Jäger des verlorenen Flusses

FLORIAN LANG / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
Arbeiterinnen beim Graben des neuen Saraswati-Flussbetts
Jäger des verlorenen Flusses
Archäologie Vor 4000 Jahren versickerte ein reißender Strom in der indischen Wüste: der Saraswati,
Quell aller Heiligkeit. Jetzt soll er wieder fließen – aus politischen Gründen.
n einem Land, das eine der schlimmsten Dürren seiner Geschichte erlebt,
kauert ein Mann in der Hocke und
gräbt einen Fluss. Seine Hacke fährt in den
Boden und wieder hinaus. Er schnauft.
Frauen und Männer stapfen an ihm vorüber. Auf dem Kopf balancieren sie Blechschalen, darin Brocken aus Erde und dicke
Grasbüschel.
Etwas abseits steht ein Mann mit
blauem Turban, die Arme verschränkt, beäugt er das Treiben. Sein Name ist Gagandeep Singh, er ist Beamter im Auftrag
des indischen Staates und soll, so sagt er,
hier den prächtigsten Strom wieder zum
Leben zu erwecken, den die Welt je gesehen habe.
Wo sich vor einem Jahr noch Weizen
und Zuckerrohr wiegten, verläuft nun eine
fast zwei Meter tiefe und dreieinhalb Me-
I
120
DER SPIEGEL 22 / 2016
ter breite Furche, ausgehoben von Hunderten Arbeitern, ohne Maschinen, nur
mit Schaufeln und Eimern.
Noch führt das Bett kein Wasser, aber
das soll sich ändern. Dazu braucht es noch
einen großen Staudamm und ein 1,6 Quadratkilometer großes Sammelbecken. Kanäle sollen dereinst das Wasser ins Flussbett spülen und 45 Brücken über das Gewässer führen.
Es ist ein aberwitziger Plan, sicherlich,
aber einer, der mit beeindruckender Geschwindigkeit vollzogen wird.
Mehr als 20 Kilometer des einst über
300 Kilometer langen Bettes haben die Arbeiter bislang ausgehoben. Geht Singh darin spazieren, sagt er, sei er vier Stunden
lang unterwegs.
Der Beamte beugt sich über eine Karte,
die den Norden Indiens zeigt. Mit dem Fin-
ger fährt er durchs Land: durch die Bundesstaaten Punjab, Haryana, Rajasthan
und Gujarat, ein Stückchen durch Pakistan
hindurch und hinab zur Küste.
Von den Hängen des Himalaja bis ins
Arabische Meer soll hier einst ein „geschwinder“ Strom geflossen sein, so mächtig, dass sein Wasser mit „stürmischem Gebrüll“ hervorstürzte und „die Rücken der
Berge“ zerbarst. So beschreiben die Veden,
die heiligen Schriften des Hinduismus, den
Saraswati.
Doch vor 4000 Jahren versiegte „die
Mutter aller Flüsse“. Ein Pilgerer, der zu
jener Zeit Richtung Norden zog, fand nur
noch Pfützen vor. Der Strom, „der das Universum überspannte“, floss nicht mehr,
und das Land, das einst blühte, verödete.
Bis heute verehren Hindus den Fluss,
von dem sie glauben, dass er unterirdisch
Wissenschaft
Ind
us
noch immer fließt. Mehr als hundert Mil- tikmüll. Und die Regierung? Investiert Mil- Wie schwierig, das lässt sich 200 Kilometer
lionen Gläubige pilgern alle zwölf Jahre lionen Rupien in einen unsichtbaren Fluss. östlich des angeblichen Flusses beobachBeim Saraswati geht es nicht darum, die ten. Seit sechs Jahren legt der Archäologe
nach Allahabad, wo sich der Saraswati angeblich mit dem Ganges und dem Yamuna Umwelt zu pflegen, sondern den National- Vasant Shinde hier die Überreste der anvereinigt. Für die Hindus ist der Fluss von stolz. „Wir werden der Welt beweisen, dass tiken Stadt Rakhigari frei. In den Anfängrößter Bedeutung. Ihn wiederzubeleben wir die Wiege der Menschheit sind“, pro- gen dieser Siedlung begnügten sich die
ist, als bauten Christen den Stall zu Betle- phezeit Singh. Zwar gehört er zur Glau- dortigen Harappa damit, Tonkrüge zu töpbensgemeinschaft der Sikh, aber auch er fern. Später schmiedeten sie kunstvolle
hem nach.
