Leif Inselmann Bis sich öffnen die Tore… Wartend, lauernd, mit wachem Ohre, in ewiger Ödnis kauernd, bis sich öffnen die Tore… Vor dreihundert Jahren hatte ein als Dichter mehr oder minder begabter Mystiker diese Zeilen für Ib-aatár geschrieben. So lange schon spukten sie dem uralten Wesen vom Geschlechte der Ger‘ḫannon schon im Geist herum, sich unablässig wiederholend in der unendlichen Leere, in der er gefangen war. Er wartete. Lange schon, so lange. Nur noch schemenhaft konnte sich Ib-aatár an die Zeiten erinnern, die nun schon Äonen zurücklagen, als er noch über die Oberfläche der irdischen Welt gewandelt war. Eine harmonische Welt war es gewesen, ohne Konflikte, ohne lärmende Kreaturen wie jene aufrecht gehenden Affen, die sie später an sich reißen sollten. Den Ger‘ḫannon war der Platz zu Eigen gewesen, der ihnen zustand, als Herren der niederen Kreaturen neben anderen von ähnlicher Art. Dann, so erinnerte er sich vage, war eine andere Rasse erschienen, ihnen ihren Platz streitig zu machen. Blutig waren diese unnötigen Kriege zwischen chthonischen, himmlischen und ätherischen Rassen gewesen. Geendet hatten sie in dem großen Verhängnis, das man Ibaatár und seinem Volk bereitet hatte, als man sie hinaus stieß in die luftleere Schwärze des Jenseits, fern der Lande, die sie einst beherrscht hatten. Jener Mystiker, dessen Gedicht Ib-aatár nun schon seit Dekaden quälte, hatte die große Ungerechtigkeit erkannt und danach gestrebt, sie rückgängig zu machen. Aus niederen Motiven zwar, doch das interessierte den Jenseitigen nicht. Was der Sterbliche begehrte, hätte er ihm ohne Weiteres zugestanden. Ein Mensch blieb ein Mensch, eine bedeutungslose Made, die man jederzeit zerquetschen konnte, egal wie reich, mächtig, intelligent er sein mochte. Ob dieser Bedeutungslosigkeit des bleichen Affen hatte Ib-aatár seinen Namen längst vergessen, schon damals hatte er ihn nicht interessiert. Wenn es mit den vier sich reimenden Zeilen nur ähnlich wäre! Doch diese hatten sich ihm gleich einem ewig wiederkehrenden Albtraum eingeprägt, fehlte es ihm doch an 1 anderen Reizen. Nur selten geschah etwas im Leben des alten Ger‘ḫannon. Es war einige Zeit her – er rechnete nicht in Tagen, Wochen, Monaten, wie sollte er jene auch bestimmen in Ermangelung von Tag und Nacht, ohne irgendwelche Himmelskörper – da hatte er Beute gemacht. Viele andere Wesen gab es in diesen Gefilden, doch verteilt über grenzenlose Weiten, sodass man kaum jemals auf eines traf. Da jedoch hatte Ib-aatár eines von ihnen erspäht, wie es in geisterhafter Bewegung durch die Schwärze ruderte. Sogleich hatte der Ger‘ḫannon seinen langen, wurmartigen Körper in Bewegung gesetzt, mit den vier weiten, membranartigen Flügeln geschlagen, obgleich sie ihm in diesem Vakuum noch nutzlos waren. Still, denn alles war still an diesem Ort, hatte er sich dem Beutetier genähert, hatte es schließlich mit den beiden längsten seiner kräftigen, knochenlosen Tentakel gepackt und es zu ihrer Mitte geführt. Haken aus seinem Rachen hatten das amorphe, vergeblich mit fühlerhaften Auswüchsen um sich greifende Wesen fixiert, weitere den weichen, pulsierenden Leib geöffnet, damit der in der Mitte des Schlundes wartende Rüsselfortsatz in ihn eindringen konnte. Genüsslich hatte Ib-aatár der weiche Innere herausgesaugt und die zurückgebliebene Haut, nunmehr eine leere Hülle, wieder von sich gestoßen, wo sie nun die nächsten Ewigkeiten durch die Ödnis schweben würde. Das war ein Genuss gewesen. Dieses Maß