Iss doch wenigstens das Fleisch

Leseprobe aus:
Iss doch wenigstens das Fleisch
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Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Ulrike Sterblich
(HG.)
ISS DOCH
WENIGSTENS
DAS FLEISCH
ROWOHLT TASCHENBUCH VERLAG
Originalausgabe
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Reinbek bei Hamburg, Juni 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem
Umschlagabbildung mauritius image/BY
Satz aus der Legacy PostScript
bei hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Bindung CPI books GmbH, Leck, Germany
ISBN 978 3 499 27190 8
JOCHEN SCHMIDT
Wenn man kein Hungertuch hat 7
KATHARINA ADLER
Gestopfte Mäuler 19
E. L. GREIFF
Großraumwagen 32
TEX RUBINOWITZ
Blut und Beilagen 45
LUCY FRICKE
Wer einmal Pansen sagt 52
KLAUS CÄSAR ZEHRER
Das Wirsing-desaster 64
JENS FRIEBE
ABC für die Freunde der
freundlichen Ernährung 78
FIL
Das Fleisch 88
ELINOR RICHTER
Magere Zeiten 103
PETER GLASER
Früher essen 118
VERENA GÜNTNER
Maultaschen! Verena. 130
FELIX LORENZ
Die Schwester 141
SARAH STRICKER
Eine wahre Geschichte 147
FRAU FREITAG
Hang on Sloopy 173
THOMAS LINDEMANN
Nehmen Sie doch das Huhn 187
OLIVER MARIA SCHMITT
Toast & Trost in Dosen 200
ULRIKE STERBLICH
Nachwort / Les Chefs van Flevohuis 213
DIE AUTOREN 217
Wenn man kein Hungertuch hat
JOCHEN SCHMIDT
In der kurzen Zeit, die das Essen in Freiheit verbringt, also
auf dem Esstisch, sind meine Eltern nervös, sie haben Angst
vor unaufgegessenem Essen. Wenn das Essen einmal aus
den Töpfen befreit und auf die Teller gelassen wurde, muss
es vollständig verspeist werden. Kaum dass sich alle aufgetan haben, bemerkt meine Mutter erstaunt: «Und ich dachte,
es reicht nicht, dann hätte ich doch nicht noch mehr Kartoffeln aufgesetzt!» Wenn es allerdings einmal dazu kommt,
dass alle Töpfe auf dem Tisch geleert sind, sagt meine Mutter: «Und ich dachte, es ist zu viel! Hätte ich doch noch mehr
Kartoffeln aufsetzen sollen!» Dass das Essen immer zu viel
oder zu wenig ist und nur ganz selten genau so viel gekocht
wurde, wie die anwesenden Personen schaffen oder vernünftigerweise zu sich nehmen, will ihr nicht in den Kopf. Aber
was heißt schon zu viel? Man kann die Gäste ja zum Essen
nötigen. Ein Ostpreuße antwortete mal auf die Frage, ob
es ihm bei seinen Gastgebern geschmeckt habe: «Ja, aber
es fehlte an der Nötigung.» Bei uns wird immer ausgiebig
genötigt, man sieht sich irgendwann von Töpfen mit Resten umstellt, die man essen soll, obwohl man satt ist. «Lass
mal, das können wir doch morgen essen», sagt mein Vater.
«Da gibt es aber was anderes.» «Dann kriegen es die Hühner.» «Und ich dachte, es reicht nicht!» «Ich könnte ja noch,
aber ich will nicht», sage ich. «Gestern hat es nicht gereicht.»
«Dann machen wir das eben zum Abendbrot warm.» «Das
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lohnt sich doch nicht, nun iss mal.» «Ich will aber selbst entscheiden dürfen, wann ich genug habe.» «Und ich dachte, es
reicht nicht.»
Sie werfen kein Essen weg, es wird alles noch verwertet.
Wenn ich bei ihnen bin, sortiere ich immer erst einmal verschimmelte Brotkanten aus, aber ohne dass sie es merken,
sonst würden sie die noch irgendwie zurechtschneiden. Saure
Milch existiert praktisch nicht, die schmeckt eben nur ein
bisschen anders als frische Milch. Mein Vater hat früher das
Fett aus Milchtüten gekratzt. Verfallsdaten spielen sowieso
keine Rolle. Meine Oma hat sogar vergammeltes Fleisch
mit Kaliumpermanganat abgerieben, bis es zumindest nicht
mehr giftig war. Vom Geschmack her ist es egal, weil sie alles
so stark salzen.
