PDF - Katholische Kirche beim hr

hr1-Zuspruch, Montag, 20. Juni 2016
Pia Arnold-Rammé, Katholische Kirche Frankfurt
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1) – na, wenn ich mir so unsere
Gesellschaft ansehe, dann wird ja ganz schon viel über andere geurteilt. Dann stimmt der
Satz ja so gar nicht. Viele Menschen scheinen regelrecht versessen darauf, ihr Recht vor
Gericht zu erstreiten.
Doch nicht nur die Anzahl der Gerichtsprozesse sprechen eine ganz andere Sprache,
auch das alltägliche Urteilen über Menschen. Menschen werden in Schubladen gesteckt,
weil sie anders aussehen, eine andere Sprache sprechen oder einer anderen Kultur
angehören, eine andere Ansicht vertreten, einer bestimmten Partei angehören, aus einem
bestimmten Dorf kommen... Die Liste der Gründe, warum ich andere so oder so beurteile,
ohne sie wirklich zu kennen, ließe sich noch lange fortsetzen.
Jesus sagt aber nun nicht: tu das nicht, weil es schlecht oder böse ist. Sondern er sagt:
mach das nicht, weil du ja auch nicht so behandelt werden willst. Und das stimmt ja auch.
Wer will denn schon gerne in eine Schublade gesteckt werden? Ich bin eine Frau, ich
arbeite bei der katholischen Kirche – auch da haben Menschen schon ganz bestimmte
Vorstellungen. Sie beurteilen mich, ohne mich wirklich zu kennen. Das möchte ich nicht.
Ich möchte gerne als Mensch wahrgenommen werden, ohne sofort nach äußeren Kriterien
oder Vorurteilen beurteilt zu werden. Und ich denke, das geht vielen so. Und deshalb
bemühe ich mich immer wieder aufs Neue, jedem und jeder eine Chance zu geben. Das
ist nicht immer leicht, denn ich habe ja meine Bilder im Kopf. Die lassen sich ja auch nicht
einfach so wegschieben. Aber ich bemühe mich. Nicht die Bilder sind das Entscheidende,
sondern der Mensch, der vor mir steht.
Und dasselbe gilt ja auch, wenn ich vor Gericht stehe: jeder und jede hat einen fairen
Prozess verdient, keine Vorverurteilungen, keine schnellen Urteile, keine unfairen
Verfahren.
Im Alltag wie vor Gericht gilt: möglichst viel sehen, möglichst differenziert hingucken, bereit
sein, Vorurteile zu überwinden – so wie ich das ja auch für mich möchte.