Doch wie bei allen religiösen Mythen träumt vom Beweis einer antiken hinduis- Goldringe und Ketten.
Zwei Kilometer außerhalb der Stadt
sind Fakt und Fantasie kaum zu trennen; tischen Zivilisation.
In der Bronzezeit gedieh im Norden des stießen Shinde und sein Team auf einen
seit dem 19. Jahrhundert bemühen sich Archäologen um Aufklärung. Sie wissen, dass Subkontinents ein Volk, die Harappa, das Friedhof. Die Harappa bestatteten ihre Tovor Tausenden Jahren das feuchte Klima keinen Prunk kannte. Eine Gesellschaft ten mit Krügen voller Samen auf dem
Nordindiens trockener Hitze wich. Ein Erd- von Gleichen, die mit Baumwolle, Perlen, Kopf, mit Armreifen aus Perlmutt und
beben, vermuten manche, hätte damals Zinn und Gold handelte. Die Ur-Inder bau- Kupfer – mögliche Beigaben für ein Leben
die Zuläufe des gigantischen Flusses ver- ten Wohnungen, die an heutige Reihen- nach dem Tod.
Rund 30 Skelette exhumierten die Arhaussiedlungen erinnern, fast jede ausgeschoben, woraufhin Dürren folgten.
Auch das Becken des Ghaggar-Hakra, so stattet mit Abwasserkanälen und Sitztoi- chäologen. Anhand der Schädel haben sie
lautet eine weitere Hypothese über den al- lette. Es war eine Hochkultur, dem alten das Erscheinungsbild der einstigen Herrscher rekonstruiert: „Hochgewachsene
ten Lauf des heiligen Stroms, beherberge Ägypten und Mesopotamien ebenbürtig.
Menschen mit scharfen Gesichtsein Überbleibsel des heiligen Flusses:
zügen“, sagt Shinde.
ein kleines Rinnsal, das nur während
Doch in den Knochen steckt die
des Monsuns anschwillt und alsbald
Antwort auf viel größere Fragen.
wieder in der Thar-Wüste versickert.
H
AFGHANISTAN
CHINA
I
Woher kamen die Harappa, und
An seinen sandigen Ufern stießen
M
A
wohin gingen sie?
die Wissenschaftler auf mehr als tauL
mögliche
A
Die Antwort hat größtes Aufsend archäologische Fundstätten, die
Quelle
J
A
regerpotenzial, und so lässt Shinde
zeigen, dass das Flussbett einst gePAKISTAN
sicherheitshalber die genetische
nügend Wasser führte.
Ausgrabungsstelle
Analyse an drei Universitäten
Neue Nahrung bekam der Mythos
NEPAL
Thar-Wüste
Neuzugleich durchführen: in Südkodes Saraswati, als die indische WeltDelhi
rea, im amerikanischen Harvard
raumorganisation Isro vor zwölf JahYa m
Ga
ng
und in Dänemark. Sollte er
ren Satellitenfotos veröffentlichte,
vermuteter ehemaliger
un
e
s
a
Verlauf des Saraswati
herausfinden, dass die Harappa
die Hinweise auf seinen ehemaligen
Allahabad
weniger mit den heutigen Indern
Verlauf lieferten. Immer wieder gab
gemein haben als politisch gees seither Versuche, das heilige WasINDIEN
wünscht, will er nicht in Schwieser wieder zum Fließen zu bringen;
rigkeiten geraten. Die Analyse soll
nie jedoch mit solch gewaltiger polideshalb so unabhängig wie mögtischer Anstrengung: Mehr als sechs
lich sein.