«Die Haferflocken sind leider ziemlich salzig.»
«Ich hab aber nur einen Löffel Salz rangemacht.»
«Du musst gar kein Salz ranmachen.»
«Aber man braucht täglich Salz.»
«Aber das ist ja schon in der Gemüsebrühe drin, die du
überall dazutust.»
«Weil die Nudeln sonst nicht schmecken.»
«Mir schon.»
«Wart mal ab, wenn dich deine Kinder immer kritisieren.»
In meiner Kindheit dachte ich, es gäbe nur vier oder fünf
Gerichte:
–– Nudelauflauf mit Büchsengemüse, mit einer Packung
Sahne übergossen und zentimeterdick mit Käse
­überbacken
–– Hühnerfrikassee
–– Rosenkohl mit Bechamelsauce
–– Kartoffelpuffer mit Apfelmus
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Jochen Schmidt
(Und zum Abendbrot aufgebratene Nudeln mit Zucker und
Zimt.)
Alles, wovon ich träumte, Käptn-Iglo-Fischstäbchen, Fondue, Schaschlik, Hefeklöße, Schnitzel, Pommes, Flambiertes, Pilzpfanne, Hirschrücken, Paradiescreme, Eisbombe,
Gänsekeule mit Rotkohl, Unox Heiße Tasse, gab es nur zu
Weihnachten oder im Fernsehen. Meine Mutter sagte dann:
«Ihr könnt euch gerne am Fleischstand anstellen!» Aber ich
wollte mich nicht am Fleischstand anstellen, denn ich hätte
sowieso nicht gewusst, worauf man dort zeigen musste. Es
lagen allerhand blutige Fleischbatzen hinter der Theke,
Sachen mit Knochen, Sachen mit weißen Schichten drin,
Sachen, die zugeschnitten werden mussten, manche sogar
mit einem gewaltigen Fleischerbeil in Einzelteile gehackt.
Aber was davon vom Rind oder vom Schwein war, oder gar
vom Lamm, das wusste ich nicht. Nackensteak, Kammfleisch, Wellfleisch, Geschnetzeltes, Mischhack, das würde
ich als Erwachsener alles lernen müssen. Und dann gab es ja
auch noch das Rumpsteak. Um das zu bekommen, musste
man rumstehen. Beim Bäcker Rumkugeln, beim Fleischer
rumstehen, im Museum Bilder von Rums. Die Frauen am
Fleischstand mit ihren dicken, rosigen Unterarmen warfen
immer so begehrliche Blicke auf meine zarten Kinderfingerchen, wenn sie das schwere Fleischerbeil in ein Kälberrückgrat jagten.
Nach der Wende füllte sich der Kühlschrank meiner
Eltern mit Blaubeerjogurt, Hagebuttenmarmelade, bitterer
Orangenmarmelade, Oliven, Zaziki-Salat, neuseeländischem
Straußenfleisch, Serrano-Schinken, es gab Vinschgauer Brötchen, Salz aus der Camargue und Wein aus Grönland. Aber
irgendwann vermisste ich unser Hühnerfrikassee und das
Jägerschnitzel mit Spirelli und Tomatensauce. Natürlich mit
panierter Jagdwurst.
Weil ich erwachsen bin, nehme ich mir immer nur so viel,
wie ich schaffe. Die Kinder nehmen sich immer so viel, dass
die anderen möglichst weniger bekommen, und dann schaffen sie es nicht, auch nicht, wenn alles unter Ketchup begraben wird. «Wer hat denn da schon wieder so viel übriggelassen?», sagt mein Vater dann beim Abwaschen. «Wer hat denn
da seinen halben Becher Wasser nicht ausgetrunken?» «Der
schöne Apfelmus.» Seit einer Weile sagt mein Vater als einziger Mensch auf der Welt «der Apfelmus» statt «das Apfelmus» und behauptet, das schon immer getan zu haben. Er
sagt auch «der PC » statt «der Computer» und «Ah-ta» statt
«Ata» (was angeblich mit den deutschen Lautgesetzen zu tun
hat), zunehmend wird auch wieder in «Mark» statt in «Euro»
gerechnet.