an organischer Nahrung reichte dem Ger‘ḫannon für Dekaden, er brauchte schließlich kaum etwas, wo doch sein Körper in todesgleicher Starre durch das schwarze Nichts trieb, meist ohne wirklichen Stoffwechsel, da nicht mehr als einige Regionen des Gehirns überhaupt aktiv waren. Er wünschte, er hätte auch seinen Geist für immer in diesen dumpfen Todesschlaf schicken können, aber er benötigte seine Sinne, obgleich er doch kaum jemals etwas wahrnahm. Doch sollte die Zeit kommen, da sich ihm ein Weg eröffnete, dem ewigen Martyrium zu entfliehen, so musste er diesen erkennen und nutzen können. Und, so wie es aussah, sollte dieser Tag bald gekommen sein. Jener namenlose Mystiker damals hatte versucht, seinen Meister zu befreien. Er hatte ein Tor geöffnet mit der Magie, die er sich im Laufe von Jahrzehnten angelesen hatte aus Büchern, die er uralt genannt hätte, die aus Ib-aatár Sicht aber seit kaum einen Wimpernschlag bestanden. Doch der sterbliche Lakai war schwach gewesen. Er hatte ihn nicht ertragen, den wahrhaftigen Anblick seines 2 Meisters. Ib-aatár, sich in messianischer Hoffnung nach dem Tor in jene farbenfrohe Welt auf der anderen Seite ausstreckend, hatte den ersten Blick seit Äonen auf einen Mann werfen müssen, der ihn mit aufgerissenem Mund anstarrte und auf die Knie fiel, dem Blut aus den Augen lief, dem ob der bloßen Ansicht des Jenseitigen die Neuronen kollabierten, der schon einen Moment später sterbend im Drecke lag, während das Portal sich zwischen ihm und dem Meister schloss. Welch Frustration hatte Ib-aatár erfüllt, verhöhnt von der Sterblichkeit jener niederen Rasse, der er doch immerhin den Rang von Sklaven zugetraut hatte. Nun aber gab es wieder einen Hoffnungsschimmer. Denn jener schwache Mystiker hatte, er war nämlich nicht nur Dichter, sondern auch Bildhauer gewesen, ein steinernes Idol seines Herrn angefertigt. Es war ihm gelungen, Kontakt zu Ib-aatár aufzunehmen und eine Verbindung zwischen diesem und einer Statue herzustellen, die ihn darstellte. Ein hässliches, von lächerlich ungeschickten Händen gefertigtes Ding, wie jedes Werk, das Menschen fabrizierten, doch immerhin hatte man ihn darin erkennen können: ein langer, hier zu einer säulenartigen Spirale gewundener Körper, darauf ein Kopf voller Tentakel, den die Sterblichen in ihrer Einfalt immer mit dem von Tintenfischen verglichen, und aus dem Rücken ragend zwei Paar Flügel, bei jenem Götzenbild einem Mantel gleich schützend um den Körper gelegt. Und war auch der Bildhauer so kläglich vergangen, sein Idol war es nicht. Und nun, Äonen später, die Ib-aatár doch recht kurz vorgekommen waren, hatte es einen neuen Besitzer – oder vielmehr Verehrer – gefunden. Ein Okkultist war es, der sich fanatisch nach der Rückkehr der rechtmäßigen Herrscher seiner kleinen Erde sehnte, der den Göttern der Sterblichen abgeschworen hatte, um den wahrhaftigen zu dienen. Über das Idol, das sein Vorgänger geschaffen hatte, sprach Ib-aatár zu ihm, leitete ihn an, wie er das Großartige vollbringen sollte. Bald war es so weit. Ib-aatár spürte es, spürte, wie die Verbindung aktiviert wurde. Er spürte einen Strom von Energie, der die Fugen zwischen den Welten durchzuckte. Das musste das Opfer sein, ein weiteres unbedeutendes Leben, das dem Jenseitigen zu Ehren beendet wurde. Ib-aatárs Augen, seit so langem nicht mehr benutzt, wurden jäh von einem plötzlichen Schmerz ergriffen. Später erst realisierte er, dass es Licht war, das 3 von der anderen Seite hereinfiel. Eine gleißende