1 Freitag, 10.06.2016 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs

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Freitag, 10.06.2016
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Dorothea Bossert
Über jede Kritik erhaben
Heinrich Isaac
Missa Virgo Prudentissima
Ensemble Gilles Binchois
Dominique Vellard
evidence EVCD023
Interessantes Repertoire
Max Reger
String chamber music
Erich Höbarth, violin, et al.
Tatjana Masurenko, viola, et al.
Peter Bruns, cello, et al.
QUERSTAND VKK 1517
Intensive Expressivität
Per Nørgård
Symphonies 2 & 6
Oslo Philharmonic Orchestra
John Storgårds
DACAPO 6.220645
Maßstabsetzend
Bruckner • Zemlinsky
String Quintets
Bartholdy Quintet
Avi Music 8553348
Eigenwillig und klug
„Zirkustänze“
Robert Schumann • Jörg Widmann
Luisa Imorde • piano
Ars Produktion ARS 38213
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … am Mikrophon ist Dorothea Bossert. – Wie
immer am Freitag können Sie hier in den kommenden 90 Minuten neue CDs kennenlernen.
Ausgewählt habe ich fünf Neueinspielungen, die ich insbesondere vom Repertoire her
interessant finde. Und zwar eine bisher unveröffentlichte Festmesse von Heinrich Isaac,
sechsstimmig und von großer Raffinesse und Klangpracht.
Dann habe ich hier eine dreiteilige CD-Box mit Kammermusik für Streicher von Max Reger,
in der sich manches Unbekannte findet. Außerdem eine Neueinspielung zweier Sinfonien
von Per Nørgård, einem dänischen Komponisten, der kürzlich durch den SiemensMusikpreis ins Rampenlicht der Klassikhörer gerückt wurde, bei uns aber bisher kaum
bekannt war.
Dazu eine Aufnahme, die die wenig bekannten Streichquintette von Anton Bruckner und
Alexander Zemlinsky nebeneinander stellt, und das in hoher interpretatorischer Qualität. Und
zum Schluss das Debut der jungen Pianistin Luisa Imorde, die sich was traut: Sie stellt
Klavierwerke von Robert Schumann nicht nur neben die des zeitgenössischen Komponisten
Jörg Widmann, sondern verzahnt sie auch ineinander. Ein originelles und eigenwilliges
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Konzept, mit dem sie sogar den anfangs skeptischen Komponisten Jörg Widmann überzeugt
hat.
Jetzt machen wir aber einen Sprung um 500 Jahre zurück, in das ausgehende Mittelalter, zu
unserer ersten CD mit der Marienmesse „Virgo prudentissima“ von Heinrich Isaac. Das
Ensemble Gilles Binchois hat sie aufgenommen – ein Ensemble, das auf Musik des
Mittelalters und der franko-flämischen Epoche spezialisiert ist. Es lebt von der Kompetenz
und jahrzehntelangen Erfahrung seines Leiters Dominique Vellard, der es 1979 gegründet
hat, und dem es über all die Jahre hinweg gelungen ist, das nur neunköpfige Ensemble
stimmlich jung zu halten. Hier als erste Kostprobe eine vierstimmige Motette von Heinrich
Isaac: „Gaudeamus omnes in Domino/Virgo Prudentissima“:
Heinrich Isaac: Virgo prudentissima, Motette
5‘35
Das Ensemble Gille Binchois war das mit einer Motette aus dem „Choralis Constantinus“ von
Heinrich Isaac, dem größten Motettenzyklus seiner Zeit, in dem er Propriumsgesänge für alle
Hochämter der kirchlichen Festtage komponiert hat. Schon allein mit diesem unvergleichlichen Kompendium geistlicher Vokalmusik hat sich Heinrich Isaac in die Annalen der
Musikgeschichte geschrieben. Darüber hinaus weiß man von etwa 50 Messkompositionen –
das ist enorm viel, weitaus mehr als seine Zeitgenossen Josquin Desprez oder Jacob
Obrecht geschrieben haben. 36 davon sind bis heute erhalten, als Aufnahmen verfügbar sind
aber nur einzelne, kaum eine Handvoll. Umso erfreulicher ist diese Einspielung, die die
ganze Pracht und Raffinesse der Isaacschen Kompositionskunst erlebbar macht,
durchhörbar und von instrumentaler Klarheit, als läse man in einer Partitur.
Schon bei der eben gehörten Motette zu Mariae Himmelfahrt konnte man wahrnehmen, wie
Isaac die Register der Singstimmen ganz bewusst gegeneinandersetzt, um klangfarbliche
Kontraste und Abwechslung in den Satz zu bringen, wie er mit unterschiedlichen
Dichtegraden arbeitet und dabei den einstimmigen Choral immer wieder durchschimmern
lässt.