Meine Eltern haben Angst vor unaufgegessenem Essen,
es könnte uns ja beim anderen Essen verpetzen, sodass kein
Essen mehr zu uns kommen will.
Oder weil von unaufgegessenem Essen das Wetter schlecht
wird.
Oder weil unaufgegessenes Essen einem nachläuft.
Bei der Schulspeisung landete das Essen manchmal mitsamt Alu-Besteck direkt in der Tonne. Man sollte Kinder
nicht mit Erziehungsversuchen behelligen, das Komische
ist ja, dass man jahrelang erfolglos versucht, ihnen etwas
beizubringen, was sie später als Erwachsene sowieso ganz
von selbst richtig machen. Alles, was mir als Kind nicht
geschmeckt hat, Quark, Spargel, Käse (Roquefort!), Auberginen, Erbsen, Linsen, Bohnen, Datteln, Feigen, Mayonnaise,
warme Milch, Haferflocken, Mohrrübensaft, Graupensuppe,
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Kohlrabisuppe, Eintopf, Milchnudeln, Griebenschmalz, Letscho, Bierschinken, Spritzkuchen, Radieschen, Lakritze, Bier,
Bitterschokolade, Wein, Wirsingkohl, Spinat, Mohnkuchen,
Marzipan, Paprika, Sülze, Rosenkohl, esse ich heute sehr
gerne. (Außer Lakritze.)
Manchmal habe ich nichts zu essen im Haus und keine
Lust, einkaufen zu gehen. Diese immer gleichen Bewegungsabläufe und Denkvorgänge. Ich bin ja leider gegen Konsum­
euphorie immun und es bräuchte eine millionenschwere Werbekampagne, um mich dazu zu bewegen, irgendeinen neuen
Brotaufstrich im Regal auch nur zu bemerken. Der Anblick dieser riesigen Auswahl ermüdet mich immer so, dass ich mich
am liebsten mit in die Feinkosttruhe legen würde. Ich weiß
es ja schon vorher: zu Hause koste ich einmal von dem neuartigen Zeug in der pfiffigen Verpackung, und am nächsten
Tag befindet es sich schon in diesem Schwebezustand, wahrscheinlich ist es noch gut, aber probieren wäre mir zu riskant, weshalb ich es stehenlasse, bis es eindeutig verschimmelt ist und ich es wegwerfen kann. Es langweilt mich, dieses
aufdringlich bunte Zeug in den Wagen zu schaufeln, wenn
ich doch eigentlich viel lieber eine Schnittlauchstulle möchte,
aber mit echtem, selbst angebautem Schnittlauch vom Dorf,
«Bollenpiepen» nannten wir ihn, und mit dem Brot meiner
Jugend, das so gut geschmeckt hat, dass man schon auf dem
Weg von der Kaufhalle nach Hause die halbe Kruste abgepult
hat. Das kann sich heute gar keiner mehr vorstellen, wie Brot
früher geschmeckt hat, man roch es kilometerweit, ich habe
oft auf jeden Belag verzichtet, um den Geschmack nicht zu
verfälschen, eine daumendicke Schicht Butter war alles, was
ich zur Verfeinerung brauchte. Die Butter schmeckt natürlich auch nicht mehr so wie früher, es gibt ja gar keine rich-
tigen Kühe mehr, mit schwarz-weißem Fell, und die Milch
kommt bei den heutigen Kühen zwar aus dem Euter, aber
dort wird vermutlich vorher irgendein Katalysator reingespritzt, damit man die Milchproduktion besser steuern kann.
Weil ich so ungern einkaufe, muss ich mich manchmal tagelang von meinen Vorräten ernähren, und wie bei der Zahnpasta, aus der immer noch etwas rauskommt, selbst wenn
sie leer ist, wie bei den Hosentaschen, in denen sich einfach
immer noch irgendwo eine Münze findet, wie bei den Brust­
haaren, von denen man bei jedem Griff hinein immer ein
paar lose erntet, so ist es auch mit der Wohnung, man kann
in einer modernen Wohnung gar nicht verhungern, es findet
sich immer noch etwas zu essen.
