz heilig
o Poetologisches Selbstbekenntnis des Sturm und Drang
o Feuerdiebstahl als hermeneutischer Akt
o Formen des Menschen als Herstellung eines Gedichts
o Selbstapostrophe als Autonomieerklärung der Programmatik (vom Gegenüber ins Selbst)
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Friedrich Schiller: „Ode an die Freude“ (1786/1803)
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Entstehung/Publikation
o 1786 in Schillers Zeitschrift Thalia, Neuausgabe 1803
o Beethoven: Bearbeitung des Textes (einige Streichungen)
o Schiller sagt später, Erstfassung sei fehlerhaft („Stufe der Bildung, die ich durchaus hinter
mir lassen musste“)
Stilzüge
o Enthusiasmus („Feuer des Empfindens“): Innerlichkeit
o Freundschaftskult: Gesellschaftlichkeit
o Rhetorik und Topik in der Sprachgestaltung
o Gattung der Ode (Selbsteinordnung in die Literaturgeschichte)
 Poetik: hohe Stilebene für großen Gegenstand
 Strophik: Strophe – Antistrophe (potentieller Gesang bereits enthalten)
Thematik der Freude
o Kontext der Anakreontik
o Z.B. Klopstock: „Sie“ (starke Gestaltungsweise der Ode)
o Z.B. Hagedorn: „Der Tag der Freude“ (anakreontisch) und „An die Freude“ (gleiches Metrum wie bei Schiller, ebenfalls Singbarkeit)
o „Ode an die Freude“ als Antwort auf die Thematik
Aufbau: Ästhetisierung der Religion
o 1: Apostrophe der Freude
 Ad definitionem ab effectu
 Personifikation: „Tochter aus Elysium“
 Feuerbildlichkeit: Funken – Feuer
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„feuertrunken“: Paradox/Metapher für rauschhafte Verzückung
Freude heilt durch „Mode“ geteilte Welt: Kunst kann heilen, was gesellschaftliche
Institutionen nicht schaffen
 Religiöse Ebene immer wieder angetönt,erlaubt aber keine theologische Deutung
 Enthusiastische Ausweitung der Kernfamilie auf alle Menschen als Gottesbeweis
2: Subjekte der Freude – Bund
 Wer nicht Freude empfinden kann, sei aus dem Bund ausgeschlossen: entspricht
der Zirkelbildung der damaligen Gesellschaft (z.B. Freimaurer)
 Doppelte Betonung des Besitzes: Ursache für die Misere der Natur (Rousseau)
 Kein konkreter Gott genannt („der Unbekannte“)
3: Charakter der Freude – anakreontische Einbindung
 Freude wurde frei von der Natur gespendet
 Küssen – Reben – Freund
 Paradigma des Kollektivs: ‚alle‘ & ‚uns‘
 Vertikale Linie zwischen Erde (wollüstiger „Wurm“) und Himmel (Cherub = ohne
Leiblichkeit und Sinnlichkeit)
 Das Erhabene: Verdoppelung des Gefühls zwischen Bewunderung und Ohnmacht
4: Freude als Kraft der Natur
 Affekt der Freude wird zum Weltbeweger hyperbolisiert
 Überschreitung des naturwissenschaftlichen Paradigmas
 Analogie zwischen Weltenlauf und Lebenslauf
5: Freude als Begleiterin des Menschen
 Freude als Agitatorin der menschlichen Bereiche
 Starke Metaphorisierungen
 Apokalyptisches Element: Särge platzen auf (der Blick hinaus = Auferstehung)
6: Freude als individueller Antrieb
 Es sollen Konsequenzen gezogen und zur Tat geschritten werden
 Gebot der Gesellschaftlichkeit, aber ohne gesellschaftlichen Sockel
 Chor insistiert auf religiöser Komponente
7: Trinkspruch an Gott
 Pathos der Übertragung
 Chor: zum ersten Mal kein Kommentar, sondern Fortsetzung
 Gott als „guter Geist“ über dem Sternenzelt
8: Gelübde 1 – Heroisch
 Verdeutlichung des ausschließenden Charakters des Bundes
 Sehr pathetischer Schwur
 „Männerstolz vor Königsthronen“: Betonung der Stärke, jedoch nicht revolutionär (Königsthrone stehen immerhin noch)
 Figur des Märtyrers; ästhetischer statt politischer Impuls
9: Gelübde 2 – Weltgeschichte
 Reihe von Proklamationen, die sogar die conditio humana aufheben will („Auch
die Toten sollen leben!“)
 Aufhebung der Grundlagen der christlichen Weltkonzeption: alle Sünden sollen
vergeben werden, die Hölle solle nicht mehr sein
 Sanftes Auslaufen in die Topik der Empfindsamkeit
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Johann Wolfgang Goethe: „Ein Gleiches“ (1780)
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Wie heißt das Gedicht?
