Meinung Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand Die Schande von Anogia Am Morgen nachdem die Finanzminister in Brüssel den Griechen einen neuen Kredit gewährt hatten und „Bild“ im Internet „Tschüss Milliarden! Wir sehen euch nie wieder“, titelte, saß ich in einer Taverne auf dem Dorfplatz von Anogia, eineinhalb Serpentinenstunden von Heraklion entfernt. Ein Ausflug in die Berge Kretas. Am Nebentisch häkelte eine alte Frau in schwarzem Rock und schwarzer Strickjacke ein Deckchen. Sie heiße Irini, sagte sie. Sie sei hier in Anogia zur Welt gekommen, vor 80 Jahren. Wo ich herkomme, wollte sie wissen. Und dann erzählte Irini vom August 1944, als ihr Dorf von den Deutschen vernichtet wurde. Sie deutete auf ein Denkmal vor dem Rathaus, auf dem der Wehrmachtbefehl in griechischer Sprache eingraviert ist: „… befehlen wir, den Ort dem Erdboden gleichzumachen und jeden männlichen Bewohner Anogias hinzurichten …“ Anogia wurde beschuldigt, ein Hort des Widerstands zu sein. Alle 950 Häuser des Dorfes brannten die Deutschen nieder, auch die Taverne, die Irinis Familie gehörte. 117 Bewohner wurden hingerichtet. „Mein Vater und mein Bruder …“, sagte Irini, dann hielt sie die rechte Hand an den Hals und schnitt sich symbolisch die Kehle durch. Auch andere Familienmitglieder wurden von den Deutschen ermordet. Ihre Porträts hängen im Innern der Taverne, die man nach dem Krieg wiederaufbaute. Heute gehen deut- Kittihawk 12 DER SPIEGEL 22 / 2016 sche Touristen hier ihrer Vorstellung von unbeschwertem Leben nach. Seit jenem August 1944 hat Irini nie wieder eine andere Farbe als Schwarz getragen. Damals war sie acht Jahre alt. Mir war es immer unangenehm, wenn Wolfgang Schäuble oder andere Protagonisten der deutschen Wüstenrot-Mentalität den Griechen Lektionen in Sparsamkeit und Disziplin erteilten. Jetzt wusste ich genau, warum. Ich dachte auch daran, dass man Irini wohl bald die Rente kürzen werde – das war eine jener Bedingungen, die Deutschland und die anderen Gläubiger für die Kredite gestellt hatten. Und dann fragte ich mich, ob unsere Vorstellung, wer in wessen Schuld steht, angemessen ist. Für jeden gefallenen deutschen Soldaten ordnete die Wehrmacht blutige Vergeltungsmaßnahmen an unschuldigen Kretern an. Zudem wurden landwirtschaftliche Produkte geraubt. Das Massaker von Anogia war nur eines von vielen, die die Deutschen in Griechenland verübten. Aus irgendeinem Grund fanden sie nie dieselbe Aufmerksamkeit wie deutsche Gräueltaten in anderen Ländern. 1960 zahlte die Bundesregierung eine einmalige Entschädigung von 115 Millionen Mark. Das war’s. Sie habe sich gefreut, mich zu treffen, sagte Irini, als wir uns verabschiedeten. Sie hegt schon lange keinen Groll mehr gegen die Deutschen. Als ich Anogia verließ, verspürte ich das Bedürfnis, das Geld, das in der Nacht bewilligt worden war, niemals wiederzusehen. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Markus Feldenkirchen und Jan Fleischhauer im Wechsel. In diesem Theater So gesehen Frauke Petry und Aiman Mazyek sagen sich nichts. Treffen sich zwei und wollen reden. Oder auch nicht? Man kann ja auch reden wollen, wenn man sich eigentlich nichts zu sagen hat oder so viel, dass man den Anfang nicht findet und das Ende nicht sieht, und dann gibt es den Fall, dass man schon reden möchte, aber eher über den anderen als mit ihm; man kennt das, es kommt in den besten Familien vor. In der großen deutschen Menschenfamilie war gerade so ein Fall, da trafen sich, jeweils eskortiert von Vertrauten, die Frauke Petry und der Aiman Mazyek in Berlin, zu einem kleinen Gipfeltreffen der vornehmsten Köpfe der Republik: die eine als Spitzenkraft der AfD, der Alternative für Deutschland, der andere als jene des ZMD, des Zentralrats der deutschen Muslime; der eine trug das Grundgesetz unter dem Arm, die andere unter dem Herzen, und sie haben nur das Beste gewollt. Dass man sich schon nach einer Stunde trennte, weil alles gesagt worden ist, was gesagt werden musste, damit man sich nichts mehr zu sagen hat, weil man sich einfach nicht versteht, obwohl man sich solche Mühe gab – wer kennt das nicht aus seinem Leben? Nur erfährt die Welt nichts davon, weil es an Mikrofonen und Kameras und am geneigten Publikum fehlt, und insofern können wir alle glücklich sein: Die beiden haben jeweils recht, wir haben etwas Spannendes erlebt, und die nächste Vorstellung kommt bestimmt, demnächst in diesem Theater der Republik. Es sei denn, die Kameras schwenken ab. Elke Schmitter
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