Ich muss nur im Krümelfach vom Toaster nachsehen, das
habe ich das letzte Mal vor Jahren geleert, als der Toaster
wegen der vielen Krümel Feuer gefangen hatte. Was sich da an
Krümeln findet, reicht immer für eine Brotsuppe oder einen
ganzen Semmelpudding, wenn man es mit Wasser ansetzt
und um die Krümel von unter der Wachsdecke ergänzt.
Das Eisfach vom Kühlschrank mache ich normalerweise
nie auf, weil es zugewachsen ist und die Klappe festklebt. Aber
wenn man es abtaut, entdeckt man manchmal eine Packung
Gefrierspinat und dahinter einen angefangenen Becher Speiseeis, die sind ja immer viel zu groß.
Wenn man Kinder hat, gibt es eigentlich immer Süßigkeiten in der Wohnung, entweder in ihren verschiedenen
Verstecken, oder in den eigenen, in denen man die opulenten Süßigkeitenmischungen mit den seltsam unvertrauten
Namen verschwinden lässt, die von den Großeltern stammen.
Es ist auch viel besser, wenn man überlagerte Gummibärchen
lutscht, weil die so hart sind, dass man für jedes eine Weile
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Jochen Schmidt
braucht, während man neue sofort runterschluckt. Man
kann auch an der Nudelkette knabbern, die das Kind damals
im Kindergarten gebastelt hat.
Es lohnt sich immer, in der Schultasche nachzugucken,
vor allem am Wochenende, da ist oft noch das Essen vom
Freitag drin. Wenn man Glück hat, war das Kind am Freitagmorgen bei der Mutter, dann gibt es vielleicht sogar eine
Cherry-Tomate oder eine Stulle mit frischen Radieschen. Das
geht natürlich nur, wenn man getrennt lebt.
In diesem Gehänge von Drahtschalen am Küchenschrank,
das mal Ordnung beim Obst schaffen sollte, findet sich eine
ganze Banane, die hatte ich erst übersehen, weil sie schwarz
ist, aber das heißt gar nichts, heutige Bananen vergammeln
nur noch äußerlich, innen schmecken sie ganz normal. Und
selbst, wenn sie schon braun sind, das ändert höchstens was
am Geschmack. Unter der Banane verbirgt sich auch noch
eine Zwiebel, die kann man anbraten, vielleicht mit den Brotkrümeln aus dem Toaster. Die Knoblauchzehen lösen sich ja
komischerweise immer mit der Zeit in Luft auf, da bleibt nur
die Hülle. Noch mehr Brotkrümel findet man übrigens häufig im Bett. «Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie
Krümel piken.» Aber ich habe ja ein Doppelbett und kann
die Krümel immer auf die andere Seite wischen. Und in meiner DDR -Schublade liegt noch der «Atomkeks», ein Kekskomprimat in einem Metallbehälter, vom VEB WIKANA ,
Süß- und Dauerbackwarenfabrik Wittenberg Lutherstadt,
die eiserne Ration, die ich beim NVA -Dienst geklaut habe. Es
ist zwar seit 20 Jahren abgelaufen, aber es hat ja auch schon
vorher nicht geschmeckt.
Man kann wohl auch Tapete essen, weil im Kleister Stärke
ist, aber das habe ich gar nicht nötig, weil sich meistens noch
eine Kartoffel findet, die in die Kiste mit den Pfandflaschen
gekullert ist, ich gebe sie nur alle paar Jahre ab.
In der Jacke mit dem Loch in der Tasche sind noch Kaugummis und ein paar Fishermans, die rutschen immer ins
Futter.
Fleisch ist schwieriger aufzutreiben, aber da ist ja noch das
Fahrrad, am Lenker klebt ein bisschen Rotkohl und mit etwas
Glück am Schutzblech ein Schnipsel vom letzten Döner.
Am Ende bleibt mir nichts anderes übrig, als doch wieder
meine Eltern zu besuchen, bei denen ich wie eine Made bin,
die keine andere Funktion hat, als zu fressen. Hatte ich als
Kind noch den Ehrgeiz, etwas Besonderes im Leben zu erreichen, etwa die Regierungen des Ostblocks zu stürzen, oder
die Unvollendete von Schubert zu Ende zu komponieren, so
weiß ich heute, dass das alles nur kurzzeitig Spaß machen
würde und man sich bald, nachdem man alle Regierungen
gestürzt hat, wieder langweilt. Meine Mutter fragt mich, ob
ich Bohnen und Kartoffeln oder auch ein Würstchen will. Ich
versuche dann immer, wie bei Burger King, so zu antworten,
dass ich ein Minimum an Zusatzfragen gestellt bekomme:
«Mach einfach, was dir am wenigsten Mühe macht, Mutti.»
