Pressemitteilung - Deutsches Institut für Internationale

PRESSEMITTEILUNG
16. Juni 2016
„Mehr Bildung bei fortbestehender Ungleichheit“
Bildungsbericht 2016: Bestandsaufnahme des gesamten deutschen Bildungssystems liegt vor.
Eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat heute den Bericht „Bildung
in Deutschland 2016“ vorgelegt. Die empirisch fundierte Bestandsaufnahme informiert Politik, Verwaltung
und Praxis sowie die interessierte Öffentlichkeit über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen im
gesamten Bildungssystem. Der alle zwei Jahre herausgegebene Bildungsbericht beleuchtet außerdem in
jeder Ausgabe ein ausgewähltes Schwerpunktthema. 2016 ist dies „Bildung und Migration“. Mit Blick auf
den derzeitigen Stand des Bildungswesens hält Professor Dr. Kai Maaz vom Deutschen Institut für
Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), der Sprecher der Autorengruppe, fest: „Der Trend zu mehr
Bildung ist ungebrochen. Wir erleben weiterhin eine wachsende Bildungsbeteiligung und
Bildungsnachfrage.“ Gleichzeitig gibt Professor Maaz zu bedenken: „Der Zugang zu Bildung erfolgt nach
wie vor unter sehr ungleichen Voraussetzungen. Soziale Herkunft, Migrationshintergrund und zunehmend
auch regionale Rahmenbedingungen üben einen starken Einfluss auf den Bildungserfolg aus.“
Verschiedene Entwicklungen veranschaulichen den anhaltenden Trend zu mehr Bildung: Die
Bildungsbeteiligung in Betreuungsangeboten für unter 3-Jährige ist aktuell auf 52 Prozent in
Ostdeutschland und 28 Prozent in Westdeutschland angestiegen. Der Ausbau von Ganztagsschulen
schreitet ebenfalls voran: Derzeit unterbreiten 60 Prozent der Schulen in Deutschland Ganztagsangebote,
die von mehr als einem Drittel aller Schülerinnen und Schüler genutzt werden. Jugendliche mit
Migrationshintergrund verzeichnen im Grundschul- und im Sekundarbereich Kompetenzzuwächse und
insgesamt nimmt die Nachfrage nach höherer Bildung zu. So sind beispielsweise unter allen 15- bis 65Jährigen die Anteile von Personen mit einer Hochschulzugangsberechtigung (29 Prozent) oder einem
Studienabschluss (16 Prozent) größer geworden. Im Weiterbildungsbereich ist ebenso ein positiver Trend
festzustellen: Die Teilnahmequote ist von 44 Prozent im Jahr 2007 auf 51 Prozent im Jahr 2014 gestiegen.
Zugleich belegen viele Befunde die ungleichen Voraussetzungen bei Bildungsbeteiligung und -erfolg. Zum
Beispiel liegt der Anteil von sprachförderbedürftigen 3- bis 5-Jährigen seit Jahren konstant bei knapp einem
Viertel. Förderbedürftig sind insbesondere Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss sowie
mit nicht-deutscher Muttersprache (jeweils 39 Prozent). Ausländische Jugendliche verlassen mehr als
doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss und erreichen drei Mal seltener die
Hochschulreife. Jugendliche mit maximal einem Hauptschulabschluss haben in Ostdeutschland
schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle und für ostdeutsche Absolventinnen und -absolventen einer
Ausbildung bestehen nicht nur überdurchschnittlich hohe Arbeitsmarktrisiken, sie erreichen auch niedrigere
Einkommen. Ferner nehmen Migrantinnen und Migranten nur halb so oft wie Nicht-Zugewanderte an
Weiterbildungen teil.
Als bereichsübergreifendes Fazit – auch vor dem Hintergrund der steigenden Zuwanderung von
Menschen, die in Deutschland Schutz suchen – nennt der Bericht sechs zentrale Herausforderungen:
• Hoher Anteil geringer Qualifikation: Selbst bei insgesamt steigender Bildungsbeteiligung erwerben
zu viele Jugendliche und junge Erwachsene maximal einen Hauptschulabschluss oder starten ohne
berufliche Qualifikation ins Berufsleben – aufgrund der aktuellen Migrationsentwicklung wieder mit
steigender Tendenz. Dieser Zunahme gilt es entgegenzuwirken und die Anzahl gering qualifizierter
Menschen zu reduzieren. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Neugestaltung der Schnittstellen
zwischen erstem allgemeinbildendem Schulabschluss, Übergangssystem und Berufsausbildung liegen.
• Soziale Disparitäten: Trotz erheblicher Bemühungen von Bildungspolitik und -praxis sowie sichtbaren
Fortschritten ist es noch nicht gelungen, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen. Hierfür bedarf es Lösungsansätze, die über verschiedene
Bildungsbereiche hinweg wirksam werden, zumal Kinder mit Migrationshintergrund überproportional
häufig in sozialen Risikolagen aufwachsen. Diese Problematik dürfte sich im Zuge der neuen
Zuwanderung intensivieren, woran die Komplexität und Dringlichkeit dieser Herausforderung deutlich
wird.
