Kostenlose Leseprobe - Eisprinzessin sucht Liebe

Eisprinzessin sucht Liebe
EISPRINZESSIN SUCHT LIEBE
Telse Maria Kähler
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Eisprinzessin sucht Liebe
Hinweis
In jeder größeren Stadt gibt es ein Existenzgründerzentrum, manchmal auch
Technologiepark oder englisch Business incubator genannt. Diese Institutionen
dienen
der
Unterstützung
technologieorientierter
(möglichst
innovativer)
Neugründungen und Jungunternehmen. Daneben tragen solche Zentren vielerorts
zur regionalen Wirtschaftsförderung bei, denn sie schaffen Synergieeffekte und
befruchtet das Wirtschaftsleben der Region auf ihre ganz eigene Weise.
Diese
Geschichte
spielt
in
einem
dieser
Gründerzentren,
dem
Technologiezentrum, auch liebevoll Kubus genannt. Den Rahmen für diese
Erzählung bildet die Stadt Wolfsburg, deren faszinierende Entwicklung mich immer
wieder inspiriert. Der Kubus ist ein fiktives Gründerzentrum und steht in keinem
Zusammenhang mit dem InnovationsCampus Wolfsburg.
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Durch Weisheit wird ein Haus gebaut
und durch den Verstand wird es befestigt.
Durch Erkenntnis füllen sich die Kammern
mit allerlei kostbaren und angenehmen Gütern.
Sprüche 24,3-4
Gewidmet der Liebe meines Lebens
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Langsam, ganz langsam kroch das Gefühl der Angst mir den Rücken hinauf. Erst
fein, fast leise, kaum bestimmbar, dann immer eindringlicher, manifestierte es sich
nach und nach kalt und klar. Erschreckt hielt ich inne. Angst? Ich hatte Angst? Angst
vor ihm?
Versunken in eine tagträumerische Sehnsucht nach dem Mann meines Herzens
tanzte ich selbstvergessen durch das Wohnzimmer zu den Oldies der Sechziger
Jahre. Dann urplötzlich dieser Schauer. Stocksteif stand ich da. Langsam, so als
wenn sich ein Schleier von einem langgehüteten Geheimnis hebt, wurde mir
bewusst, ich hatte Angst vor dem Mann, in den ich mich verliebt hatte.
Von einer Sekunde zur anderen löste sich meine verliebt träumerische Stimmung
in Luft auf. Zurück blieb das Gefühl eines unerklärbaren Unbehagens. Real war ich
allein. Niemand war anwesend und doch war er da. Irgendwie konnte ich ihn fast
fühlen. Und es war da, dieses namenlose Gefühl der Angst. Eben noch mit ihm in
liebevoller Verbundenheit vereint, trennte uns jetzt eine unsichtbare Mauer.
„Oh, nein!“ schrie es in meinem Kopf. Er sah so gut aus, war so humorvoll und so
sympathisch. Immer wenn wir uns trafen gab er mir das Gefühl, mich bis in den
letzten Winkel meines Seins zu kennen und zu verstehen. Mein Herz quoll über vor
lauter Liebe zu ihm.
Wie lange hatte ich mich schon nach so einem Gefühl gesehnt? Jahrzehnte? Mein
Leben lang? Und nun? Was sollte ich nur tun?
Am Mittag des darauffolgenden Tages trafen wir uns im Restaurant des
Technologiezentrums, kurz Kubus genannt, um gemeinsam zu Mittag zu essen. Hier
hatten wir uns schon oft getroffen, seit damals...
Mein Büro befand sich im ersten Stock eines mehrstöckigen, rotgraukarierten
Gebäudewürfels eines aus mehreren wie Pappschachteln unterschiedlicher Couleur
zusammengewürfelten Häuserkomplexes, dem Gründerzentrum, in dem ich mich vor
sieben Jahren mit meiner kleinen Firma für Werbung und Design selbstständig
gemacht hatte. In der Mitte des Komplexes übernahm ein zylinderartiges Bauwerk
unverkennbar eine integrale Funktion zwischen den durch Glasbrücken verbunden
Bauwerken. Inspiriert von der klaren Geometrie des Gesamtkomplexes wurde das
Technologiezentrum
liebevoll
Kubus
genannt.