«Also kein Würstchen?»
«Doch, eins.»
«Eins oder zwei?»
«Zwei.»
«Dann muss ich nochmal einkaufen gehen.»
«Dann nur eins.»
«Du kannst aber auch zwei haben.»
«Aber wenn du dann extra einkaufen musst?»
«Ach, ich bins gewohnt, euch zu bedienen.»
Während ich mit meinem Vater Fußball gucke, guckt
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Jochen Schmidt
meine Mutter im anderen Zimmer Eiskunstlauf. Irgendwie ist es so, dass sie immer genau dann rüberkommt, um
etwas zu sagen, wenn im Spiel etwas Spannendes passiert.
Da die meisten Fußballspiele aber langweilig sind, bleibt das
ein ewiges Paradox. Es erinnert mich an die Karikatur von
Henry Büttner, in der ein Mann seiner Frau eine Art vergitterten Laufgang wie für Tiger gebaut hat, durch den sie auf
Knien gehen muss, wenn sie am Fernseher vorbei will. Meine
Mutter hat sich abgewöhnt, darauf zu warten, dass man ihr
zuhört, wenn sie etwas sagen will, sie kommt schon redend
herein. Deshalb haben sich alle anderen angewöhnt, nicht
hinzuhören. Später streiten sich meine Eltern dann, ob sie
etwas gar nicht gesagt hat, oder ob mein Vater es überhört
hat. Ich denke, es stimmt beides: sie hat es nicht gesagt, und
er hat nicht hingehört.
Beim Eiskunstlauf ärgert meine Mutter, dass «die kleinen
Chinesen» jetzt alles gewinnen. Die guckten immer so ernst,
sagt meine Mutter, das sei alles nur Athletik bei denen. Die
sprängen zwar alles vierfach, aber sie gäben sich mit dem
Drumherum keine Mühe, obwohl es doch Eiskunstlauf heiße.
Wir gucken seit 30 Jahren Eiskunstlauf, können aber ohne
Hilfe des Moderators keinen Rittberger von einem Salchow
oder einem doppelten Lutz unterscheiden. Mich fasziniert
noch immer, dass die Läufer rückwärts nicht an die Bande
prallen, sondern immer kurz vorher die Richtung wechseln.
Ich denke, sie machen das, indem sie sich auf der großen
Leinwand in der Arena selbst beobachten. Meine Mutter hat
festgestellt, dass die Amerikaner seit neuestem häufig deutsche Namen haben. Sie denkt, das liege daran, dass die Nachkommen der deutschen Einwanderer wieder «in die Städte
drängen», wie sie das nennt. Ich sage, dass die größte ethni-
sche Gruppe in den USA deutschstämmig und es deshalb
nicht unwahrscheinlich ist, dass viele Eiskunstläufer von uns
abstammen. Sie sagt: «Ja, aber Sandra Bullock war in München auf einer Waldorfschule.»
«Na eben, sag ich doch», antworte ich. «Und der mit dem
italienischen Namen, Caprioti oder so, hat eine deutsche
Großmutter.» Das hat zwar nichts mit unserem Gespräch zu
tun, aber meine Mutter führt Gespräche in Gedanken einfach
immer weiter und teilt einem dann etwas mit, was normalerweise viel später kommt, oder was sich auf etwas bezieht, was
jemand anders vor ein paar Wochen gesagt hat.
Nach dem Ende der Eiskunstlaufübertragung kommt
meine Mutter zu uns, um uns während des Elfmeterschießens das Ergebnis zu verkünden: «Das kanadische Paar ist zu
Unrecht auf dem dritten Platz.»
«Zu Unrecht, weil sie zu hoch bewertet sind oder zu tief?»,
fragt mein Vater.
«Und die Chinesen haben wieder so ernst geguckt.»
«Zu hoch bewertet oder zu tief?», fragt mein Vater noch
einmal.
«Nein, die waren zu Recht Zweite.»
«Warum zu Unrecht bewertet, das skandinavische Paar?»,
fragt mein Vater und wird langsam ärgerlich.
