Political Correctness in den USA: Hexenjagd auf dem

23.6.2016
Political Correctness in den USA: Hexenjagd auf dem Campus
Political Correctness in den USA: Hexenjagd auf dem
Campus
Hexenjagd auf dem Campus
Kommentarvon Andrea Köhler 21.6.2016, 02:00 Uhr
Die Auswüchse der Political Correctness auf dem amerikanischen Campus hat nicht nur für die Freiheit der
Lehre, sondern auch für die Psyche der Studierenden gravierende Folgen.
Freude herrscht an der Columbia University's School of Journalism. Man muss nur aufpassen, dass die Freude nicht auf
Kosten anderer geht. (Bild: Keith Bedford / Reuters)
Die Angst geht um auf dem amerikanischen Campus, die Angst der Lehrenden vor ihren Studenten. Schon
das männlich konnotierte Wort «Student» birgt, im Deutschen zumindest, was man in den USA eine
«microaggression» nennt – einen Mini­Gewaltakt mithin, der die Frauen eliminiert. Mini­Aggressionen sind
sprachliche Wendungen, die als verletzend aufgefasst werden könnten. Nach Campus­Richtlinien gehört
dazu etwa die Frage, wo man geboren wurde – weil sie impliziere, der oder die Befragte sei womöglich
kein(e) richtige(r) Amerikaner(in). Der Satz «I believe the most qualified person should get the job» steht bei
kalifornischen Hochschulen ebenso auf dem Index wie «America is the land of opportunity». Immerhin
könnte Letzteres andeuten, dass wer seine Chance nicht ergreift, selber schuld sei.
In Harvard verlangen Jura­Studentinnen neuerdings, dass das Thema Vergewaltigung aus dem Lehrplan
gestrichen wird, weil es Traumata wiederbeleben könnte. Es gibt Studierende, die schon das Wort
«violation» (wie in «violates the law») für unzumutbar halten. An der Northwestern University wurden «safe
spaces» für diverse Identitätsgruppen eingerichtet, die keiner sonst aufsuchen darf. Und im ganzen Land
werden sogenannte «Trigger­Warnungen» appliziert, wenn ein Text etwa von sexuellen Übergriffen (Ovids
«Metamorphosen») oder Antisemitismus (Shakespeares «The Merchant of Venice») handelt. Wer sich
durch die suizidalen Implikationen in Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway» bedroht oder durch Huckleberry Finns
rassistische Ausdrucksweise beleidigt fühlt, muss am Unterricht nicht mehr teilnehmen. Am Oberlin College
in Ohio hat man die Texte schon einmal vorsorglich von aller Anstössigkeit befreit.
Ein weiterer Posten auf dem Campus­Index ist das, was man «cultural appropriation» nennt: die Aneignung
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kultureller Merkmale oder Stereotype einer Ethnie, der man selbst nicht angehört. An der University of
Washington wurde zu Halloween ein Dresscode­Video verschickt: Kostüme mit stereotypen Signalen seien
tabu. An der Bowdoin wurden Studenten diszipliniert, weil sie Mini­Sombreros zu einer Tequila­Party
getragen hatten. An der University of Louisville entschuldigte sich der Präsident bei allen Latinos, weil er zu
Halloween in einem Indio­Poncho aufgekreuzt war.
Diese Sombrero­Panik hat mittlerweile sogar die Nahrungsaufnahme erreicht. Am Oberlin College eskalierte
unlängst ein Streit über das Essen im campuseigenen «African Heritage House». Die Studenten
protestierten, es sei nicht authentisch – und folglich eine Herabsetzung afrikanischer Sitten. Auch die
Cafeteria kam unter Beschuss, weil dort Sushi und Bánh mì mit falschen Zutaten im Angebot waren, was die
Kultur der Japaner oder der Inder der Lächerlichkeit preisgebe.
Klima der Paranoia
Während Vergewaltigungen auf dem Campus noch immer zu gering bestraft oder gar ganz unter den
Teppich gekehrt werden, hat sich im Alltag ein Klima der Paranoia und der Zensur breitgemacht. Die Folgen
sind nicht allein für die Lehrpläne katastrophal. Dozierende müssen heutzutage nicht nur Sensibilitäts­
Trainings absolvieren, sie müssen auch stets darauf gefasst sein, dass den empfindlichsten unter ihren
Studierenden etwas aufstossen könnte. Das Wort «Brüste» aus dem Mund einer männlichen Lehrperson
kann Millionen­Klagen auslösen.
