Andrea Emmel, Frankfurt hr2-kultur Zuspruch am Morgen / Dienstag, 14.06.16 Schubladendenken „Auch wenn ich im Moment des Malens meine eigenen Bilder nicht verstehe, meine Bilder haben trotzdem eine Bedeutung.“ So schreibt der katalanische Maler Salvador Dali einmal in einem Essay über seine Bilder. Das bedeutet für mich: Jeder Betrachter kann Dalis Werke auf seine ganz eigene Weise deuten. Und die Gelegenheit dazu habe ich jetzt in Fulda. Das Vonderau Museum in Fulda zeigt bis zum 31. Juli unter dem Titel „Dali – ein Leben für die Kunst“ eine Ausstellung mit mehr als 700 Werke (n von Dali). Angefangen von Drucken, über Krawatten, bis hin zum berühmten Kussmund-Sofa. Natürlich sind die fließenden Uhren vertreten, die schon zu einer Art Ikone der schnelllebigen Zeit geworden sind. Aber mich fasziniert ein anderes Bild: „Gesang des Fegefeuers: Der gefallene Engel“; ein Holzschnitt aus einer Reihe zu Dantes „Göttlicher Komödie“. Zu sehen ist ein Engel mit Zerfallserscheinungen, die Muskeln zerfließen förmlich, am Bein und am Fuß sieht man die Knochen. Die mattgrünen Flügel haben Löcher und das Gesicht des Engels ist nicht zu sehen, denn er blickt nach unten auf seine Körpermitte. Fünf verschieden große Schubladen kommen da direkt aus seinem Bauch und seinem Brustkorb heraus. Drum herum schlägt die Haut Falten und der Engel scheint mit der Hand in der oberen Schublade etwas zu suchen. Ein rätselhaftes Bild. Warum ist dieser Engel so ramponiert? Und was bedeuten die Schubladen? Was hat das alles mit dem Fegfeuer zu tun? Und dann versuche ich das Bild zu deuten: Die Schubladen sind für mich ein ganz starkes Symbol: Sie bedeuten Ordnung, man kann darin Sachen verstauen und vor den Blicken verbergen. Was mit Dingen gut funktioniert, ist aber bei den Menschen so eine Sache: Menschen in Schubladen zu stecken, ist ein geflügeltes Wort dafür, dass man sie begrenzt. Sie nur noch eingeschränkt wahrnimmt. Banale Beispiele dafür gibt es genügend: Hartz IV-Empfänger sind faul, und alle Reichen sind asozial. Wir wissen, dass sich Menschen nicht in Schubladen einteilen lassen, und trotzdem tun wir es immer wieder. Ich ertappe mich selbst dabei. Aber, ich versuche mir immer wieder bewusst zu machen: Ich werde den Menschen nicht gerecht, wenn ich sie in Schubladen stecke. Ich will mich an Jesus orientieren. An seinem Umgang mit den Menschen. Schubladendenken gab es auch zu seiner Zeit. Kranke und Aussätzige waren selbst schuld an ihrem Schicksal, und Zöllner waren zum Beispiel elende Halsabschneider. Trotzdem hat Jesus all diesen Menschen eine Chance gegeben. Er hat mit dem Zöllner Zachäus gesprochen, mit Sündern und Dirnen an einem Tisch gesessen und Kranke berührt. Er hat diese Menschen nicht in Schubladen gesteckt, sondern sie in ihrer Vielschichtigkeit gesehen. Hat ihnen Raum gegeben, sich zu zeigen und zu entwickeln. Das Gegenteil von Schubladendenken, denn in Schubladen steckt das Leben fest. Der gefallene Engel von Dali symbolisiert für mich den Stillstand. Schubladen sind gut für ein aufgeräumtes Zuhause, für meine Sicht auf die Menschen taugen sie nicht.
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