Parkähnlichen
Grünanlagen,
zauberhaft eingegliedert, vermittelten einen willkommenen Wellnesseffekt für
überanstrengte Augen in diesem großen Büroareal.
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Mein
kleines
Mediendesignunternehmen
war
in
einem
dieser
kleinen
Glaskästchenbüros untergebracht, bei denen man viel Fantasie und Geschick
aufbringen musste, um die Büromöbel und Poster so zu drapieren, dass etwas
Privatatmosphäre entstand, weil man sich ansonsten fühlte wie ein Püppchen in
einem Schaufenster, da jeder, der durch die langen Flure des Kubus ging, einen
Blick in das kleine Büro riskierte.
Damals - das war ein verregneter Tag im März. An diesem eh schon trüben Tag
suchte ich verzweifelt nach einem Schreiben der Firma Wittkopf KG. Ich hatte
inzwischen sämtliche Ablagekörbe inspiziert, die Ordner durchwühlt und auch schon
alle anderen in Frage kommenden Ablagestellen durchforstet – das Schreiben blieb
verschwunden.
Solche Momente gehörten zu den eher unerquicklichen Augenblicken meines
Büroalltags. Aufgewachsen am Gifhorner Stadtrand hatte ich nach dem Abitur ein
Grafik-Design-Studium in Hannover absolviert. Selbstständig sein mit einer eigenen
kleinen Werbefirma war ein uralter Traum von mir. Hier in Wolfsburg konnte ich ihn
nach jahrelanger Tätigkeit als Angestellte bei der Firma „Werben mit Pfiff“ in Sülfeld
endlich realisieren. Mein Name Lisa Weidemann, 47 Jahre, verheiratet, zwei Kinder.
Angenervt zelebrierte ich voller Frust und Verzweiflung einen Trommelwirbel auf
der Schreibtischplatte meines schönen, ahornfarbigen Ikea-Standartmodells, nicht
weit davon entfernt, meinem Locher gegen die Wand zu pfeffern. In Anbetracht der
fehlenden Steinstruktur der Wände zielte ich dann doch lieber auf den Papierkorb,
als ich plötzlich innehielt und in seine lachenden Augen blickte.
Er war ein wenig größer als die Normalbürger. Allen Sichtbarrieren zum Trotz
inspizierten zwei braune Augen ungeniert über das dekorative Poster-Arrangement
hinweg mein Arbeitsumfeld.
Unwillkürlich hielt ich inne. So ein Soloauftritt musste auf Außenstehende sehr
komisch wirken. Was also tun, lachen oder rot anlaufen? Ich entschied mich für das
Lachen, ging beschwingt auf die Glastür zu und öffnete sie.
„Hallo!“, sagte er und grinste mich an.
„Sie sehen so aus, als könnten sie eine Pause gebrauchen. Ich bin auf den Weg in
die Kantine. Leider weiß ich nicht, wo ich sie finden kann. Vielleicht haben sie Lust
mit mir essen zu gehen?“
„Okay!“, entfleuchte es meinen Lippen. Kurzentschlossen ergriff ich meine
Handtasche, startete den Anrufbeantworter, schloss mein Büro sorgfältig ab und
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begab mich mit einem wildfremden Mann auf den Weg in das Restaurant im
Hauptgebäude.
An diesem Tag verbrachte ich die erste gemeinsame Pause mit Jakob
Schumacher. Viele weitere sollten folgen. Jakob war freier Programmierer und
stammte ursprünglich aus Braunschweig. Dort hatte er auch Informatik studiert. Jetzt
lebte er mit seiner Familie in der Nähe von München. Wie viele Freiberufler arbeitete
er in unterschiedlichen Städten. Nun hatte ihn ein Projekt direkt in das
Technologiezentrum nach Wolfsburg geführt.