Sehr viel deutlicher wird das noch in der eigentlichen Messe, die auch nach 500 Jahren noch
ganz unmittelbar und intuitiv auf den Hörer wirken kann. Was man als Nicht-Fachmann nicht
hört, aber aus dem sehr detaillierten und informativen Booklet erfährt, ist die stilistische
Vermischung von Isaacs franko-flämischer Herkunft und Ausbildung mit musikalischen
Stilelementen aus Oberitalien und Süddeutschland. Isaac war ein überaus gebildeter und
auch ungewöhnlich vielgereister Komponist, der eine Florentinerin heiratete und danach in
Diensten des deutsch-römischen Kaisers Maximilian war. Zeit seines Lebens unterhielt er
enge Verbindungen zwischen Florenz und Süddeutschland – und das können Eingeweihte
an seiner Musik hören. In die Messe „Virgo prudentissima“ zum Beispiel hat er
Choralmelodien eingebaut, wie sie in Florenz üblich waren, unterwirft sie aber melodischen
Varianten des Habsburger Hofes. Aber das sind, wie gesagt, Details – aus denen
Spezialisten schließen, dass diese Messe vielleicht für die Krönung Kaiser Maximilians zum
römisch-deutschen Kaiser in Rom gedacht gewesen sein könnte – diese Krönung in Rom
war mehrmals anberaumt, kam aber nie zustande, weil die Republik Venedig ihm den
Durchzug durch ihr Herrschaftsgebiet verweigert hatte. Und so wurde diese Messe dann
1507 zu Ehren von Philip dem Schönen uraufgeführt. Hier ist also das Kyrie, der große und
prächtige Kopfsatz, mit dem Ensemble Gilles Binchois.
Heinrich Isaac: Virgo Prudentissima, Kyrie
6‘10
Das Kyrie aus der Missa „Virgo prudentissima“ von Heinrich Isaac – das Ensemble Gilles
Binchois hat diese Messe aufgenommen und veröffentlicht sie in einer über jede Kritik
erhabenen Realisierung bei dem Label evidence.
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Vielleicht gibt es nächstes Jahr weitere Neuaufnahmen dieser großartigen Musik – denn
nächstes Jahr könnte die Musikwelt den 500. Todestag von Heinrich Isaac feiern – so wie sie
in diesem Jahr den 100. Todestag von Max Reger gefeiert hat. Dieses Reger-Jahr hat
allerdings keine allzu großen Wellen geschlagen in den Neuerscheinungen der CD-Kataloge.
Eleonore Büning hat ja vor einigen Wochen in dieser Sendereihe die Gesamteinspielung
seiner Orgelwerke von Bernhard Buttmann besprochen – ein Mammutprojekt zweifelsohne.
Die Besprechung der späten Chormotetten op. 110 mit Frieder Bernius und dem SWR
Vokalensemble versagen wir uns hier um der journalistischen Integrität willen – obwohl ich
sie (diese rein persönliche Bemerkung erlaube ich mir) für einen Glückfall halte.
Aber ich habe eine andere CD ausgemacht, die gerade erschienen ist: Max Regers
Kammermusik für Streicher auf drei CDs – mit Erich Höbarth, Tatjana Masurenko und Peter
Bruns. Neugierig, ob sie Überraschungen enthält, Unbekanntes vielleicht sogar, habe ich sei
gleich bestellt . Ganz knapp vor der Sendung kam sie hier an – und birgt tatsächlich
Überraschendes. Denn es handelt sich dabei nicht um eine Kammermusik-CD der drei
genannten und ja durchaus namhaften Solisten, sondern um die Dokumentation eines
Projekts der Musikhochschule Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Höbarth, Masurenko
und Bruns sind dort Professoren und haben mit Studierenden aus ihren Streicherklassen
bekannte und unbekannte Werke für Violine, Viola und Violoncello erarbeitet. In Konzertreihen haben sie sie unter dem Titel „Kennen Sie Reger?“ präsentiert und nun also auch als
CD verfügbar gemacht. Ein absolut löbliches Unterfangen, die jungen Musiker an unbekanntes Repertoire heranzuführen, an Werke, zu denen es keine Referenzeinspielungen gibt. In
Musik, die so ganz anders klingt, als man es erwartet. Aber wollen wir das als CD kaufen?
Vielleicht nicht, dachte sich wohl das Label QUERSTAND und hat die Namen der jungen
Musiker auf dem Cover kurzerhand unterschlagen. Erich Höbarth, Tatjana Masurenko, Peter
Bruns steht darauf – und, ach ja: et al. – das ist der dezente Verweis auf et alii: und andere.
Auf den Titelseiten der einzelnen CDs und im Booklet erfährt man dann zwar die Namen und
Biografien der jungen Leute, nicht aber den Hintergrund des Hochschulprojektes – und dass
sie noch im Studium sind, das muss man selbst im Internet recherchieren. Das ist ärgerlich,
denn die jungen Musiker können dafür nichts. Sie spielen die schwere Literatur mit großem
Engagement und auf einem bewundernswerten Niveau, alle Aufnahmen sind technisch gut
und sauber gespielt, viele auch musikalisch überzeugend, aber es sind Studierende, die
naturgemäß noch nicht das Format ihrer Professoren haben, deren Namen auf dem
Verkaufslabel prangen.