«Nicht skandinavisch, kanadisch», sagt meine Mutter,
als sei das eine Antwort. Und zu mir sagt sie: «Willst du die
Würstchen gebraten oder gekocht?»
«Wie’s dir bequem ist.»
«Mir macht es nichts aus.»
«Na dann gebraten.»
«Und lieber Bratkartoffeln oder gekochte?»
«Bratkartoffeln.»
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Jochen Schmidt
«Dann muss ich aber erst Kartoffeln kochen.»
Das Abschiedsgespräch ist dann immer meinen Stullen
gewidmet. «Wie viele Stullen soll ich machen? Drei oder vier?»
«Drei.»
«Also drei Stullen oder drei Doppelte?»
Das kann ich nicht beantworten, weil ich nicht weiß, was
sie mit «doppelt» meint. Wir haben uns bis heute nicht auf
eine gemeinsame Klappstullenterminologie einigen können.
«Und ein Säftchen?»
«Ja, eins.»
«Eins oder zwei?»
«Dann zwei.»
«Beide Apfelsaft oder eins von jedem?»
«Was ist denn das andere?»
«Orangensaft, aber ich weiß nicht, ob da noch welcher da
ist.»
«Dann Apfelsaft.»
«Na, gut, dass ich so viel Apfelsaft gekauft habe.»
Wir gucken ja gerne «Seinfeld», die Lieblingsfigur meiner Mutter ist die Mutter von George. Eigentlich sind in
allen Serien die Mütter ihre Lieblingsfiguren. Ihre Lieblingsserie ist «Roseanne». Meine Lieblingsfigur ist bei «Seinfeld»
George, und bei «King of Queens», der Serie mit dem «kleinen Lastwagenfahrer», wo meine Mutter nicht versteht, dass
der so dick ist und trotzdem so eine hübsche Frau hat, ist
der aufbrausende, leicht senile Schwiegervater Arthur mein
Favorit. Ich identifiziere mich also mit sozial unverträglichen
Männern, meine Mutter mit ihren Müttern. Vielleicht ist sie
ja deshalb Mutter geworden, und ich Sohn, das passt schon
ganz gut zusammen.
Dies alles schreibe ich, während ich in ihrer Wohnung auf
dem Klo sitze, dem einzigen Raum, in dem keine Bücher stehen, sondern nur drei Dutzend Putzmittelsorten. Zu jeder
Verschmutzung gibt es ein passendes Putzmittel, sogar
Kalbslederreinigungsmittel haben sie. Nur auf dem Klo finde
ich in der Wohnung meiner Eltern ein bisschen zu mir.
«Ist wer aufm Klo?» fragt meine Mutter. Dabei sieht man
das an der roten Farbe, die von außen anzeigt, dass jemand
die Tür verriegelt hat. Sie rüttelt an der Tür. «Ist wer aufm
Klo?», fragt sie, obwohl die Tür zu ist.
«Ja.»
«Na, lass dich nicht stören.»
Gestopfte Mäuler
KATHARINA ADLER
DOSENRAVIOLI AUF TOAST
(ein Rezept von Diane)
KARAMELLISIERTE WÜRSTCHEN
(eine Spezialität von James)
BUTTER - SPAGHETTI MIT DEN FINGERN
VOM TOPF AUF DEN TELLER
(ein Servier-Vorschlag von Sigrun)
FRITTIERTES GEMÜSE
(eine langsame Folter von Frau Strassl)
Etwas wirklich Gutes hatte es, als ich ein Kind war, unter der
Woche selten gegeben. Mein Bruder und ich waren an Dosenravioli, die uns ein australisches Au-pair in der Mikrowelle
aufgewärmt hatte, gewöhnt, an Würstchen aus dem Zehnerpack, zubereitet von einem englischen Sprachschüler, dessen
Spezialität es gewesen ist, die Würstchen zu karamellisieren,
an Butter-Salz-Spaghetti einer arbeitslosen Schauspielerin.
