PDF - Katholische Kirche beim hr

Dipl.-Theol. Sebastian Pilz, Fulda
hr1-Sonntagsgedanken am 26. Juni 2016
Die Toten sollen ihre Toten begraben?
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ - Wenn man diesen Satz Siri sagt, jener
Spracherkennung in einem iPhone, kommentiert sie ihn mit dem Wort „Sehr witzig“. Ich
finde das ganz und gar nicht witzig. Mich wühlt dieser Satz eher auf.
„Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Diesen Satz sagt nicht irgendjemand. Diesen Satz
sagt Jesus. Er wird im heutigen katholischen Sonntagsgottesdienst den Gläubigen im
Evangelium nach Lukas vorgetragen. Als ich diesen Text kürzlich las, stockte ich und
konnte nicht mehr weiterlesen.
Der Satz beschäftigt mich deshalb so sehr, weil ich vor einem Monat meine Mutter zu
Grabe getragen habe. Gut, sie war schon 80 Jahre alt. Aber dennoch ist der Tod meiner
Mutter, der Verlust eines geliebten Menschen, für meine Familie und mich sehr hart. Noch
vor kurzem, anlässlich der Erstkommunion unseres jüngsten Sohnes, hatte sie uns
besucht, hatte mit uns vergnügt am Tisch gesessen. Meine Kinder, wir alle, haben sie
erlebt. Und nur wenige Wochen später ist sie tot. Wir standen vor dem Sarg, waren traurig
und weinten. Ich schäme mich meiner Tränen nicht. Abschied zu nehmen, für immer – das
tut weh!.
Und genau deshalb wühlt mich dieser Satz so auf: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“
Einen Menschen in guter Form und aller Würde zu bestatten, das ist eines der wertvollsten
Dienste, die Menschen einander leisten können. Für mich steckt in einem würdevollen
Abschied so viel drin: von der Wertschätzung einer einzelnen Lebensgeschichte bis hin
zur Achtung der Würde des Menschen überhaupt. Die Begleitung beim so genannten
letzten Gang zeugt auch von Mitmenschlichkeit im wahrsten Sinn des Wortes: bei einem
Begräbnis kommen viele Menschen zusammen: nahe Verwandte, Nachbarn,
Arbeitskollegen. Sie wollen Trost, Anteilnahme und Halt spenden, nur durch ihre
Anwesenheit, ihren Händedruck, ihre Worte oder ihre Karte. Und was noch hinzukommt:
Eine Beerdigung ist nicht zuletzt auch der Ernstfall des Glaubens.
Und deshalb verstehe ich diesen Satz Jesu nicht: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“ Er
klingt für mich wie ein verachtendes Urteil, fast so, als ob Jesus sagt: Ihr seid die ewig
Gestrigen, die Ungläubigen, die Toten, wenn ihr Tote begrabt. Der zweite Teil des
biblischen Satzes verstärkt diesen, meinen Eindruck. „Lass die Toten ihre Toten begraben;
du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“1, heißt es da wörtlich im Lukasevangelium.
Das klingt so, als ob Tote begraben für gläubige Menschen nicht mehr in Frage kommt.
Denn die Verkündigung ist wichtiger.
Sie hören, wie hilflos ich bin. Diese Interpretation steht für mich im Widerspruch zur
sonstigen Botschaft Jesu, der sich den Menschen heilend und liebend zugewandt hat. Er
ist auf die Menschen zugegangen und hat sich eben nicht von ihnen zu Gunsten seiner
Verkündigung abgewandt. Seine Zuwendung zu den Menschen war ja gerade zentraler
Inhalt seiner Verkündigung. Und ist nicht das Begraben von Toten ein Werk der
1
Lukasevangelium 9,60.
Barmherzigkeit?2 „Lass die Toten ihre Toten begraben.“ Der Tod eines geliebten
Menschen bringt mich dazu, mich intensiver mit diesem Satz zu beschäftigen!
