Special | Krimi, Thriller, Fantasy Politische, packende, präzise Prosa: Noir, (Neo-)Polar, Krimi als Gesellschaftsroman Die wachsende Vielfalt politischer Kriminalromane verändert die Buchlandschaft. Der einstigen Schmuddelecke ist das Genre Krimi längst entwachsen, das wissen nicht nur Krimiexpert/innen. Doch jetzt spricht Kriminalliteratur extrem unterschiedliche Zielgruppen an, und wer gut beraten will, muss unterscheiden können. Die altvertrauten Kategorien Thriller, Whodunnit, Rätselkrimi schaffen es nicht mehr, die Möglichkeiten des Genres zu erfassen. Sie sagen etwas über Erzählmuster aus, aber gute Kriminalliteratur unterwirft sich solchen Mustern oft gar nicht. Sie spielt damit, verweigert Schematisches, zeigt sich als ernst gemeinte GegenwartsProsa, grenzüberschreitend, die Realität kommentierend. Die Genre-Zugehörigkeit liegt in der treibenden Handlung, den Themen Gewalt und Verbrechen, der Betonung von Konflikten und Widersprüchen unserer Zeit. Das ist keine harmlose Unterhaltung, es ist politische Kultur. Und doch ist es Krimi. Anspruchsvolle politische Krimis erleben eine Blütezeit. Was bedeutet das kulturell und genrehistorisch? Tatort Gesellschaft Die Verlegerin der ariadne-Krimis im Argument Verlag, Else Laudan, geht der Frage nach, wie sich das Genre des politisch-kritischen Krimis in den letzten Jahren zum modernen Gesellschaftsroman entwickelt hat – und was das für Verlage und Handel bedeutet 88 BuchMarkt Juni 2016 Wir erleben seit einigen Jahren eine Konjunktur des sozialkritischen Kriminalromans, des Roman noir, des politischen Gesellschaftsromans mit Spannungsaspekten. Das beeinflusst die Zusammensetzung der Krimi-Zielgruppe stark. Leserschichten, die früher Krimis verschmähten, entwickeln immer stärkeres Interesse am Genre. Gerade in gebildeten Kreisen setzt sich die Sichtweise durch, dass Noirs und Politkrimis die Gesellschaftsromane unserer Zeit sind: Sie thematisieren Konflikte und Missstände, loten die Dimension des Verbrechens auf höherer Ebene aus und bilden soziale Realität ab. Diese Wahrhaftigkeit und Brisanz des Genres zieht starke Schriftsteller/innen an, die wiederum neue Leser/innen anziehen. Historisch steht diese „gehobene“ politische Kriminalliteratur in der Tradition der amerikanischen Hardboiled-Autoren Krimi, Thriller, Fantasy | Special (Hammett, Chandler, Macdonald & Co) der 1920er, 30er und 40er Jahre: „Raymond Chandlers Forderung, Morde von realen Verbrechern unter wirklichen Verhältnissen zu beschreiben, war die Begleitmusik zu einer Innovation des Genres“ (Tobias Gohlis). Mit Kriminalliteraten wie Himes, Thomas, Ellroy, Willeford, Thompson, Mosley, Paretsky und vielen anderen lässt sich die Reihe zeitlos guter US-Hardboiled-Autoren bis heute weiterverfolgen. Was sie von der staatstragendgemütlichen Abteilung des Krimigenres unterscheidet, drückte mal ein Feuilletonist so aus: „Philip Marlowe, anstelle von Hercule Poirot in Christies Orientexpress versetzt, würde keinen Mörder finden, sondern eine verbrecherische, halb Mitteleuropa umfassende Fahrplanstruktur“ (J. Jessen in der Zeit). Hardboiled und Noir sind Absagen an das harmlosere Krimimuster der wiederherstellbaren Ordnung: Die Verbrechen, die untersucht werden, sind keine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, sie sind Bestandteil oder Folge dieser Ordnung. Kurz gesagt: Es geht nicht um einen Mord, sondern um die Wahrheit. Ob als zeitgenössische