Der Bücherkrieg

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HINTERGRUND
Walliser Bote
Samstag, 18. Juni 2016
Bern | «Verleihsteuer» entzweit Bibliotheken und Autoren
Der Bücherkrieg
Künftig sollen Autoren
für die Ausleihe ihrer
Bücher in Schweizer
Bibliotheken entschädigt
werden. Diese vom Bundesrat vorgeschlagene
«Verleihsteuer» sorgt für
massive Kritik bei den
Bibliotheken. Die Autoren ihrerseits beklagen
die fehlende Solidarität
der Branche.
THEODORA PETER, SDA
Gotthard-Basistunnel. Mit seinen 57 Kilometern Länge ist das Schweizer Bauwerk derzeit
der längste Eisenbahntunnel der Welt – derzeit.
FOTO KEYSTONE
Bern | In 10 Jahren bricht der Brenner den Gotthard-Rekord
7 Kilometer mehr
Der Gotthard-Basistunnel
ist nicht das einzige Jahrhundertbauwerk in den
Alpen. Der Brenner-Basistunnel, eine wichtige Verbindung zwischen München und Verona, wird in
zehn Jahren eingeweiht.
Dann wird er den Gotthard als längsten Eisenbahntunnel der Welt ablösen.
EMMANUEL PINGET, SDA
Der Brenner-Basistunnel selbst
wird 55 Kilometer lang sein,
aber gemeinsam mit der bestehenden Umfahrung Innsbruck
in Österreich erreicht der Brenner eine Länge von insgesamt
64 Kilometern. Damit wird das
Gemeinschaftswerk von Italien
und Österreich sieben Kilometer länger als der Gotthard-Basistunnel sein.
Die Aussicht, den Schweizer Rekord zu brechen, ist aber
nicht die treibende Motivation
der Nachbarländer der Schweiz.
«Das ist wirklich zweitrangig»,
sagt Simon Lochmann, Sprecher des Unternehmens BBT
(Brenner-Basistunnel). «Wichtig ist, dass die Infrastrukturen
klug genutzt werden und zu einer nachhaltigen Mobilität beitragen», sagt er gegenüber der
Nachrichtenagentur sda.
Von Helsinki bis Valletta
Der Tunnel durchquert die Alpen unter dem Brennerpass.
Über den Pass laufen 40 Prozent
des alpenquerenden Güterverkehrs, davon zwei Drittel über
die Strasse. Über den Brenner
fahren daher jährlich fast doppelt so viele Lastwagen wie über
die Schweizer Alpenübergänge.
Die neue Flachbahn soll
nun die alte Bahnlinie über den
Pass ablösen, die seit 140 Jahren
in Betrieb ist. Im März 2015
haben die Hauptarbeiten für
den Basistunnel auf österreichischer Seite offiziell begonnen. Wird der Zeitplan eingehalten, nimmt der Tunnel 2026
seinen Betrieb auf. Die Fahrzeit
zwischen dem österreichischen
Innsbruck und dem italienischen Fortezza beträgt dann
noch 25 Minuten statt 80 wie
heute.
Als Teil einer der wichtigsten
europäischen Transportrouten
stuft die EU den Brenner-Tunnel als prioritär ein. Er befindet
sich auf einer wichtigen Achse,
die durch die Mitte des Kontinents führt und Helsinki in
Finnland mit Valletta in Malta
verbindet. Seine Kosten werden
auf neun Milliarden Franken geschätzt. 40 Prozent davon bezahlt die EU, den Rest teilen sich
Österreich und Italien.
Vom Gotthard
zum Brenner
Der Brenner weist dabei einige
Gemeinsamkeiten mit dem
Gotthard auf: Wie der GotthardBasistunnel besteht auch der
Brenner aus zwei eingleisigen
parallelen Röhren. Schon seit
zehn Jahren arbeite BBT mit
den Experten von Alptransit
Gotthard zusammen, der Bauherrin des Gotthards, sagt Lochmann. BBT blicke «mit dem
grössten Respekt auf die herausragende Leistung unserer
Schweizer Kollegen».
Weiter sitzt im Planungskomitee des Brenners mit dem
Ingenieur Peter Teuscher der
ehemalige Chef der BLS Alptransit, die für den Bau des
Lötschberg-Basistunnels verantwortlich war. «Wir haben
zahlreiche Techniken vom Gotthard übernommen und aus den
Erfahrungen bei seinem Bau gelernt», sagt Lochmann. So sind
das Sicherheits- und Rettungskonzept von demjenigen des
Schweizer Tunnels inspiriert.