Bis heute weiß ich nicht, ob es die damalige Situationskomik war, seine großen
braunen Augen oder seine wundervolle, humorvolle Ausstrahlung, jedenfalls
faszinierte mich dieser Mann vom ersten Moment an.
Da saßen wir nun wieder und aßen gemeinsam unser leckeres, auf den Vitaminund Kalorienverbrauch für Büroarbeiter abgestimmtes Mittagsmenü. Von März bis
Juni hatten wir uns hier regelmäßig getroffen, hatten geredet und gelacht. Danach
fuhren wir manchmal noch an den Allersee, um uns ein wenig zu bewegen und die
frische Luft zu genießen.
Im Laufe dieser Wochen hatte sich ein seltsames Einverständnis zwischen uns
entwickelt. Alles war so unkompliziert. Ohne dass wir uns körperlich nähergekommen
wären, schien zwischen uns eine seltsame Verbindung zu bestehen.
Etwas, was ich jedoch nicht eingeplant hatte und was mir vollkommen
unangenehm und deplatziert erschien, waren meine Gefühle für diesen Mann, vor
allem die der leidenschaftlichen Art fernab von unseren gemeinsamen Zeiten. Gab
ich
mich
ihm
gegenüber
manchmal
spröde
charmant,
ein
anderes
Mal
kameradschaftlich verstehend, lief mein Inneres über vor lauter Sehnsucht sobald er
mich alleine ließ oder ich Zeit hatte an ihn zu denken.
Jedenfalls glaubte ich, es müsse Liebe sein, was ich da fühlte, denn so ein
Herzensgefühl hatte ich noch nie erlebt. Herzensgefühl, dieses Wort war in keiner
Weise übertrieben. Saß ich zuhause in meinem Kämmerlein und dachte an ihn,
öffnete sich mein Herz und ähnelte einer Schleuse, die auf und zuging. War sie auf,
ging es mir gut und in mir jubelte alles in den süßesten Tönen. Ging sie zu, tat mir
das Herz weh und ich hatte reale körperliche Schmerzen.
Auch er wusste, dass uns etwas ganz Besonderes verband. Dass ich vor lauter
Liebe zu ihm vollkommen durcheinander war, wusste er hoffentlich nicht. Im Laufe
unseres Kennenlernens zeigte ich ihm Seiten von mir, die ich noch keinem anderen
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Menschen offenbart hatte. Seine Gegenwart gab mir das Gefühl, so sein zu können
wie ich wirklich bin - nichts verbergen zu müssen. Einem Menschen mit so einer
vollkommenen Offenheit begegnen zu können und sich dabei sicher und genau
richtig zu fühlen, war für mich eine neue Erfahrung.
Mein Gefühlschaos jedoch wollte ich unbedingt vor ihm verbergen. Er sollte auf
keinen Fall wissen, wie schlimm es um mich stand.
„Du Lisa. Heute ist das letzte Mal, dass wir uns sehen. Heute Abend geht’s zurück
nach München!“
So ist es mit den freien Mitarbeitern von VW und seinen Zulieferfirmen. Für kurze
Zeit sind sie in Wolfsburg und schon geht es wieder zurück in die Heimat oder in ein
anderes Projekt.
Dass er zurückgehen würde, hatte ich gewusst. Auch, dass Zuhause eine Frau auf
ihn wartete, war mir bekannt, und doch kam seine Botschaft an diesem sonnigen
Mittag im Juni unerwartet. Es fiel mir schwer, meine gelassene Würde zu bewahren.
Ich sah ihn an, seine wundervollen braunen Augen, dieses volle fast schwarze
Haar, die markanten Gesichtszüge – ja Männer, wie er waren nicht für mich gemacht.
Ich hatte es ja schon immer gewusst.