literarische Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, als historische Spurensuche oder präzises Sittenbild, das vielgestaltige Genre kann dies alles leisten. Die erfolgreichsten Politkrimi-Highlights in Else Laudans Ariadne-Reihe: Merle Kröger: Havarie Dominique Manotti: Zügellos Liza Cody: Lady Bag Monika Geier: Die Hex ist tot Malla Nunn: Tal des Schweigens Anne Goldmann: Lichtschacht Literarische Spannung bei Folio ISBN 978-3-85256-684-9 Gebunden | € [D/A] 22,90 Novitäten im Frühjahr 2016: Dominique Manotti: Schwarzes Gold Christine Lehmann: Allesfresser Gute Kriminalliteratur ist der soziale Realismus des 21. Jahrhunderts Es ist keine Modeerscheinung und kein Zufall, dass explizit politische und literarisch kühne Genre-Titel immer mehr gelesen werden. Dafür gibt es plausible Gründe. Zum einen das verbesserte Prestige des Genres, auch eine Folge gezielter verlegerischer Anstrengungen: Die Krimi-Verlagslandschaft hat in den letzten Dekaden viel qualitatives Engagement erlebt. Früh hat sich Diogenes verdient gemacht, wo schon ab den 1990ern große Kriminalliteratur in erstmals anständiger, werktreuer Übersetzung herauskam (Rowohlt zog dann nach). Thomas Wörtche zeigte im Unionsverlag mit der Reihe UT Metro die Internationalität des Genres, mit Anspruch und Niveau. In den letzten zehn Jahren haben vor allem unabhängige Verlage das Feld gepflügt, auch wenn die Konzerne gern nachziehen: Novitäten im Herbst 2016: Malla Nunn: Zeit der Finsternis Liza Cody: Miss Terry Dominique Manotti: Das schwarze Korps Unions macht weiter feine internationale, Ariadne feiert Erfolge mit hochpolitischen Schriftstellerinnen, Independent-Verlage wie Alexander, Kunstmann, Pendragon, Liebeskind, Pulp Master, Polar und viele weitere kümmern sich mit Hingabe und Qualitätsanspruch ums Genre, bringen große Klassiker neu heraus und pflegen die Innovation. Dass Suhrkamp eine Krimireihe startete, ist schon ein Indiz; dass dort kürzlich Thomas Wörtche als Herausgeber eingesetzt wurde, erst recht. BuchMarkt Juni 2016 89 ISBN 978-3-85256-685-6 Gebunden | € [D/A] 14,90 WIEN · BOZEN WWW.FOLIOVERLAG.COM Special | Krimi, Thriller, Fantasy Verlage im Profil Die Indie-Verlage und ihr Profil zu kennen, ist für den beratenden Handel enorm hilfreich. Manche veröffentlichen ihre Spannungsliteratur schlicht unter dem Label „Roman“. Hier einige wichtige unabhängige Verlage, die sich um das Genre als starke politische Literatur kümmern, ob Noir, (Neo-)Polar oder Krimi als Gesellschaftsroman: Alexander Verlag In der seit 2002 wachsenden Krimireihe des Verlags erscheinen Bücher der verstorbenen Autoren Charles Willeford („Niemand schreibt einen besseren Kriminalroman als Charles Willeford!“, Elmore Leonard) und Ross Thomas („Ein Roman von Ross Thomas ist nicht einfach ein Krimi oder ein Polit-Thriller, sondern (...) eine diabolische Analyse unserer politischen Verhältnisse“, Jörg Fauser). Argument Verlag mit Ariadne Ariadne ist „das Literaturprogramm mit den kritischen Impulsen: Krimis, Thriller, politische und packende Schmöker, Bücher für anspruchsvolle Kennerinnen und wilde Weltverbesserer.