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„Lass die Toten ihre Toten begraben“ – Ich versuche eine theoretische Annäherung an
diesen Satz: Als erstes fällt auf, dass dieser Satz aus logischen Gründen falsch ist. Tote
sind qua Definition tot. Sie haben das Ende des Lebens erreicht und können somit keine
Handlungen mehr ausführen. Tote können nichts mehr tun. Sie können nicht mehr reden,
nicht essen und können auch keine Häuser mehr bauen. Und begraben, na klar, können
sie auch niemanden. Jesus sagt also etwas, was vernünftig betrachtet nicht geht. Das
muss Jesus klar gewesen sein. Aber er hat es dennoch gesagt. Somit muss es eine
andere Aussageabsicht geben, als die rein wortwörtliche.
Der Blick in den Kontext der Bibelstelle zeigt, dass es in diesem Text um die Nachfolge
geht, nicht um Begräbnisse. Drei Begegnungen werden aufgeführt. Sicher ist Jesus noch
viel öfter von Menschen angesprochen worden, die ihm nachfolgen wollten. Aber diese
drei Beispiele sind besonders: Beim ersten Mal wird Jesus von einem Mann
angesprochen, der als Jünger mit ihm ziehen will, egal wo er auch hingehe. Jesus
antwortet, dass er keinen Ort habe, wo er sich hinlegen und bleiben kann. 3 Er will dem
Mann klar machen: Wer mir nachfolgt, darf nicht ortsgebunden sein.
In der zweiten Begegnung ergreift Jesus die Initiative und spricht einen Mann an. Der will
erst noch seinen Vater begraben. Genau das ist der Zusammenhang, in dem Jesus diesen
Satz sagt, der mir so viel Kopfzerbrechen bereitet: „Lass die Toten ihre Toten begraben!
Und dann fügt er hinzu: „Du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“ 4 Dieser Satz ist
also in Blick auf die Nachfolge so radikal formuliert. Was bedeutet: Die Nachfolge Jesu hat
einen höheren Stellenwert als das Begräbnis eines geliebten Menschen. Jesus will dem
Mann sagen: Entscheide dich jetzt. Schiebe nicht noch andere Aufgaben vor diese
Entscheidung, so wichtig diese Aufgaben auch sein mögen. Jetzt ist die Zeit, zu
entscheiden, ob du mir nachfolgen willst.
Nachfolge ist dabei eher ein ungewöhnlicher Begriff. Er bedeutet, anerkennen und
glauben, dass Jesus die zentrale Bedeutung im Leben hat und dass man ihm im Leben
vertraut. So betrachtet komme ich zu dem Ergebnis: Jesus macht also in dieser Bibelstelle
das Begräbnis gar nicht schlecht, er sagt auch nichts Abwertendes darüber. Es geht ihm
aber um die richtige Reihenfolge: erst für sich klären, wie man zu Jesus steht, danach das
erledigen, was an wichtigen Aufgaben noch zu tun bleibt.
Mit dieser Erkenntnis lässt sich dann auch eine dritte Begegnung einordnen. Der
Interessent will, bevor er Jesus nachfolgt, sich erst noch von seiner Familie
verabschieden. Jesus antwortet darauf: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und
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3
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Im Matthäusevangelium 25,34-46, der sogenannten Endzeitrede Jesu, stehen sechs Werke der Barmherzigkeit. Das
siebte Werk, die Toten zu begraben, hat der Kirchenvater Lactans im 3. Jahrhundert n. Chr. hinzugefügt in
Anknüpfung an das Buch Tobit 1,17-20, wo Tobit einen Leichnam begrub, der einfach hinter die Stadtmauer
geworfen worden war.
Lukasevangelium 9,58: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber
hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“
Lukasevangelium 9,59-60.
nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“5, so der Bibeltext wörtlich. Jesus
bedient sich hier eines Bildes aus der Landwirtschaft, genauer dem des Pflügens mit
Tieren. Das ist eine hohe Kunst. Da kann sich der Bauer keine Ablenkung erlauben, wie
etwa zurück zu schauen. Jesus verlangt also mit diesem Bild von denen, die ihm
nachfolgen, vollste Aufmerksamkeit auf die vor ihnen liegende Aufgabe.