Auf dem Parkplatz am Allersee nahmen wir uns zum Abschied in die Arme - zum
ersten Mal. Es war ein ganz normales Abschiedsritual, wie es millionenfach täglich
überall auf der Welt zelebriert wurde, warum nur konnte ich es nicht genießen, wie
andere Menschen auch? Stattdessen machte ich mich stocksteif und hatte das
Gefühl, flüchten zu müssen. Flüchten vor ihm?
Wie oft hatte ich mir gewünscht, wir würden uns endlich einmal ein wenig
näherkommen. Und nun nahm er mich endlich in die Arme und ... Das Gefühl der
Angst kroch wieder in mir hoch.
„Was ist? War es dir nicht recht?“ Er sah mich fragend an.
„Oh nein. Es kam nur so plötzlich!“, stotterte ich. In der Tat, zu dieser Umarmung
kam es spontan, ich hatte nicht damit gerechnet, konnte mich nicht rechtzeitig darauf
einstellen, denn im Allgemeinen ging ich Umarmungen gern aus dem Weg.
Sein Gesicht verzog sich. Er wandte sich ab.
„Es lag nicht an dir. Das bin ich. Ich lasse mich nicht gern in den Arm nehmen“,
versuchte ich mein irrationales Verhalten zu erklären.
„Jedenfalls nicht von einem Mann ...“, fügte ich etwas tonlos hinzu.
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Unsere
Blicke
trafen
sich.
Da
war
es
wieder
dieses
seltsame
Verbundenheitsgefühl, so als ob wir uns schon seit endlosen Zeiten kennen und
verstehen würden.
Er stieg in seinen Audi und fuhr davon. Eine bisher nicht gekannte Verzweiflung
machte sich in mir breit. Ich brauchte dringend Bewegung. Diesmal lief ich allein um
den See.
Im Grunde genommen war ich froh, Jakob für eine Weile nicht sehen zu müssen.
Das er wieder nach Wolfsburg kommen würde, stand fest. Im September wartete ein
neues Projekt auf ihn. Diese Information hatte ich von Gina, seiner Auftraggeberin.
Nun gab mir Jakobs Abwesenheit drei Monate Zeit, mein chaotisches Gefühlsleben
wieder auf Kurs zu bringen.
Gina
Liesner
war
die
Inhaberin
eines
weiteren
Schaufensterbüros
im
Technologiezentrum. Ihre Firma entwickelte Software für Fahrerleitsysteme und
arbeitete wie die meisten hier ansässigen Unternehmen hauptsächlich für VW. Jakob
Schumann wurde von ihr als freischaffender Programmierer engagiert. Die beiden
kannten sich aus Studienzeiten, deshalb hatte sich Gina sehr gefreut, ihn als freien
Mitarbeiter gewinnen zu können.
Auch Gina war begeistert von Jakob. „Wir sind Seelenverwandte“, pflegte sie zu
behaupten und erzählte voller Enthusiasmus, dass sie und Jakob ganz spontan
innerhalb kürzester Zeit kreative Lösungen für komplexe Programmierprobleme
entwickeln konnten. Eigentlich kannte ich Jakob schon bevor er vor meiner Tür stand
– jedenfalls aus Ginas Erzählungen.
Gina gehörte zu den Frauen, die ich immer als ganz besonders anstrengend
empfand. Sie kommen in ihren hochmodischen Schuhen in dein Büro geflattert, egal
ob man nun Zeit hat oder nicht, und wollen, dass man ganz schnell etwas für sie
erledigt. Dann flattern sie ebenso schnell wieder ab.