Namentlich bei den Nothaltestellen orientieren sich die
Planer am Gotthard, weil sich
die Geometrie und Funktionalität der beiden Tunnel ähneln.
Auch bei den Verbindungsstollen nahmen sich die Ingenieure
den Gotthard zum Vorbild. Etwa alle 330 Meter sind solche
Stollen angelegt, die es den Passagieren ermöglichen, ohne
Probleme von einer Röhre in die
andere zu wechseln.
An Bord beim Bau des
Brenner-Basistunnels sind zudem etwa 30 Tunnelbauer und
rund 20 Ingenieure, die bereits
bei der Konstruktion der
Schweizer Tunnel Lötschberg
oder Gotthard involviert waren.
BBT erwartet, noch weitere
Tunnelbauer und Ingenieure
für sich gewinnen zu können.
Letztlich werden jährlich rund
2000 Personen für das Bauwerk
arbeiten.
Genua oder Triest?
Die Röhren des Tunnels werden
durch verschiedene Felsengesteine hindurch gebaut. 30 Prozent des Gesteins werden durch
Sprengungen ausgehoben, 70
Prozent durch die Tunnelbohrmaschine.
Nicht vom Vorbild Gotthard abschauen konnte der
Brenner, wie die zwei Länder
Italien und Österreich sich abstimmen sollen. Denn dabei
können unerwartete Probleme
auftauchen: Für die Messung
der Höhe orientiert sich Italien
am Meeresspiegel in Genua,
Österreich am Meeresspiegel
in Triest.
Da dies zu Unterschieden
in den Berechnungen von 12,5
Zentimetern führte, beschlossen die zwei Länder, sich am europäischen System, bei dem
Amsterdam als Referenz dient,
zu orientieren.
Eine Besonderheit des
Brenners stellt zudem ein Erkundungsstollen dar: Über die
ganze Länge wurde etwa zwölf
Meter unter den Haupttunneln
ein Loch von fünf Metern
Durchmesser gebohrt, um die
Geologie und Hydrogeologie
auszukundschaften.
Diesen
Stollen nutzen die Tunnelarbeiter während des Baus zu logistischen Zwecken. Wenn der Brenner seinen Betrieb aufnimmt,
soll der Stollen der Wartung
und Entwässerung dienen.
Wie der Gotthard wird
auch der Brenner-Basistunnel
den Titel des längsten Eisenbahntunnels nicht für immer
halten können. China beispielsweise plant, den längsten Unterwassertunnel der
Welt zu bohren. Dieser soll unter dem Golf von Bohai hindurchführen, um die Hafenstädte Dalian und Yantai zu
verbinden. Der Tunnel soll
123 Kilometer lang werden.
Damit wäre er länger als der
Brenner- und der Gotthard-Basistunnel zusammen.
Eigentlich sind sie im Literaturbetrieb wichtige Verbündete.
Doch die von den Autoren seit
Jahren geforderte Abgeltung
des Verleihrechts, die vom Bundesrat in die laufende Revision
des Urheberrechts eingebaut
wurde, treibt einen Keil zwischen Bibliotheken und Schriftstellern in der Schweiz.
«Mit ihrer Forderung gehen die Autoren ausgerechnet
auf ihre grössten Förderer los»,
enerviert sich Hans Ulrich
Locher, Geschäftsführer der
Schweizerischen
Arbeitsgemeinschaft der allgemeinen öffentlichen Bibliotheken (SAB).
Die zusätzliche finanzielle Belastung werde dazu führen,
dass die Bibliotheken ihre
Dienstleistungen einschränken
müssten.
«Das werden auch die Autorinnen und Autoren zu spüren bekommen, die sich irrtümlich von der Verleihsteuer einen
Vorteil versprechen», warnt Locher. Im Klartext: Wird die Gebühr nicht zusätzlich subventioniert, müssten die Bibliotheken beim Bucheinkauf oder bei
Autorenlesungen sparen. Mit
einer jährlichen Einkaufssumme von 200 Millionen Franken
für Medien sind die Bibliotheken der grösste Kunde im
Schweizer Buchhandel.
Buchhändler fürchten
Bumerang-Effekt
Gegen das Verleihrecht in der
vorgeschlagenen Form wendet
sich deshalb auch der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband (SBVV). Zwar
habe man gegen eine Entschädigung der Rechteinhaber
grundsätzlich nichts einzuwenden – «im Gegenteil!»,
wie SBVV-Geschäftsführer Dani Landolf betont.