Kugel hatte sich dort aufgetan, helle Strahlen werfend, sodass Ib-aatár erstmalig seit langem wieder seiner eigenen Glieder ansichtig wurde. Das Portal, endlich! Seine ledrigen Membranschwingen zitterten erregt, während er voller Erwartung darauf zutrieb. Eine Tentakelspitze tauchte ein in das Licht; ein wohliges Brennen erfüllte das kalte, fast tote Fleisch. Eher ein Schmerz war es, doch in seinem Zustand war dem Ger‘ḫannon jeder Reiz, der ihn aus der stillen Ödnis riss, ein Genuss. Auch die anderen gelenkigen Glieder stießen hindurch, das Brennen sandte Wellen wohliger Elektrizität durch den noch halb im Schlaf befindlichen Körper. In der gleißenden Kugel waren Dinge zu erkennen, hohe Felsen, die sich, verzerrt durch den Blickwinkel, rundlich um den Mittelpunkt des Tores bogen. Dann endlich tauchte auch der Kopf des erwartungsvollen Ibaatár ein, er erblindete kurz durch die starke Energie, doch bald schon hatten sich die Augen regeneriert. Wieder erkennbar wurden die Elemente auf der anderen Seite für die vier Sehorgane, langsam bogen sie sich von der eben noch grotesken Verzerrung zu einem realistischen Bild. Ein ovaler Raum offenbarte sich ihm, umringt von gelbbraunen, grob behauenen Felsen. In einiger Entfernung darüber schwebte ein weißes Dach von unbekanntem Material, wie eine schützende Kuppel über die uralte Megalithanlage gebreitet. Es war der Tempel von Ħaġar Qim, erbaut vor vielen Jahrtausenden, um den Göttern von draußen zu huldigen. In einem Land lag er, das Ib-aatár in seiner früheren Zeit gekannt hatte, ehe es eine Insel geworden war, ehe es von den aufrecht gehenden Affen Malta genannt wurde. Auch erregten die beiden Exemplare ebendieser Spezies die Aufmerksamkeit Ibaatárs, einer reglos am Boden liegend, während ihm Blut aus der aufgeschnittenen Kehle rann, der zweite mit ausgebreiteten Händen dahinter stehend, zum Schutze vor dem Anblick, der ihn töten könnte, ein schwarzes Tuch um die Augen gebunden. Das gebogene Messer in der Hand, mit dem er soeben das Ritual vollendet hatte, verharrte der blinde Priester, vor Aufregung am ganzen Körper zitternd. Neben ihm, trotz einfältiger Ausführung mehr Würde ausstrahlend, stand die aus schwarzem Stein gefertigte Kultfigur, ein winziges Ebenbild des aus dem Portal hervorkommenden Ger‘ḫannon. Das Blut des Opfers hatte sich um ihren Sockel herum gesammelt und war in schmalen Strömen daran empor gelaufen, jetzt wie ein filigranes Netz die magische Figur 4 umschließend. Der Beschwörer, dem nun offenkundig die Gegenwart Ib-aatárs gewahr wurde, sank ehrerbietig auf die Knie. „Seid willkommen, Meister.“ Dann explodierte sein Schädel in einer roten Wolke aus Blut. Während Ib-aatár im ersten Moment noch dachte, wieder einmal hätte ein Sterblicher seine Anwesenheit nicht verkraftet, trat hinter dem Toten eine weitere Gestalt zwischen den Felsen hervor. Ebenfalls ein Mensch, recht wohl gewachsen und von souveräner Ausstrahlung, gekleidet in einen dunkelgrünen Mantel. In der Hand hielt er etwas Metallisches, mit einer Öffnung an der Vorderseite und anscheinend recht komplex gebaut – eine Waffe der Sterblichen? Der Tod seines Lakaien bedeutete Ib-aatár nicht das Geringste, wo er doch nun frei war. Nichtsdestotrotz streckte er seine Tentakel aus, nach dem unerwarteten Gast zu greifen, zugleich sammelte er in seinem Inneren Energie für einen tödlichen metaphysischen Angriff. Da griff der Fremde in sein Gewand, zog ein kleines, rundes Objekt hervor und warf es nach vorne. Der