Ich tat Gina Unrecht, das wusste ich und irgendwie mochte ich sie. Sie hatte mir
schon oft unkompliziert und schnell bei der Lösung meiner EDV-Probleme geholfen
und für ihre Art konnte sie ja nichts. Trotzdem fühlte ich mich durch ihre Besuche oft
überfallen und war hinterher vollkommen ausgelaugt. Seltsamerweise ließ sie immer
eine Jakob-Duftnote zurück. Zum Beispiel, dass Jakob verheiratet war oder dass er
seine Frau über alles lieben würde und das er ohne Familie nicht leben könnte, dass
er einige Jahre in San Francisco gelebt hatte und wie jetzt, dass er im September
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wieder da sein würde. Immer nur kleine Häppchen, die sie jedoch sehr gezielt
platzierte.
Eigentlich interessierten mich diese Dinge nicht wirklich. Trotzdem spürte ich,
diese kleinen Informationsbröckchen waren genau für mich gemünzt. Zwischen mir
und Jakob hatte sich eine eigene Welt entwickelt in der Randfiguren wie Ehepartner
oder berufliche Themen keine Bedeutung hatten. Die Faszination unserer
Unterhaltungen hatte andere Schwerpunkte, wie zum Beispiel die Verknüpfung von
Themen aus der Informatik und der Philosophie oder die gesellschaftlichen
Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Berufs- und Arbeitswelt und vieles
mehr.
Ob und was Gina über Jakobs und meine Beziehung wusste, war mir unbekannt.
Im Grund genommen war es mir auch ziemlich gleichgültig. Hatten Jakob und ich
eine Beziehung?
Am Abend des Abschiednehmens von Jakob blickte ich in zwei blaue Augen. Blau
wie ein Bergsee. Ich liebte diese Augen und ich liebte den Mann, der mich mit diesen
Augen ansah – mein Ehemann Peter.
Wieder eine Welt, mein Familienleben, mein Zuhause, meine Ehe. Peter arbeitete
als Ingenieur in der Forschung und Entwicklung der Volkswagen AG. Wie viele
andere VW-Angehörige hatten wir uns ein kleines Haus gebaut, beackerten einen
kleinen Garten, fuhren zwei Autos und freuten uns über zwei Kinder und einen Hund.
Wir wohnten in einer Neubausiedlung in einem der umliegenden Dörfer, umgeben
von Familien des Mittelstandes und gehörten statistisch gesehen zu den typischen
Normalfamilien.
In diese Bilderbuchwelt kehrte ich Tag für Tag aus meiner Arbeitswelt zurück.
Wenn ich mein Businesskostüm gegen die alte Jeans tauschte, streifte ich die Welt
des Büroalltags eines karriereorientierten Universums ab und tauschte sie gegen die
des Hausmütterchens. Beide Welten erschienen mir so unwirklich. Nur die kleine
Welt, die ich um Jakob und mich gebaut hatte, schien wirklich zu existieren und war
wirklich wichtig. Dabei war sie das einzig irreale in der fassbaren Welt meines
Lebens.
„Und morgen bringst du dann dein Auto zur Inspektion in die Werkstatt und vergiss
nicht, sie sollen die Stelle am Kofferraumdeckel einmal ansehen!“, schulmeisterte
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Peter. Wir saßen beim Abendessen in unserer topmodern gestylten Einbauküche. Es
gab Lasagne, Peters Lieblingsgericht.
Hatte ich mich eben noch teenagerhaft an seinen blauen Augen erfreut,
katapultierte mich dieser eine Satz unsanft zurück in mein normales Eheleben. Von
einer Minute zur anderen fühlte ich mich wie ein kleines Kind, dem man sagen muss,
was es zu tun und zu lassen hat. Inzwischen war Peter aufgestanden, nahm seinen
Teller, stellte ihn in die Spüle und verließ die Küche. In Situationen wie diesen
zweifelte ich sehr daran, ob Peter mich überhaupt noch als Frau wahrnahm.
Er trug mich auf Händen – auf seine Weise. Er tat alles für mich und doch konnte
ich mich darüber nicht freuen. Immerzu beschlich mich das Gefühl, er wolle mich
nicht als die Frau, die ich bin, sondern wünschte sich ein vorgefertigtes
Perfektmodell, das unerwünschte Eigenschaften gefälligst abzustreifen hatte. War
das Liebe?