“ (Siehe auch Kasten zu Else Laudan auf Seite 89) Assoziation A Verlegt im Belletristikprogramm auch Krimis und Spannungsliteratur. Den Titeln ist gemein, dass sie, um mit Manotti zu sprechen, so etwas wie eine kritische Röntgenaufnahme der bestehenden gesellschaftlichen (Un-) Ordnung vornehmen, die herrschende Geschichte gegen den Strich bürsten, aber auch Momente der linken Bewegungen integrieren, ohne in schlichtes Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Wichtig ist dabei ein hohes literarisches Niveau und das Experimentieren mit literarischen Gattungen. be.bra Verlag Keine Hauptstadt-Romantik, sondern authentische Berlin-Krimis mit KiezAnbindung. Mal hart, mal humorvoll – aber immer dicht dran an der sozialen Realität: von Gentrifizierung bis Hartz IV, von Multikulti bis High Society. 90 „Hardboiled und Noir sind Absagen an das harmlosere Krimimuster der wiederherstellbaren Ordnung – sie sind die Gesellschaftsromane unserer Zeit“ Dazu passend hat sich die Kritik neu aufgestellt. Kriminal- und Noir-Literatur leuchten heute im Feuilleton, viele Literaturkritiker schaffen in ihren Wirkungskreisen Raum für anspruchsvolle Krimikritik. Der Trend wurde verstärkt durch die Vernetzung namhafter Rezensent/innen in der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste, die das Interesse an hochkarätigen Krimis befördert und auch dem Buchhandel ein gutes Instrument an die Hand gibt. Die meisten guten Literaturkritiker schätzen den Realismus politischer Spannungsromane (nicht aber Psycho- oder Metzelthriller und Regiokrimis). Mehr und mehr große Medien pflegen eine ambitionierte Krimikritik, im Feuilleton und online. Bezeichnenderweise finden sich in Krimirezensionen immer häufiger – und zwar im Sinne eines Gütesiegels – Begriffe wie „Sozialstudie“ und „gesellschaftliche Wahrheiten“. Naturgemäß lockt das „gehobene“ Genre seit jeher auch glänzende StilistInnen an, starke LiteratInnen, die das Geheimnis im Gewöhnlichen aufspüren, präzise, packende Milieustudien schreiben, konzentrierte soziale Szenarien mit verblüffend lebendigen Figuren und langem Nachhall. Da gibt es neu zu entdeckende Klassiker wie Ross Thomas, Charyn, Ambler, Greene, Manchette, Dexter, Burke u.a. sowie packende GegenwartsliteratInnen wie Woodrell, Ortuño, Nixon, Disher, Ani, Kröger, Manotti, Gran, Hooper, Bruen, Kerrigan, Ming, Stroby, Victor und viele, viele mehr. BuchMarkt Juni 2016 Und was tut sich beim Publikum? Soziologisch gesehen rücken seit der Wirtschaftskrise die LeserInnen-Erwartungen immer stärker ins Politische. Dasselbe geschah in den 1930ern, und es geschieht auch jetzt. Man merkt es an Rezensionen und Bewertungen seriöser Kritiker, in Blogs und Social Media, bei Lesungen und Veranstaltungen. Die Kultur ums Genre ist in Bewegung. Überall lesen kluge Köpfe Genreliteratur und reden darüber. Menschen zitieren aus Krimis. Das literarische Leben wimmelt von politischen Spannungsromanen. Die Krise hat mit zunehmender Spürbarkeit die Menschen fühlen lassen, dass etwas dran ist an der Aussage, das Verbrechen gehe von der Macht bzw. vom Geld aus. Die Folge: Das Interesse breiter Literaturleserschaften richtet sich aufs anspruchsvolle Genre. Auf der anderen Seite gibt es natürlich nach wie vor eine große Masse von herkömmlichen Krimifans, die sich hungrig durch gemütliche Rätselkrimis, Regionalkrimis oder Nervenkitzelthriller schmökern. Ihnen bedeutet der neue Anspruch wenig: Sie lieben gerade die leichte Kost und haben keine Berührungsängste gegenüber „Trash“ (Schund), das Politische ist ihnen egal. Diese LeserInnen finden ihre Lektüre nicht nur in den Taschenbuchprogrammen großer Verlage, sondern – das müssen BuchhändlerInnen wissen – auch Special | Krimi, Thriller, Fantasy Distel Verlag Der DistelLiteraturVerlag bringt seit 1999 mit seiner Krimi-Reihe „Série noire“ Romane aus dem