Ger‘ḫannon fürchtete die winzige Waffe nicht; was konnte sie schon gegen ihn ausrichten, zumal er keinerlei Magie in ihr spürte? Doch es kam anders. Beim Kontakt mit einem der Tentakel detonierte das Wurfgeschoss, ein Licht noch greller als das Portal erstrahlte direkt vor seinen Augen. Kleine Splitter bohrten sich an vielfältigen Stellen in seinen Körper und rissen winzige Wunden, die noch im selben Moment wieder verheilten. Doch das Licht hatte ihn geblendet, ihm für einen Moment die Orientierung geraubt, ihn instinktiv zurückzucken lassen. Als seine Augen sich von dem Blitz erholt hatten, erkannte er den Sterblichen, der gerade das dunkle Steinidol mit beiden Händen in die Höhe stemmte. Lässig holte Ib-aatár aus, ihn mit einem Hieb von den Beinen zu fegen. Da machte der Feind eine unerwartete Bewegung – er warf die Figur. Verwundert verfolgten die rechten Augen des Ger‘ḫannon, wie das Objekt an ihnen vorbeiflog – ihn verfehlte – und ein knappes Stück neben ihm im Portal verschwand. Der kräftige Tentakelschlag traf den Sterblichen und schleuderte ihn quer durch den offenen Tempelraum gegen eine Reihe der megalithischen Felsen, wo er unsanft zu Boden rutschte. Funken sprühten aus dem Rachen Ib-aatárs, in 5 einem Moment würde sein Angriff die lästige Kreatur in ihre molekularen Bestandteile aufgelöst haben – da erkannte er im Augenwinkel Erschreckendes. Der Rand des Portals näherte sich, unnachgiebig verkleinerte sich die leuchtende Kugel. In diesem kurzen Moment realisierte Ib-aatár, dass die hinübergeworfene Statue die Verbindung gekappt haben musste. Er, dessen Körper sich noch immer größtenteils auf der anderen Seite befand, wurde zurückgerissen von den Kräften der widernatürlichen Gravitation, die das kollabierende Wurmloch umgaben. Sein vorbereiteter Energieangriff entlud sich mit zerstörerischer Kraft, doch es war nicht mehr zu erkennen, ob er sein Ziel noch erreichte. Dann war wieder Schwärze um ihn herum. Es dauerte nicht lange, bis Ib-aatár erkannte, dass die jenseitige Welt ihn zurückgefordert hatte. Zwei seiner Tentakel waren in der Mitte durchtrennt, ihre Enden abgeschnitten von den Energien des sich schließenden Portals. Der Schmerz der Verwundungen aber war nichts gegen den der Niederlage, die ihn, während der Erfolg längst zum Greifen nahe war, ereilt hatte. Wie hasste er doch diese Kreaturen, die die Sterblichen stets Helden nannten! Wie hasste er dieses armselige Wesen, das ihn mit eigentlich so unterlegenen Mitteln gebannt hatte! Und abermals blieb Ib-aatár nichts übrig als zu warten. Darauf zu warten, dass erneut jemand das Tor zu seiner Welt öffnen und ihn befreien würde, diesmal ohne Zwischenfälle. So sehr hoffte er, das möge noch innerhalb des nächsten Jahrhunderts geschehen. Nicht aus Ungeduld hoffte er dies, sondern aus dem tiefsten Bedürfnis, das Wesen, das ihn so sehr gedemütigt hatte, zu finden und auf grässlichste Weise auszulöschen, bevor es von selbst verendete und im Laufe der Jahre zu Staub zerfiel. Doch er wusste, das wäre unwahrscheinlich, wo doch nun die größte Chance, die bisher für ihn bestanden hatte, das Steinidol, reglos neben ihm schwebte und ihn geradezu verhöhnte durch seine Anwesenheit. Doch immerhin war die innere Stimme verstummt, die die letzten Jahrhunderte immer jenes alberne Gedicht zitiert hatte, zum Schweigen gebracht von neuen Eindrücken, die der vorerst letzte Blick in die Freiheit mit sich gebracht hatte. 6
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