„Weißt du, was mich am meisten an Julias Verhalten stört?“, fragte ich Christiane
bei einem Spaziergang um den Tankumsee. Christiane, meine beste Freundin, war
zwei Jahre älter als ich, etwas mollig und durch und durch bodenständig. Einmal im
Monat reservierten wir uns einen Samstagnachmittag für eine Freundinnen-Auszeit.
Gewöhnlich fuhren wir zum Tankumsee, manchmal auch nach Braunschweig oder in
den Harz.
Eine Runde um den Tankumsee mit der besten Freundin macht jede
Psychotherapie überflüssig, war unser Motto und so gaben meine Worte den
Startschuss für das heutige Familiengejammer.
Ich war mit dem Tankumsee aufgewachsen. Für uns Kinder war es nur ein
Katzensprung von Gifhorn an den Badesee. Als Erwachsene genoss ich dann oft
und gern den Charme der Siebziger Jahre dieses Kleinodes und das weitläufige
Naherholungsgebiet, in dem man wunderbar radeln und wandern konnte.
Der Himmel war bedeckt und es sah aus, als würde es bald regnen. Ein Tag also
ganz besonders gut geeignet, um die Widrigkeiten des Lebens einmal richtig
durchzukauen.
„Immer, wenn Julia mit Markus eine Auseinandersetzung hat, benimmt sie sich
wie ein kleines Mädchen“, begann ich meine Erzählungen. „Meine Tochter ist dann
keine Löwin, die selbstbewusst ihre Meinung vertritt, nein, sie ist wieder ein kleines
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Mädchen, das schüchtern auf die Worte ihres bösen Vaters wartet“, spöttelte ich,
während wir am Strand entlang liefen.
Christiane blieb stehen, sah mich mit ernstem Gesicht an, überlegte einen
Moment, schluckte und brachte dann hervor: “Du Lisa. Dieses Verhalten hast du
auch drauf!“
Zuerst begriff ich nicht, was sie mir sagen wollte, deshalb fragte ich nach: „Wie
meinst du das?“
Inzwischen war auch ich stehengeblieben. Erwartungsvoll sah ich sie an.
„Na, du beklagst dich, dass deine Tochter sich ihrem Freund gegenüber
zurücknimmt, wenn sie mit ihm diskutiert oder eine Auseinandersetzung hat. Du
nimmst dich auch zurück, wenn du mit Peter sprichst!“, sagte Christiane.
„Du meinst die Situationen, in denen er schulmeistert?“, fragte ich.
„Ja, zum Beispiel. Immer wenn er anfängt zu dozieren und dich dabei manchmal
hinstellt, als wärst du ein Dummerchen. Stört dich das gar nicht?“
„Ja doch, manchmal. Ich komme mir dann vor wie ein kleines Kind. Aber ich weiß,
er meint es nicht so. Mein Vater war auch so!“, antwortete ich.
Ich dachte an mein mulmiges Gefühl im Magen, immer wenn mein Vater so von
oben herab mit meiner Mutter gesprochen hatte. Durch dieses Verhalten schaffte er
es immer wieder, dass sie tat was er sich vorgestellt hatte, auch wenn sie zuvor
anderer Meinung war.
„Mit einem Ehemann sollte man auf Augenhöhe diskutieren und sich nicht fühlen
wie ein Kind!“, holte Christianes Stimme mich in die Gegenwart zurück.
Diese Worte musste ich mir erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Dann
fragte ich: „Du meinst, ich habe ein Problem?“
Christiane nickte: „Ja, ich denke, du hast da ein Problem und deine Tochter
spiegelt dir dein Verhalten!“
Nachdenklich ging ich weiter. Nun fing es doch an zu regnen. Zum Glück waren
wir nicht aus Zucker.