französischen und spanischen Sprachraum der deutschen Leserschaft nahe. Mit Autoren wie Jean-Patrick Manchette, Léo Malet, Jean-Bernard Pouy und Tito Topin steht der DistelLiteraturverlag für harte, politische Kriminalromane. Neueste Veröffentlichung: das Fluchtdrama Exodus aus Libyen von Tito Topin („erschreckend aktueller Plot über die Sinnlosigkeit von Kriegen“, Jörg Kijanski). Edition Nautilus Nautilus-Krimis sollen sich abheben vom Krimi-Output der großen Verlage, mit denen man vom Ladenpreis her ja sowieso nicht konkurrieren kann – aber nicht nur aus diesem Grund, auch vom eigenen Lesevergnügen her publiziert Nautilus sowieso viel lieber die literarischen Krimis von Matthias Wittekindt zum Beispiel, wo das Verbrechen im ganz Alltäglichen liegt, und wirklich radikal politische Krimis, etwa von Robert Brack. Schön ist dann immer, wenn einem ein Erfolg mit einem schon eher klassischen Krimi gelingt, wie mit Alan Carters vielgelobtem Prime Cut – ein zweiter Band mit Cato Kwong folgt im August, Des einen Freud betitelt. Folio Verlag Im Krimi-Programm des Folio Verlages erscheinen politisch brisante, hochwertige Krimis und Thriller. Einerseits von italienischen Autoren wie Giancarlo De Cataldo, Gioacchino Criaco, Gianrico Carofiglio oder Carlo Lucarelli. Diese Krimis sind von stilistischen Könnern geschrieben, die die italienische Gesellschaft genauestens analysieren und als Grundmotiv mitführen. Den größten Erfolg hatte der Politthriller SUBURRA von De Cataldo/Bonini. Außerdem erscheinen die Krimis der meistgelesenen österreichischen Autorin Eva Rossmann, die gesellschaftliches Engagement und politische Themen mit spannender Unterhaltung verbindet, kontinuierlich im Folio Verlag (im Herbst der 18.!). Aktualität, Qualität und Zivilcourage zeichnen das Programm aus. 92 „Die altvertrauten Kategorien wie Thriller, Whodunnit, Rätselkrimi schaffen es nicht mehr, die Möglichkeiten des Genres zu erfassen“ ganz gezielt bei bestimmten unabhängigen Verlagen, die sich schwerpunktmäßig um deutschsprachige AutorInnen kümmern, zum Beispiel Grafit, Gmeiner, Emons und KBV. Der Bedarf an leichter Krimikost besteht also weiterhin. Es gibt noch ein Publikum für Nervenkitzelthriller und für den „Cozy“, den „gemütlichen“ Krimi, der mehr beruhigt als beunruhigt. Das darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass eine andere Kategorie von Kriminalliteratur auf dem Vormarsch ist und dass diese ein neues, gesondert anzusprechendes Publikum mobilisiert. Die eingeführten Unterscheidungen (Thriller, Regio- oder Cozy-Krimi) erfassen diese Spaltung der Kriminalliteratur nicht. Sie wenden sich nicht an die wachsende Zielgruppe des nicht-schematischen, literarischen Krimis. Aber genau das wäre jetzt sinnvoll. Braucht der Buchhandel eine neue Kategorie? Wie kann sie heißen? Als Gesellschaftsroman unserer Zeit kann der Krimi durchaus einen neuen Regalplatz beanspruchen. Nur wie bekommt man das griffig gefasst? Die Bezeichnung „gehoben“ mag verständlich sein, doch sie ist vage und elitär. Es geht ja nicht darum, LeserInnen abzuwerten, sondern darum, BuchMarkt Juni 2016 zu verstehen, was jemand im Genre sucht! Regionalkrimis, Rätselkrimis, schlicht gestrickte Thriller mit Gut und Böse, das alles lesen bestimmte Kunden gern. Doch das sind andere als die Kunden, die das Genre für den dunklen Realismus lieben. Ebenso wie es andere AutorInnen sind, die so etwas schreiben. Eine klare Kategorientrennung kann hier dem