Millionen Euro stehen für das ProArabisches
Meer
Auch im Fall des heiligen Flusses
jekt bereit, und deswegen steht GaKartenausschnitt
wird nun der Indische Archäologandeep Singh nun da und treibt die
300 km
gische Dienst prüfen, ob es sich bei
Arbeiter an.
den gefundenen Wasserquellen um
Tatsächlich stieß zwei Wochen
den Saraswati handelt. Wie unabnach dem ersten Spatenstich eine ArEtwa um 1500 vor Christus ging die In- hängig das Ergebnis ausfallen wird, ist jebeiterin ihre Schaufel tief in den Sand, der
sich auf einmal dunkel färbte. Wasser press- dus-Zivilisation zugrunde. Woran, weiß doch fraglich.
2007 untersuchte ebenjener Archäologite nach oben. Menschen tanzten um ein niemand. Doch zu gern würden die HinSchlammloch. „Ist der Saraswati aufge- du-Nationalisten im Land von den Harap- sche Dienst eine Sandbank und Korallenpa abstammen. Der Fund des Flusses soll riffe, die Indien mit Sri Lanka verbinden.
taucht?“, fragten indische Zeitungen.
Umweltschützer Himanshu Thakkar will beweisen, was sie propagieren: Indien den Hier, so erzählt es eine der großen indisich nicht festlegen, zu groß ist die Angst, Hindus. Nicht den Muslimen. Nicht den schen Epen, habe Prinz Rama seine geliebte Sita aus den Fängen eines Dämonen bereligiöse Gefühle zu verletzen. Aber selbst Christen.
Ihre Logik ist so simpel wie problema- freien wollen. Er flehte den Affengott Hanuwenn der Saraswati keine Legende sei:
„Wie soll ein Fluss wieder fließen, den pure tisch: Die Veden, behaupten sie, hätten die man um Hilfe an. Dessen Armee aus Affen
Geologie einst zum Versiegen brachte?“, Harappa geschrieben. Denn nur ein Volk, warf Steine ins Meer und half dem Helden,
fragt Thakkar. Er findet, das Land solle erst dass den Fluss noch fließen sah, konnte eine Brücke zu bauen, der Prinz schritt darüber und rettete seine Liebste.
einmal die Flüsse säubern, die es hat, statt ihn als reißenden Strom beschreiben.
Die Regierung in Delhi, die den HinduDass dies die Heldentaten von Prinz
unsichtbare auszugraben.
Seit zwei Jahren erlebt Indien eine Was- Nationalisten nahesteht, fördert das Pro- Rama in Zweifel ziehen könnte, sah der
serkrise. Der Monsun ist abgeflaut. Kraft- jekt. Der Fund des Wassers gilt bereits jetzt Archäologische Dienst jedoch schnell ein
werke mussten aus Mangel an Kühlwasser als hochpolitisch. Was kurios anmutet, ist und zog seine Behauptung zurück. Da hatabgeschaltet werden, so tief ist der Wasser- der Versuch, die eigene Herkunft zu mys- te die damalige Regierung bereits veranlasst, dass zwei verantwortliche Wissenspiegel mancherorts gesunken. Mehr als tifizieren.
Wenn in einem Land heilige Schriften schaftler suspendiert wurden.
die Hälfte des Grundwassers gilt als vergifLaura Höflinger
tet: mit Arsen, Fluoriden und Nitraten. Un- wie Sachbücher ausgelegt werden, brechen
ter den Brücken stauen sich Berge aus Plas- für die Archäologie schwierige Zeiten an.
Mail: [email protected], Twitter: @hoeflingern
DER SPIEGEL 22 / 2016
121