• Regionale Disparitäten: Die zunehmende regionale Differenzierung innerhalb Deutschlands betrifft
auch das Bildungssystem. Um Unterschiede ausgleichen zu können, müssen Bildungsverantwortliche
zunächst beachten, dass die Definition von Region für die einzelnen Bildungsbereiche unterschiedlich
ausfällt – vom engeren Wohnumfeld in der frühen Bildung und der Grundschule bis hin zu vernetzten
Wirtschaftsräumen in der Berufsbildung. Bei der Bereitstellung von Bildungsangeboten sollten neben
Bildungsfaktoren verstärkt ökonomische und sozial-strukturelle Rahmenbedingungen Berücksichtigung
finden.
• Verhältnis von dualer Ausbildung und Hochschulstudium: Der Trend, dass junge Erwachsene
nach dem Schulabschluss vermehrt ein Hochschulstudium anstreben, hält an. Die Neuzugänge zur
Berufsausbildung sind dagegen weiter rückläufig. Es muss geklärt werden, welche Folgen sich dadurch
für die beiden Bildungsbereiche und ihr Verhältnis zueinander ergeben – ob sich etwa kombinierte
Strukturen herausbilden, wie eine Balance zwischen wissenschaftlichen und berufspraktischen
Anforderungen gefunden werden kann und wie sich die jeweiligen Berufsperspektiven entwickeln.
• Bedarfsgerechtigkeit des öffentlichen Bildungssystems: Vor allem von privater Seite sind vermehrt
Initiativen zur Gründung von Schulen und zur Entwicklung von Studiengängen zu beobachten. Das
deutet darauf hin, dass es der öffentlichen Bildungsinfrastruktur nicht ausreichend gelingt, den
vielfältigen Qualifikationsbedarfen gerecht zu werden. Maßgabe dieser neuen institutionellen Vielfalt
sollte sein, dass die gesellschaftliche Integrationsfunktion und die demokratische Legitimation des
Bildungssystems erhalten bleiben und bestenfalls sogar gestärkt werden können.
Als sechste zentrale Herausforderung macht die Autorengruppe die multidimensionalen Fragen von
Bildung und Migration aus. Wie vor zehn Jahren im ersten Bildungsbericht widmet sich die aktuelle
Ausgabe diesem Thema in seinem Schwerpunktkapitel. Das ermöglicht eine bilanzierende Betrachtung
und macht die Langfristigkeit von Integrationsaufgaben deutlich, die durch die neue Zuwanderung aber
eine zusätzliche Dynamik erhalten. Der vorliegende Bildungsbericht würdigt die vielfältigen Bemühungen
um die Integration der Zugewanderten. Er zeigt, dass für das Bildungssystem (vom frühkindlichen Bereich
bis zur beruflichen Bildung) für die Integration der 2015 Zugewanderten jährlich zusätzliche Kosten in Höhe
von etwa 2,2 bis 3 Milliarden Euro notwendig werden. Positiv für die Integration lässt sich festhalten, dass
es in den vergangenen Jahren gelungen ist, den Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne einen
allgemeinbildenden und beruflichen Bildungsabschluss zu reduzieren. Unterschiede zu Personen ohne
Migrationshintergrund bleiben jedoch unübersehbar und weiter aktuell. Zu beachten ist, dass
Migrationshintergrund kein isoliertes Phänomen darstellt: Bei Bildungsprozessen wirkt er sich immer
zusammen mit anderen Merkmalen aus, wozu vor allem die sozioökonomische Situation der Familie zählt.
Fakt ist, dass die Heterogenität von Lerngruppen insgesamt steigt, was nicht allein auf migrationsbezogene
Entwicklungen zurückzuführen ist. Hierfür müssen innovative pädagogische Lösungen entwickelt werden.
Weitere Informationen: www.bildungsbericht.de
Kontakt:
Bildungsbericht: Professor Dr. Kai Maaz, DIPF, +49 (0)30 293360-45, [email protected]
Presse: Philip Stirm, DIPF, +49 (0)69 24708-123, [email protected]
Der Bericht „Bildung in Deutschland“ wird von einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern erstellt, die folgende Einrichtungen vertreten: Das Deutsche Institut für Internationale
Pädagogische Forschung (DIPF, Federführung), das Deutsche Jugendinstitut (DJI), das Deutsche Zentrum
für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), das Soziologische Forschungsinstitut an der
Universität Göttingen (SOFI) sowie die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Destatis und
StLÄ). Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK)
und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördern die Erarbeitung des Berichts.
Das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) trägt mit empirischer
Bildungsforschung, digitaler Infrastruktur und gezieltem Wissenstransfer dazu bei, Herausforderungen im
Bildungswesen zu bewältigen. Das von dem Leibniz-Institut erarbeitete und dokumentierte Wissen über
Bildung unterstützt Wissenschaft, Politik und Praxis im Bildungsbereich – zum Nutzen der Gesellschaft.