stationären Handel unterscheiden helfen und suchenden Kunden Frust ersparen. Der kriminalliterarische soziale Realismus beruht nicht nur auf Spannung und Erzählkunst, sondern auf präziser Geschichtskenntnis und umfassender Recherche. „Die Wirklichkeit ist ein Krimi“ – wie oft hat man diesen Satz schon gelesen? Ein anspruchsvoller Krimi macht soziale Realität greifbar, sinnlicher als Dokus und Reportagen. Der Kritiker Thomas Wörtche schrieb: „Wie der Kriminalroman mit Wirklichkeiten umgeht, ist ein Qualitätskriterium. So wie seine künstlerische Inszenierung ein Qualitätskriterium ist.“ Illusionslose Wahrheiten in funkelnder Prosa: Das ist die zeitgemäße kritische Kriminalliteratur. Nennen wir es also Realismus-Krimis? Oder Kritische Krimis? Diese neu belebte politische Genre-Tradition ist höchst international. Der französischsprachige Noir hat seine eigenen Ikonen (Manchette, Izzo, Daeninckx, Malet u. a.), und derzeit glänzende politische AutorInnen wie Manotti, Guez, Roux, Topin u.a. Ähnliches gilt für England, Irland, Special | Krimi, Thriller, Fantasy Liebeskind Verlag Kriminalromane von Liebeskind sollen immer ein bisschen mehr sein als plot-orientierte Unterhaltungsliteratur. Sie setzen sich mit den dunklen Seiten unserer Gesellschaft auseinander, wie beispielsweise Donald Ray Pollocks Roman Die himmlische Tafel, der den religiösen Fundamentalismus in den USA ins Visier nimmt. Liebeskind-Krimis gehen unter die Haut, weil sie zeigen, welche Abgründe sich hinter den Fassaden unserer Gesellschaft auftun. Litradukt Voodoo, Zuckerrohrschnaps und Beretta: Litradukt bietet harten Stoff aus Port-au-Prince von Haitis populärstem Gegenwartsautor Gary Victor. Sozialkritik, Magie und schwarzer Humor verbinden sich zu Victors besonderer Handschrift, die ihn zu einem der schärfsten Beobachter der haitianischen Gesellschaft machen. Der Ein-Personen-Verlag ist spezialisiert auf karibische Literatur, der Schwerpunkt liegt bei Haiti. Im Herbst wird mit Suff und Sühne ein weiterer Krimi von Gary Victor erscheinen. Pendragon Verlag Der Schwerpunkt des Pendragon Verlags liegt auf deutschen und amerikanischen Krimis. Bei den Amerikanern sind es vor allem die absoluten Klassiker wie James Lee Burke oder Robert B. Parker, aber auch Neuentdeckungen wie Wallace Stroby. Die deutschsprachigen Krimis beschäftigen sich häufig mit der jüngeren deutschen Vergangenheit, wie z. B. Andreas Kollenders Kolbe. Bereits mehrfach wurden die Autoren mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet. Polar Verlag Mit dem Polar Verlag hat Wolfgang Franßen 2013 ein neues Zuhause für den Noir geschaffen. Seitdem hat sich Polar einen Ruf erarbeitet als kleiner Verlag, der gute Krimis herausbringt. Der „Seiteneinsteiger“ Franßen ist außerdem aktiv als Herausgeber der Polar-Gazette und mit seiner Internetplattform Polar Noir (www.polar-noir.de), auf der er verlagsübergreifend Krimis aus dem Noir vorstellt. 94 Schottland und für die skandinavischen Länder. Wo immer gute Verlage sich engagieren, wächst der Horizont. Politkrimis aus Südafrika, aus Kuba, Israel, Südamerika, aus dem arktischen, asiatischen und arabischen Raum machen von sich reden. Denn SchriftstellerInnen aus allen Teilen der Welt nutzen das Genre, um ihre Gesellschaft zu reflektieren oder zu sezieren, und finden dafür ein internationales Publikum. Ein guter Krimi kann im Kopf ein Fenster zur Welt aufstoßen: Mit magnetischem Spannungsbogen und starken Figuren führt er uns