o Titel gehört zum ‚Rand‘ des Gedichts und somit zum ästhetischen Produkt
o Prosaisch-lässige Titelgebung (anstatt „Wanderers Nachtlied II“)
o Oft formulierte der Herausgeber den Titel (somit Lektürelenkung)
Textgenese (besonders viele Textzeugen)
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1. Inschrift auf dem Kickelhahn (6. Sept. 1780): gemeinsam mit der Hütte 1870 abgebrannt; viele Zeugen sagen, dass der Text verändert wurde
o 2. Niederschrift von Herder: Kurznotation; ‚Gefilde‘ statt ‚Gipfel‘: wahrscheinlich von
schriftlicher Vorlage abgeschrieben (Gedicht zirkulierte also bereits in Weimar)
o 3. Augustine von Göchthausen (sammelte Gedichte): Verse auf 6 Zeilen kontrahiert
o 5. Unautorisierter Druck von Rückert (1800): ‚Gipfel‘ zu ‚Wipfel‘, ‚Wipfel‘ zu ‚Zweige‘,
‚kaum einen‘ zu ‚keinen‘; Einleitung: bringt Hütte mit Iphigenie in Verbindung (obwohl sie
nichts damit zu tun hatte)
o 6. Monthly Magazine von 1801: Weimar als Ziel für Kulturtouristen
o 7. Zeitung „Der Freimütige“ (Hrsg. von August von Kotzebue, 1803): wieder Hinweis auf
den Entstehungsort der Iphigenie; Variation ‚Vöglein‘ statt ‚Vögel‘
o 8. Vertonung von Carl Friedrich Zelter (1814)
 Ausgedehnte Korrespondenz mit Goethe: dieser bezeichnet es als „Ruhelied“
 Goethe gefällt die Vertonung
 Biedermeierliche Kunstrezeption: geselliger Freundeskreis mit Ausschluss der
äußeren Umstände
o 9. Heinrich von Kleist (2001 aufgetaucht): ‚unter‘ statt ‚über‘, ‚keinen Laut‘ statt ‚keinen
Hauch‘, Vögel ‚schlafen‘ statt zu ‚schweigen‘; Nachahmung oder Parodie?
Erstdruck 1815 (Werkausgabe Goethes)
o Komplexeste Fassung in der Semantik
o „spürest“, etc.: altertümlich, getragen
o Wechsel der Sinnesordnung: vom Tastsinn zum Gehör
o „Vögelein“ klingt im Mittel- & Norddeutschen gezierter als ‚Vögelchen‘ (Dt. Wörterbuch)
o „balde“: dem Reim geschuldet und pathetisch
o Vom Schweigen zum Ruhen: von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit
Stilisierung der Entstehung
o 6. September 1780: Teilnahme Goethes an einer Jagd
o Brief an Charlotte von Stein (derselbe Tag): Eindruck der natürlichen Ruhe, die auf das
Innere übergreift
o Jedoch: Jagdsituation (keine Einsamkeit, sondern höfische Gesellschaftlichkeit)
o Tagebucheintrag Karl Ludwig von Knebels: konnte bereits im Oktober die Verse auf Hütte lesen
o 1831 (ein Jahre vor seinem Tod) besucht er noch einmal den Kickelhahn (jedoch datiert
er das Gedicht falsch: 1783)
Gelegenheit, literarisch überhöht
o Gestalte Sprache
 Wenige Anhaltspunkte: nur 4 Sätze
 Strukturalismus: Überstrukturierung des literarischen Textes
 Komplexe Metrik: Odentradition (Repertorium der Versmaße)
 Silbenzahl erhöht sich von 8 auf 9
 Kreuzreim – umschlingender Reim (mit Daktylen: rhythmische Beschleunigung)
 1. Hälfte: heller ‚i‘-Laut, symmetrische Gestaltung in der Lautlichkeit
o Ästhetische Ökonomie: Wiederholungen und Variationen
 Semantische Paradigmata
 Klimax der Naturordnung
o Unbeseelte Natur – Pflanzen – Tiere – Menschen
o Entspricht der Vorstellung der Naturordnung im 18. Jhd.
 Semantisierung des Raumes
o Antiklimax: Gipfel – Wipfel – Wald – Bett/Grab
o Sprecherstimme und ‚du‘ sind nicht lokalisierbar
o Von Weite zu Enge
 Dynamik der Körper
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o Zunehmende Nichtigkeit
o Vom Unbeweglichen zum Beweglichen (Mensch: Unstetigkeit)
o Einsames ‚du‘ vs. 3 Pluraladjektive (2 verknüpft mit „alle“)
o Verben bringen Inaktivität zur Sprache(Zustände d.Verharrens)
o Ruhe – Erhabenheit – Erbauung
 ‚ruhen‘ erscheint als Nomen und als Verb
 Kontext 1815: „Wanderers Nachtlied“ (Sehnsucht nach Ruhe; „Ein Gleiches“ als
Antwort/Einlösung des Wunsches)
 Ruhe der Erhabenheit: kein affektiver Anhaltspunkt (im Aufsatz „Über den Granit“ von 1784 spricht er von „erhabener Ruhe der Natur“)
 Symbolische Bedeutungen der Ruhe
 Müdigkeit des erschöpften Wanderers
 Todesahnung/memento mori (Naturbetrachtung als Todesbetrachtung)
 Sich-Abfinden mit den Gegebenheiten
 Reife Bewältigung des Sturm & Drang (vgl. „Erlkönig“: Ruhe als Eigenschaft des Erwachsenen)
Das „Ruhelied“ als Inbild des Poetischen
o Aufschreibesystem (Kittler)
 Inschrift – Abschrift – Periodika – Werkausgabe
 Oralität und Vertonung
 Auch Vorlesen und Kommunizieren in Briefen
o Autorschaft und poetischer Akt
 Herders Volksliedprogrammatik – Empfindsamkeit – das Erhabene
 Nähe zur Natur (Inschrift auf dem Kickelhahn)
 Ästhetischer statt religiöser Zugang zur Erbauung
o Rezeption: an die 200 Vertonungen, viele Parodien (z.B. Brecht und Kraus)
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