Verstörend ist nicht allein die offensichtliche Borniertheit dieser neuen Correctness­Welle, die von einer
Generation ausgeht, die so behütet aufgewachsen ist wie wohl noch keine zuvor, sondern auch die Panik,
mit der die Universitäten sich dem Druck der Studierenden – oder der Angst vor den Behörden – beugen. Im
Jahr 2013 hat das Department of Justice and Education die Antidiskriminierungs­Statuten erheblich erweitert
und dafür gesorgt, dass schon eine Ausdrucksweise, die «nicht willkommen» ist, unter sexueller Belästigung
firmiert. Diese Definition hat inzwischen sämtliche Lebensbereiche des Campus erfasst. Mit anderen
Worten: Jeder und jede kann heute seine subjektiven Gefühle als objektiven Grund für eine
Belästigungsklage ins Feld führen. E­Mail und Social Media machen es überdies einfach, Beschwerden an
die zuständigen Aufsichtsgremien zu schicken oder gleich auf Facebook zu posten und so die Karriere eines
Professors zu ruinieren. Jede Beschwerde führt zu zeitaufwendigen Meetings und leitet nicht selten
Untersuchungen mit gravierenden Konsequenzen bzw. Entlassungen ein.
Diese Hexenjagd­Atmosphäre, in der jede Mini­Geste Alarm auslösen und jedes falsche Wort bestraft
werden kann, richtet auch bei den Studierenden grossen Schaden an: «Eine Campus­Kultur, die die
Sprache zensiert, ist dazu angetan, Denkmuster zu befördern, die von Verhaltenstherapeuten als typisch für
Angststörungen und Depressionen identifiziert worden sind», schreiben Greg Lukianoff und Jonathan Haidt
unter dem Titel «The Coddling of the American Mind» in der Zeitschrift «The Atlantic». In der Tat sind die
Angststörungen auf dem Campus in den letzten Jahren massiv gestiegen. Eine Studie der American College
Health Association von 2014 hat ergeben, dass 54 Prozent der College­Studenten erklärten, in den letzten
zwölf Monaten «überwältigende Angstgefühle» gehabt zu haben.
Die Verhaltenstherapie basiert darauf, das kritische Denken zu stärken, um irrationale Verhaltensmuster und
Ängste einer fundierten Realitätsprüfung unterziehen zu können. Das gegenwärtige Campus­Klima aber
bestärkt die Studierenden darin, ihre subjektiven Empfindlichkeiten als objektive Verletzungen zu bewerten.
Zu sagen, man fühle sich beleidigt, bekommt so den Charakter eines unwiderlegbaren Faktums, das nach
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Strafe oder zumindest nach einer Entschuldigung ruft.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der allgemeine Konsens, Diskriminierung zu ahnden, ist
hier nicht gemeint. Selbstverständlich gilt es, traumatisierte Menschen zu unterstützen und Minoritäten zu
schützen; letzteres hat das Attentat von Orlando einmal mehr deutlich gemacht. Doch die Hypersensibilität
an den Universitäten unterminiert jede Form des intellektuellen Denkens, das per definitionem in der
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen gedeiht. Von Humor oder Ironie ganz zu schweigen.
Im Unterschied zur ersten Political­Correctness­Welle, die in den 80er und 90er Jahren den historischen und
literarischen Kanon herausforderte, geht es heute nicht mehr um die Diversifizierung des Lehrplans oder
das Aufbegehren gegen die Diskriminierung marginalisierter Minderheiten, sondern um das emotionale
Wohlbefinden einer Generation, die als verwöhnt und übersensibel gilt. Mit diesem aus dem Ruder
gelaufenen Kinderschutz wird den Studierenden eine psychische Fragilität attestiert, der der kleinste
Dissens als «traumatisierend» gilt.
Neue Form der Segregation
Paradoxerweise ist diese neue Zimperlichkeit nicht nur eine Folge von Helikopter­Elternschaft und einem
Anstieg an Intoleranz in einer politisch polarisierten Gesellschaft, sondern auch von Fortschritten, die sich
der ersten PC­Welle verdanken: der Öffnung der Universitäten für Minoritäten und einer Sensibilisierung für
deren Belange. Ein Teil der Hyper­Correctness verdankt sich dem Umstand, dass mit dem
wünschenswerten Zuwachs an Selbstbewusstsein auch die nach wie vor bestehenden Ungerechtigkeiten
umso schärfer ins Auge springen.
Wie Nathan Heller im «New Yorker» berichtet, hat sich aber am progressiven Oberlin College – dem ersten,
das afroamerikanische Studenten zuliess – eine neue Form der Segregation breitgemacht, in der Gruppen
unterschiedlicher Minderheiten und Hautfarbe einander aus dem Weg gehen, um nicht mit anderen
Ansichten konfrontiert zu werden. Nicht nur in Anbetracht der immer grösseren Ausdifferenzierung der
unterschiedlichen Identitäten sind solche Tendenzen alarmierend. Es ist schön, wenn Studierende sich
heutzutage aussuchen können, welcher in der explodierenden Anzahl Gender­Identitäten sie sich zugehörig
fühlen. Dass die Lehrenden neuerdings jeden und jede im Seminar zu fragen haben, wie sie angesprochen
zu werden wünschen, dürfte freilich nicht nur das Lehrpersonal überfordern. Facebook hat 71 Gender­
Optionen.
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