über den Tellerrand unseres Alltags und erlaubt Einblicke in fremde Wirklichkeit. Die auf Spannung und Mitfiebern ausgerichtete, stark personale Erzählperspektive verstärkt das Erlebnishafte, Lebensechte. Es ist wie eine Reise im Kopf, aber nicht als lustig-bunte Touristenunterhaltung, sondern wirklichkeitsnah und widersprüchlich. Das Genre ist jetzt enorm welthaltig. Wäre demnach Welt-Krimis ein gutes Etikett? Genauer trifft es allerdings die mutigere Bezeichnung Politische Kriminalliteratur, denn die anspruchsvollen Krimis sind klar gesellschaftskritisch. Statt schematisch zu erzählen, bauen sie auf die Neugier und Intelligenz ihrer LeserInnen, zeigen das Verbrechen im Normalen, in Geschichte und Gegenwart, prekäre Realität in packender, kunstvoller, aber zugänglicher Form. Diese Art Krimi ist ein erstklassiges literarisches Medium politischer Bildung und kann mühelos zur schulischen Oberstufenlektüre avancieren. Sie ist Spiegel unserer Gesellschaft oder „Fenster zur Welt“. Über die Machenschaften in Wirtschaft und Politik, über Gier und ihre Auswirkungen auf Menschenleben erfährt man aus solchen Krimis oft mehr Wahres, mehr Hintergrund und mehr Konkretes als aus den Nachrichten. Es ist eine beeindruckende Blüte, die dem Genre besonders in Zeiten der Krise wächst. Tobias Gohlis schrieb 2011: „Er- Meinung „Fenster ins Chaos“ Krimiautor, Jurist und Kulturjournalist Christopher G. Moore über den internationalen Politbarometer-Charakter des Genres: „In den letzten zwei Jahrzehnten ist das, was man Kriminalliteratur nennt, stark gewachsen, in vielen verschiedenen Ländern und Kulturen. Das Konzept der Kriminalliteratur ist eine kulturelle Lupe, entliehen von englischen und amerikanischen Autoren, darunter Hammett und Chandler. Unter der Oberfläche des Genres hat dieser kulturelle Blickwinkel Veränderungen gebracht, in der Struktur und im Schema. Kriminalliteratur ist zu einem Fenster geworden, durch das man in das Chaos blickt, das brisante Veränderungen hinterlassen, ein Chaos, das eine Bedrohung darstellt für Institutionen, althergebrachte Vorrechte und Autoritätsstrukturen. Eine Mordermittlung in einer unruhigen, BuchMarkt Juni 2016 im Umbruch befindlichen Gesellschaft bringt die Spannungen in den Fokus, die einander bekämpfenden Interessen und repressiven Mächte, die dem Fall eine politische Dimension verleihen. Um Verhaltensweisen, Reaktionen und Gefühle zu verstehen, braucht es eine kulturelle Landkarte. Die besten Kriminalromane funktionieren wie ein GPS, das uns durch die gewundenen Schleichwege, lokalen Gassen und kaum erschlossenen Hügellandschaften von Gesellschaft führt. (...) Kriminalliteratur folgt einer Ermittlung oder zeigt Verbrechen und Gewalt, wobei ringsum die Gebäude der Macht bröckeln, die hier bloßgestellt, bezichtigt und in das sonst gemeinhin Verbrechern vorbehaltene Scheinwerferlicht gezerrt wird. Das ist es, was internationale Kriminalliteratur den Lesenden zuträgt – Gesellschaften im Umbruch.“ Christopher G. Moore: Dispatches from the frontline of Crime Fiction’s Extremistan. Das englische Original ist online auf CulturMag.de erschienen Krimi, Thriller, Fantasy | Special schütternde, bewegende Kriminalliteratur entsteht durch einen neuen Blick auf die verborgene, meist verdrängte und geleugnete Welt des Verbrechens“, und: „Gute Kriminalliteratur erfüllte niemals nur ein Schema, sie wuchs mit ihrem Thema, dem Verbrechen.