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Zusammengefasst bedeutet das bisher Gesagte: Jesus erklärt die die Nachfolge, also die
Entscheidung über den Glauben an seine Person, zur obersten Priorität. Der Wohnort, die
familiären Beziehungen oder sonstige Aufgaben spielen eine untergeordnete Rolle. Diese
Forderung Jesu überfordert mich. Ich kann das nicht so radikal leben. Ich lebe mit meiner
Familie in einen schönen Zuhause und möchte mich von meinen Lieben keinesfalls
entfernen. Dennoch bewundere ich Menschen, die sich so radikal auf ein Leben mit Jesus
einlassen. Die beispielsweise in ein Kloster eintreten und so örtlich und auch emotional
Abstand von ihren Familienbeziehungen nehmen.
Aber das kann ich nicht. Dennoch glaube ich, dass auch ich Jesus nachfolgen kann. Ich
verstehe Jesus so, dass es ihm um die innere Rangordnung im Herzen geht. Wenn er
dort, im innersten Kern meines Denkens und Redens, meines Fühlens und Handelns mit
dabei ist, dann hat das Auswirkungen auf alle anderen Bereiche meines Lebens. Das heißt
nicht, dass ich jetzt Zuhause ausziehe, nein. Dass heißt, dass ich dort anders lebe, nach
dem Vorbild Jesu nämlich. Dass ich mich immer wieder anspornen lasse, mich in seinen
Blick auf die Welt um mich herum einzulassen. Dass ich zum Beispiel versuche, zu den
Menschen freundlich zu sein. Und das ortsunabhängig: Also nicht nur bei der Arbeit,
sondern auch daheim, wenn ich fix und fertig am Abend im Familienalltag ankomme. Oder,
dass ich meine Aufmerksamkeit ganz der vorliegenden Aufgabe schenke und nicht mit
meinen Gedanken noch an das vorherige oder aber schon an das übernächste denke.
Diese Form der Nachfolge im Herzen hat dann auch Auswirkungen auf den Umgang mit
einem Begräbnis.Diese Haltung aus dem Glauben entdecke ich auch im Leben meiner
Mutter wieder. Wenige Tage vor der kleinen Operation, bei der sie dann unerwartet
verstarb, habe ich noch zufällig mit ihr über den Tod gesprochen. Sie sagte nur kurz und
knapp: „Ich bete vor der Narkose noch ein Vater Unser und dann lege ich alles in Gottes
Hand.“ Sie hatte oft in schwierigen Situationen diesen klaren und zugleich gläubigen Blick
nach vorn. Sie lebte jene Haltung, die ich in dem Bibeltext dieses Sonntags entdecke.
Unabhängig von Ort und Situation Jesus im Herzen tragen und sich dann ganz der
vorliegenden Aufgabe widmen. „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh und
verkünde das Reich Gottes.“ Ich habe lange gebraucht, bis ich diesen Satz einigermaßen
nachvollziehen, ihn verstehen kann. Die Beerdigung meiner Mutter half mir dabei: Ich
habe meine Mutter nicht als Toter begraben. Ich habe sie im Vertrauen auf Jesus Christus
begraben, weil auch sie auf ihn vertraut und ihm im Leben nachgefolgt ist. Sie hat, so mein
Eindruck nach dem bereits zitierten Gespräch mit ihr, im Tod auf die Hilfe und letztlich die
Begegnung mit Jesus gehofft und vertraut. Das ist eben das, was Christen als
Auferstehung bekennen. Ich hoffe und glaube, dass für sie der Tod diese Begegnung mit
Christus war, ihr Eintreten ins ewige Reich Gottes. Und ich stelle mir diese Begegnung als
5
Lukasevangelium 9,62.
etwas ganz Lebendiges vor. Somit stimmt für mich dieser Satz von Jesus heute aus der
Bibel: „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh und verkünde das Reich Gottes!“