Auch wenn das alles nicht besonders geschmeckt hatte, auch
wenn es oft jeden Tag das Gleiche gegeben hatte, man hatte
uns fast alles vorsetzen können und wir aßen es. Wir wussten ja, dass irgendwann das Wochenende kommen und dann
unsere Mutter etwas Richtiges kochen würde. Es war völlig
selbstverständlich, dass sie unter der Woche dafür keine Zeit
hatte. Nicht arbeiten zu gehen hätte unsere Mutter unglück19
lich gemacht, wir wollten eine zufriedene Mutter, es hätte
eine kleinere Wohnung bedeutet, weniger Spielzeug, keine
Ferienreisen, wir wollten aber Spielsachen, wir wollten jeder
ein Zimmer für sich und wir wollten nach Amerika, unseren
Großvater besuchen.
Nachdem Sigrun eine Rolle in einer Vorabendserie bekommen hatte, kündigte meine Mutter an, dass wieder jemand
Neues kommen würde. Aufregend war das nicht. Diane,
Sigrun, James und noch einige andere hatten in regelmäßigen
Abständen für eine Weile ihre Leben mit uns geteilt – I want
a guy, who loves me the European way – endlich die Ophelia spielen – learning German is sooooo fucking hard, don’t
tell your parents I said fuck – und dann waren sie wieder fort
gewesen. Als ich dieses Mal von der Schule nach Hause kam,
wusste ich allerdings schon beim ersten Blick auf den Teller,
dass etwas anders war als sonst. Es gab Wiener Schnitzel und
Bratkartoffeln!
Während mein Bruder und ich uns mit großem Appetit an
das herrliche Essen machten, stellte uns meine Mutter Frau
Strassl vor. Sie war nicht aus Australien, nicht aus England
und auch nicht aus dem aus Münchner Kinderper­spektive
ebenso weit entfernten Nordrhein-Westfalen. Sie kam aus
Niederbayern, war um die fünfzig und trug ein schwarzes
T-Shirt mit Mehlflecken auf der mächtigen Brust. Zur Begrüßung sagte sie nur: «Fast wie bei der Raubtierfütterung hier.»
Dann ging sie in die Küche, um bald mit einem Nachtisch
zurückzukehren: einem Vanillepudding, der noch warm war –
selbstgemacht, nicht aus der Tüte.
An jenem ersten Tag blieb meine Mutter zu Hause, um
zu sehen, ob sie die Neue bei ihren Kindern lassen konnte.
Ab dem folgenden Tag waren wir mit Frau Strassl allein. Da
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Katharina Adler
mein Bruder jünger ist als ich, hatte es sich so eingespielt,
dass ich diejenige war, die den Kontakt mit der neuen Person im Haushalt aufnahm, Einzelheiten über sie in Erfahrung brachte und dann das, was meinen Bruder interessieren
könnte, weiter erzählte, bevor er sich selbst an ein Kennenlernen wagte. Normalerweise konnte ich ihm solche Dinge
berichten: Diane spielt gerne Fußball, James hatte als Kind
auch eine Carrera-Bahn oder Sigrun liest dir dein Lieblingsbuch vor, wenn du sie fragst. Bei Frau Strassl war das schwieriger. Wortkarg war sie nicht, das war überhaupt nicht das
Problem. Ich erfuhr, dass sie aus Aiterhofen kam, sie hatte als
Näherin gearbeitet, war dann arbeitslos geworden. Schwierig war das gewesen, denn sie war die Alleinverdienerin in
der Familie, ihrem Mann war vor einiger Zeit das Bein amputiert worden. «Wegen Zucker», erklärte sie. Das ganze letzte
Jahr habe sie nichts anderes beschäftigt, als die Pflege ihres
Mannes. Schon nach der ersten Woche wusste ich, wie man
einem Einbeinigen am besten in die Badewanne half, und
dass, wenn ihr Mann, laut Frau Strassl ein Grantler, keine
Lust hatte, sich selbst zu waschen, sein eines Bein von Vorteil
war, denn so kam man besser an die Weichteile. Weichteile
sage ich, Frau Strassl sagte: «Mei, da kannst ihm halt besser
die Knödel einseifen.»