“ Ein Regal fürs politische Genre – für ambitionierte Buchhandlungen und kritisch Lesende Kürzlich notierte die schottische Bestsellerautorin Val McDermid im Observer: „Der Kriminalroman ist zurzeit links, er kritisiert die bestehenden Verhältnisse, manchmal ganz offen, manchmal subtil. Häufig verleiht er Figuren eine Stimme, die in der Welt nicht behaglich eingerichtet, nicht gut aufgehoben sind. Wenn Menschen alles Vertrauen in die Politiker verlieren, suchen sie es anderswo. Vielleicht vertrauen sie uns SchriftstellerInnen, weil sie darauf bauen, dass wir – eingewoben in erfundene Geschichten – die Wahrheit sagen, und womöglich werden wir darum auf eine Art gehört und gelesen, wie wir es kaum je zuvor erlebt haben.“ Ob urban oder Country, Europa oder Übersee: Wir sehen seit Jahren, wie die Leserschaft politischer Krimis ständig wächst. Ambitionierte Buchhandlungen tun gut daran, diesem Bedürfnis einen prominenten Regalplatz zu verschaffen. Weil so ein Regal kritisch Lesende erfreut und das Vertrauen in den Standort Buchhandel wirkungsvoll erneuert – und zwar speziell bei dem Publikum, das diesen Standort kulturell erhalten will, statt nur noch per Mausklick einzukaufen! Diesen Indie-affinen Genre-LeserInnen etwas zu bieten lohnt sich. Sie werden nämlich immer mehr. Der politische Kriminalroman erreicht sowohl ein problembewusstes jüngeres Publikum als auch Weltliteratur-Leseratten aller Generationen. Er fasziniert Menschen mit Anspruch und weitem Horizont. Das sind die dankbarsten Zielgruppen der Zukunft. Und die Independent-Verlage sorgen mit engagierten AutorInnen und ÜbersetzerInnen für den innovativen, qualitätsbewussten Nachschub. Else Laudan Dort findet man Noir-Krimis aus aller Welt, nach Ländern und Regionen sortiert. Pulp Master Seit 1994 versorgt Frank Nowatzki als Chef von Pulp Master seine Leserschaft mit Ausnahme-Kriminalliteratur wider den Zeitgeist und bietet den Marginalisierten unter den Noir-Autoren eine Heimat. “Pulp geht dahin, wo man die Menschen noch ein wenig schockieren kann”, sagt Frank Nowatzki über das Genre, dem er sich verschrieben hat. In zwei Jahrzehnten ist eine Reihe mit unverwechselbarer Handschrift entstanden, in der sich Systemkritik, Härte und Witz verbinden. Im Verlagsprogramm finden sich Großmeister des Genres wie Charles Willeford, Garry Disher, Jim Nisbet, Dave Zeltserman oder Rick DeMarinis, wiederentdeckte Autoren wie Derek Raymond, Paul Cain und Gerald Kersh, neuentdeckte wie Buddy Giovinazzo und Paul Freeman oder auch literarische Outlaws wie Thor Kunkel. Transit Verlag Der Verlag mag Texte, die das Etikett KRIMI nicht auf der Stirn tragen: Souverän erzählte Literatur, die neben einem spannenden Plot Einblicke bietet in unbekannte Terrains – seien es andere Länder oder Kontinente, seien es blinde Flecken in unserer Geschichte. Und Figuren, die in schnellen, ungeglätteten Dialogen ihre besondere Kontur erhalten. Unionsverlag Kriminalromane aus aller Herren Länder, anderen Kulturen, fremden Mentalitäten und exotischen Schauplätzen prägen die metro-Reihe aus dem Unionsverlag. Ob Bangkok, Istanbul, Buenos Aires, Marseille oder Havanna, ermittelt wird auf hohem Niveau. Aber auch Neuausgaben von Krimi-Klassikern, die dringend wieder unter’s Volk sollten, finden hier ihren Platz. Verlag Antje Kunstmann Für Kunstmann-Krimis, ob sie nun in Glasgow oder in Obergiesing spielen, sind spannende Plots genauso Grundvoraussetzung wie eine elegante und präzise Sprache. BuchMarkt Juni 2016 95
© Copyright 2024 ExpyDoc