Dr. med. Thomas Fischbach - Berufsverband der Kinder

Dr. med. Thomas Fischbach ,Präsident
des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e. V.)
46. Kinder- und Jugendärztetag 2016
Pressekonferenz in Berlin
Presseerklärung - Sperrfrist: 17.06.2016, 10.30 Uhr
Seit 16 Jahren haben Kinder in Deutschland ein gesetzlich verankertes Recht
auf eine gewaltfreie Erziehung. Eltern – und natürlich auch anderen Personen
wie Lehrern, Babysittern und anderen Aufsichts- bzw. Erziehungspersonen – ist
es seitdem verboten, Kinder psychisch oder physisch zu verletzen bzw. sie zu
erniedrigen.
Das Gesetz hat gewirkt: 90 Prozent der Eltern sehen heute eine gewaltfreie
Erziehung als Ideal an.
Die Normierung von Kinderschutz durch den Gesetzgeber hat also zu Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung geführt. Damit ist aber noch lange nicht
gesichert, dass Kinder und Jugendliche nun keine Gewalt mehr zu befürchten
haben. Immer noch halten laut Kinderschutzbund 48 Prozent der Bundesbürger
eine Ohrfeige für zulässig.
Das BKA hat am 1. Juni die aktuellen Zahlen von 2015 zur Gewalt gegen Kinder bekannt gegeben. Demnach wurden in Deutschland 16 Morde an Kindern
registriert, zudem 38 Todschlagdelikte, 68 Fälle fahrlässiger Tötung und acht
Körperverletzungen mit Todesfolge. Die meisten Todesopfer sind nicht einmal
sechs Jahre alt geworden.
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Tote Kinder sind die äußerste Katastrophe. Tragisch sind aber auch körperliche
Misshandlungen. Kinder leiden oft ein Leben lang darunter, viele zerbrechen.
13 929 Kinder wurden 2015 Opfer sexueller Gewalt. Knapp 4000 Mal wurden
im vergangenen Jahr Kinder körperlich misshandelt.
Das bedeutet:
Jeden Tag werden rund 40 Kinder Opfer sexueller Gewalt, meist im familiären
Umfeld, elf Kinder werden jeden Tag so schwer körperlich oder seelisch misshandelt, dass diese Fälle in der Kriminalstatistik auftauchen und pro Woche
werden im Durchschnitt zwei Kinder in Deutschland zu Tode geprügelt. Oder
sie verhungern, werden vergiftet oder sterben durch sonstige Gewalt oder Vernachlässigung. Meist durch die Eltern, die doch für sie sorgen sollten.
Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr geht das so. Die Zahlen der letzten Dekade zeigen nur einen leichten Rückgang. Und wahrscheinlich bleiben
viele Taten unentdeckt, sagte BKA-Präsident Holger Münch letzte Woche bei
der Vorstellung der Zahlen. Insbesondere Kinderpornos, also die Herstellung,
Verbreitung und der Konsum von pädophilen Inhalten hält er für ein Massenphänomen, bei dem die Polizei kaum hinterherkomme.
Die Zahl der Inobhutnahmen von Kindern steigt in den vergangenen Jahren
dagegen stetig an. Allein im Jahr 2013 nahmen Jugendämter bundesweit
42.100 Kinder in Obhut. Im Vergleich zum Jahr 2008 war das ein Anstieg um 31
Prozent. Mit der Inobhutnahme werden oft Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch verhindert bzw. abgebrochen.
International liegt Deutschland im Bereich der Gewalt gegen Kinder im Mittelfeld. Bei uns werden pro 100.000 Einwohner jährlich vier Mal mehr Kinder getötet als in Griechenland; in den USA sind es drei Mal so viele wie bei uns, hat
der Kinder- und Jugendarzt Dr. Christoph Kupferschmid recherchiert.
Arbeitslosigkeit, niedriges Einkommen, niedriger Ausbildungsstand und sozialer
Status der Erwachsenen, Alkohol- und Beziehungsprobleme, dazu oft eigene
Gewalterfahrungen bilden das ungute Gemisch, aus dem sich Gewalt und
Missbrauch gegen Kinder entwickeln.
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Heute sagt zum Glück niemand mehr, dass Kindererziehung Privatsache sei.
Niemand bezweifelt mehr, dass Kinder in ihren Familien geschützt werden
müssen gegen Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung.
Wir Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen sehen uns hier in der Verantwortung. Zu uns kommen alle Familien, auch die Risikofamilien.
Was wir für unsere Arbeit brauchen:

Um gefährdete Familien einer Beratung zuzuführen, müssen wir noch mehr
als bisher unsere Kompetenz und unsere Sensibilität schulen, um familiäre
Notlagen, die Zeichen von Gewalt und Verwahrlosung noch besser als bisher wahrzunehmen und richtig einzuordnen und um die richtigen Worte für
die Eltern, aber auch für die Kinder und Jugendlichen bei Verdacht auf
Kindswohlgefährdung zu finden. Worte, mit denen wir sie in ihrer Erziehungskompetenz stärken und - falls das nicht ausreicht - auf regionale Unterstützungsangebote wie Frühe Hilfen hinweisen.
Unsere politischen Forderungen:

Abschaffung der Versäulung der Hilfesysteme.
Wir brauchen mehr Netzwerkstrukturen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglichen. Gesundheitsämter, Erziehungs-, Ehe- und Familienberatungsstellen, der ASD, Schwangerschaftsberatungsstellen und Familienhebammen, arbeiten zwar heute schon zusammen, allerdings nur in 66
Prozent aller Fälle mit Kinder- und Jugendärzte/innen. Hier müssen neue
Strukturen, aber auch finanzielle Anreize geschaffen werden, um kinderund jugendärztliche Kompetenz in die Netzwerke einzubringen.
Mehr Prävention durch:

die Etablierung eines Kinderbeauftragten im Deutschen Bundestag!
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die explizite Verankerung von Kinderechten im Grundgesetz!
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die Überprüfung aller Gesetze auf die speziellen Bedarfe und zum Schutz
von Kindern und Jugendlichen!
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
einen jährlichen Bericht über die Verletzung des Kinderschutzes und zum
Stand der Umsetzung von mehr Kinderrechten!

Ausbau der vorausschauenden Beratung bei den pädiatrische Vorsorgeuntersuchungen!
Berlin, 17.06.2016
Anmerkung für die Redaktionen:
Bei Nachfragen stehen Ihnen
Dr. med. Thomas Fischbach
Präsident Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ),
zur Verfügung unter
[email protected]
Pressesprecher: Dr. med. Hermann Josef Kahl
Uhlandstraße 11, 40237 Düsseldorf
Tel.: 02 11 - 67 22 22 Fax: 02 11- 68 24 29
E-Mail: [email protected]
Weitere Infos unter www.kinderaerzte-im-netz.de und
www.bvkj.de
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