Auch wenn ich nicht genau wusste, ob und wie ich das
alles meinem Bruder weitergeben sollte, kann ich nicht sagen,
dass ich nicht spannend fand, was Frau Strassl erzählte,
spannend und schlimm zugleich. Von ihrer Tochter bekam
ich zu hören, die unter einer Hautkrankheit litt, weshalb sie
auch kaum arbeiten konnte. Jetzt kümmerte sie sich aber um
ihren Vater. «Soll die ihn pflegen, hat uns lang genug auf der
Tasche gelegen», sagte sie und ermahnte mich, meinen Eltern
nicht das Geld aus der Nase zu ziehen. Auch andere Dinge
lernte ich. Zum Beispiel die Vorzüge von Bier, das besser als
jedes Shampoo sei. «Bier gibt den Haaren Glanz», lehrte mich
Frau Strassl, «und macht den Erwachsenen schöne Gedanken.»
Meine Mutter hatte an ihr nichts auszusetzen, sie war bisher noch mit jedem und jeder einverstanden gewesen, über
die wir uns nicht beschwert hatten, wir hatten uns noch nie
beschwert. Mit meinem Vater allerdings gab es gleich zu
Beginn eine Irritation. Als Frau Strassl erfuhr, dass er Amerikaner ist, kniff sie die Augen zusammen. «Amerikaner?! Die
haben mir nach dem Krieg eine Tafel Schokolade geschenkt.
Die erste in meinem Leben überhaupt, ich hab sie sofort
gegessen. Speiübel ist mir geworden. Ein Kriegskind, das verträgt eine Suppe, ein Brot, aber doch keine Schokolade!»,
sagte Frau Strassl, und dann war nicht klar, ob sie ihren Zeigefinger nur hob oder schon damit auf meinen Vater deutete,
als sie hinzufügte: «Aber das hat den pumperlgsunden Amis
niemand gesagt, dass das einem Mädel mit einem Hungermagen nicht bekommt.»
Mein Vater hob die Schultern. «Darf ich mich dafür vielmals bei Ihnen entschuldigen?»
«Entschuldigen?», Frau Strassl winkte ab. «Mit Verlaub, ihr
seid eh insgesamt komisch. Auf alles klatscht ihr Ketchup.»
Mein Vater lachte. Er lachte, um nicht widersprechen zu
müssen, mein Vater ist ein sehr höflicher Mann. Er blieb
auch höflich, als Frau Strassl ihm die Wochen darauf stets
eine Flasche Ketchup zu dem Essen stellte, das er sich nach
der Arbeit aufwärmen sollte. Stoisch legte er sie jedes Mal
zurück in den Kühlschrank. Wenn es zum Essen passte, gab
er sich auch ein paar Spritzer auf den Teller, nicht ohne die22
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Katharina Adler
sen abzuwaschen, bevor er ihn in die Spülmaschine stellte,
um alle Ketchup-Spuren zu beseitigen.
Die Herkunft meines Vaters schien Frau Strassl nicht aus
dem Kopf zu gehen. Ein paar Tage später setzte sie sich zu
meinem Bruder und mir an den Tisch, sah uns beim Essen zu
und sagte, als würde sie an ein gerade begonnenes Gespräch
anknüpfen: «Dann seid’s ihr also halbe Amis.»
Mein Bruder nickte.
«Wart ihr schon mal da?», fragte Frau Strassl interessiert.
«Of course», antwortete mein Bruder stolz in seinem kindlichen Englisch.
«Wir fliegen meistens in den Sommerferien zu unserem
Opa», ergänzte ich.
Frau Strassl lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. «Ich war
noch nie raus aus Deutschland.»
«Noch nie?!»
«Wirklich, wirklich nie?», setzte mein Bruder nach.
Frau Strassl klatschte in die Hände. «Da machen sie Augen,
die verwöhnten Kinder. Euch sollte mal einer ins echte Leben
schmeißen. Aber gut, passiert schon noch. Und vergesst
nicht!», rief sie auf unser Essen deutend, «Kartoffeln, nicht
nur Ketchup.»
«Mein Vater ist ja auch kein ganzer Amerikaner», sagte ich
mit dem Gefühl, ihn in Schutz nehmen zu müssen. «Unser
Opa ist nämlich eigentlich aus Wien und musste da weg.»
«Das auch noch», erwiderte Frau Strassl, «bei euch kommt
aber alles zam.»
Obwohl sie uns noch eine Weile vorhielt, «Viertel-Ösis» zu
sein, zog sie daraus leider nicht den Schluss, wieder einmal
Schnitzel zu braten. Auch selbstgemachten Pudding gab es
nicht mehr. Es gab einfachere, weniger aufwendige Gerichte.