Der gravierende Mangel
der jetzigen Vorlage bestehe
aber darin, dass nicht benennt
werde, woher das zusätzliche
Geld für die Abgeltung fliessen
solle. «In Zeiten, in denen die
Anschaffungs-Etats der Bibliotheken stark unter Druck oder
schon gekürzt worden sind,
könnte eine zusätzliche finanzielle Belastung zu einem Bumerang-Effekt für das gesamte
Buch-Ökosystem führen», befürchtet Landolf.
17 oder doch nur
5 Millionen Franken?
Offen lässt die Gesetzesrevision
auch die Höhe der Abgeltung. Diese soll zwischen Urhebern, Verwertungsgesellschaften und Bibliotheken ausgehandelt und behördlich geprüft
werden. Die Bibliotheken gehen von einer Kostenschätzung
von 36 Rappen pro Ausleihe
aus. Bei jährlich 48 Millionen
Ausleihen hätte dies Mehrkosten von 17,2 Millionen Franken
zur Folge.
Diese Kostenschätzung
wird von den Autorinnen und
Autoren Schweiz (AdS) heftig bestritten. «Diese Zahlen entbehren jeglicher Grundlage», sagt
AdS-Vorstandsmitglied
Etrit
Hasler. Orientiere man sich an
anderen Ländern – zum Beispiel
an Deutschland – werde die Entschädigung den einstelligen
Rappenbetrag pro Ausleihe
nicht überschreiten. Das wären
Kostenfolgen von jährlich total
2 bis 5 Millionen Franken.
Dass sich die Bibliotheken
gegen eine drohende Überwälzung von Mehrkosten wehren,
kann Hasler zwar nachvollziehen. «Wir erwarten nicht, dass
sie das einfach schlucken.»
Doch dass man «nun einfach in
der Hackordnung weiter nach
unten austeilt», indem man auf
die Autorinnen und Autoren
losgehe, sei «wahnsinnig unsolidarisch».
«Wir sitzen alle
im gleichen Boot»
Sich gegenseitig zu zerfleischen,
sei «das Dümmste, was jetzt passieren kann», bedauert Hasler.
«Wir sitzen alle im gleichen
Boot.» Schliesslich bildeten die
Autorinnen und Autoren die
Existenzgrundlage der Bibliotheken. «Ohne Autoren wird die
Bibliothek zum Museum.»
Der St. Galler Autor und
SP-Kantonspolitiker plädiert dafür, gemeinsam dafür zu kämpfen, dass die öffentliche Hand
nicht zusätzlich bei der Bildung
spart. Das Problem sei nicht das
Verleihrecht, sondern die Sparpolitik. «Die Bibliotheksbudgets sind grundsätzlich unter
Druck.» Betrachte man den gesamten Bildungsetat, mache
die Vergütung für ein Verleihrecht in der Schweiz lediglich
ein Promille aus.
Anpassung an EU-Recht
Die Vergütung der Bibliotheksausleihe ist ein Aspekt der Revision des Urheberrechts, die der
Bundesrat Ende 2015 in die Vernehmlassung geschickt hatte.
Damit passt er die Regeln dem
EU-Recht an und sorgt damit
aus Sicht der Autorinnen und
Autoren für eine Gleichbehandlung. Denn Schweizer Autoren
erhalten bereits heute Entschädigungen aus dem Ausland für
den dortigen Verleih ihrer
Werkexemplare – nicht aber in
der Schweiz.
Die Bibliotheken ihrerseits stellen sich auf den Standpunkt, dass die Urheber für die
kostenlose Ausleihe von Büchern nicht entschädigt werden sollen, weil die Bibliotheken damit keine Einnahmen erzielten. Eine Ausnahme bilden
kostenpflichtige
Vermietungen, auf denen bereits heute eine sogenannte Bibliothekstantième erhoben wird. Diese ergab laut SAB 2014 eine Zahlung
von 318 000 Franken zugunsten
der Urheber. Ob der Bundesrat
in seiner Botschaft ans Parlament an der Neuregelung festhält, klärt sich voraussichtlich
im Herbst. Bis dahin werten die
Bundesbehörden die rund 1000
Stellungnahmen aus der Vernehmlassung aus. Die Stellungnahmen betreffen auch andere
Themen der Revision des Urheberrechtsgesetzes. Kernstück
der Vorlage ist die Bekämpfung
der Internet-Piraterie.
Stiftsbibliothek St. Gallen. Schweizer Autoren verlangen die Abgeltung des Verleihrechts;
Beobachter sehen das «Buch-Ökosystem» bedroht.
FOTO KEYSTONE