„Ich benehme mich Peter gegenüber wie ein Kind sich seinem Vater gegenüber
verhält?“, wollte ich es noch einmal genau wissen, denn irgendwie konnte ich es
nicht glauben. Verhielt ich mich wirklich so? Ich, die selbstbewusste Karrierefrau?
„Mmmh, genau. So sieht es für mich aus!“, bestätigte Christiane meine
Ausführung.
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Ich kannte Christiane seit meiner Kindheit. Sie war eine gute Beobachterin und ich
schätzte ihren Rat. Schon oft hatte sie mich auf Miseren in meinem Verhalten oder
Sichtweisen hingewiesen, ohne dass sie mir jemals das Gefühl gab, als Person
dadurch weniger wertvoll zu sein. Ihre Worte machten mich irgendwie sauer und
doch wusste ich, sie hatten Hand und Fuß. Christiane äußerte solche Dinge nie,
wenn es nicht einen Grund dafür gab.
‚Ich benehme mich Peter gegenüber wie ein Kind!’, klang es immer wieder durch
meine Gedankenwelt. War ich wirklich so? Benahm ich mich Peter gegenüber wie
ein Kind? Und Julia spiegelte mir durch ihr Verhalten mein eigenes?
Als ich nach Hause kam, musste ich immer noch darüber nachdenken.
„Wenn du nicht so lange mit deiner Freundin um den See gelaufen wärst, hättest
du noch Getränke besorgen können!“, kommentierte Peter meine Mitteilung, zum
Abendessen würde es heute wohl nur Saft geben, weil alle anderen Getränkekisten
leer waren.
Im Allgemeinen hätte ich jetzt geantwortet: „Ist doch nicht so schlimm. Das
erledige ich morgen gleich nach der Arbeit.“ Weil ich aber heute mit meiner Freundin
Christiane um den See gelaufen war und weil ich gerade heute den Verdacht
gewonnen hatte, mein Verhalten Peter gegenüber wäre in Konfliktsituationen
ziemlich schulmädchenhaft, entgegnete ich: „Wenn du heute nach der Arbeit beim
Supermarkt vorbeigefahren wärst, hätten wir das Problem nicht. Schließlich hast du
gestern die letzte Flasche Apfelschorle ausgetrunken.“
Peter sah mich mit seinen wunderschönen blauen Augen an, stutzte kurz
verwundert und sagte dann: „Du hast recht. Habe ich nicht dran gedacht.“
Ups, was war denn jetzt los? Keine Diskussion, kein endloses Gerede, was ich
hätte alles besser oder anders machen können? Statt dessen ein friedliches
Abendessen?
Als ich abends endlich in meinem Bett lag, hatte ich eines der Unbehagen, die
mich in meiner Ehe massiv quälten, entlarvt. Natürlich, wenn ich mich meinem
Ehemann gegenüber wie ein Kind benahm, wurde ich auch so behandelt – wie ein
Kind. Diese Reaktion war eine direkte Antwort auf mein kindliches Verhalten. Die
Frage war nur, warum tat ich das? Sah ich in Peter den Vater und nicht den
Liebhaber? Und war das der Grund, warum ich für ihn keine Leidenschaft empfinden
konnte?
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Als ich die regelmäßigen Atemzüge aus dem Bett nebenan hörte und sich in mir
eine leidenschaftliche Sehnsucht breitmachte, fühlte ich ein großes Bedauern, ihm
wohl nie die Liebe geben zu können, die er verdient hatte.
Aber da war ja noch Jakob. Den konnte ich lieben, jedenfalls platonisch. Na ja,
jedenfalls träumen konnte ich von ihm.
Das mit dem Träumen hatte ich zwar nicht ganz ernst gemeint, trotzdem träumte
ich in dieser Nacht tatsächlich von ihm. Im Traum fuhr ich mit einem Fahrrad zu ihm,
um ihn zu besuchen. Dort angekommen ging ich durch die Hintertür ins Haus. Als ich
das Haus wieder verließ, war mein Fahrrad kaputt.
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