Dabei bietet diese Edition ein interessantes Repertoire. Drei CD sind es, jeweils eine mit
Sololiteratur für Violine, für Viola und für Violoncello. Für Solovioline finden sich Aufnahmen
der enorm anspruchsvollen Solosonaten op. 42 und op. 91, die bereits in mehreren
Aufnahmen verfügbar sind, dazu aber drei Duos op. 131b, die auch unter dem Namen Fugen
und Canons im alten Stil bekannt sind. Davon gab es bisher kaum Aufnahmen. Hier die
erste, Erich Höbarth spielt zusammen mit Sara Glombitza.
Max Reger: Duo für zwei Violinen, Sostenuto
1’00
Auf der CD mit Werken für Viola gibt es die drei Solosuiten zu hören, in durchaus reifen
Interpretationen der Studierenden, hier ein Höreindruck von Friedemann Hecker mit der
ersten Solosuite g-Moll op. 131d:
Max Reger: Suite g-Moll op. 131d, Nr. 1
2’00
Unbekanntes Repertoire bietet auch die CD mit Celloliteratur – zu hören gibt es hier vor
allem kurze Stücke von Max Reger: Arien, Capricen, kleine Romanzen und Albumblätter für
Violoncello, darunter auch drei bisher nicht verfügbare kleine Stücke nach eigenen Liedern
op. 103c für Cello und Klavier. Zum Beispiel dieses Stück mit dem schönen Titel
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„Herzenstausch“– es singt am Instrument Fermin Villanueva, Mizuki Waki begleitet am
Klavier.
Max Reger: Herzenstausch
...
0’50
Unbekannt sind auf dieser Celloplatte aber vor allem Werke von Julius Klengel, er war mit
Reger befreundeter Solocellist beim Gewandhausorchester und Professor an der
Musikhochschule Leipzig. Für ihn hat Reger seine Cellowerke geschrieben. Und er
komponierte auch selbst, darunter so rare Besetzungen wie eine kleine Suite für drei Celli
oder einen Hymnus für 12 Violoncelli, der an süffiger Cantabilität den späteren Werken für
diese Besetzung in nichts nachsteht.
Julius Klengel: Hymnus für 12 Violoncelli
1’50
Tatsächlich findet sich auf der Edition auch das Klaviertrio h-Moll op. 2, in dem Erich Höbarth
an der Violine, Tatjana Masurenko an der Viola und Alexander Schmalcz am Klavier zu
hören sind. Daraus jetzt noch einen Höreindruck aus dem anspruchsvollen Kopfsatz.
Max Reger: Trio h-Moll op. 2, 1. Satz
4’30
Erich Höbarth (Violine), Tatjana Masurenko (Viola) und Alexander Schmalcz (Klavier) waren
das mit dem Beginn des Klaviertrios h-Moll op. 2 von Max Reger.
Was soll man also sagen zu dieser Edition? Für den, der sich ein Bild von der Sololiteratur
für Streicher von Max Reger ein Bild machen will, ist diese Edition mit drei CDs zum Preis
von zusammen 30 Euro durchaus zu empfehlen. So kompakt ist diese Literatur sonst
nirgendwo zu finden – und die Studierenden dieses Reger-Projekts der Musikhochschule
Leipzig spielen durchweg auf einem hohen Niveau, auch wenn vielleicht der letzte
künstlerische Fingerabdruck, der letzte Kick an Virtuosität und Durchgestaltung hier noch
fehlt.
Für den aber, der sich mit dieser Edition gültige Einspielungen erhofft hat, die dem
Kammermusiker Max Reger endlich Recht und Geltung verschaffen, heißt es warten.
Vielleicht sind es eines Tages genau die jungen Musiker, die die Musikprofessoren Erich
Höbarth, Tatjana Masurenko und Peter Bruns hier mit Regers Musik in Berührung gebracht
haben, die uns in einigen Jahren den Kammermusiker Max Reger neu und ganz
überzeugend vorstellen.
Max Reger, String Chamber Music heißt die Edition, sie ist sowohl in drei Einzel-CDs als
auch als Dreier-Edition beim Label QUERSTAND.
Und damit kommen wir zur nächsten CD, die ich aus aktuellem Anlass in die Auswahl
einbezogen habe.
Als letzthin bekannt wurde, wer in diesem Jahr den Siemens Musikpreis erhält, der in der
Musik einen ähnlichen Stellenwert hat wie der Nobelpreis in der Wissenschaft, war das
Staunen groß. Per Nørgård! Der 84-jährige dänische Komponist war selbst vielen Kennern
der zeitgenössischen Musik kein Begriff – oder wenn, dann nur vom Namen her. Seine
Musik spielt hierzulande kaum eine Rolle.
Ganz offensichtlich: Das Stiftungskuratorium wollte das ändern und mit seinem Preis ein
Zeichen setzen: Es begründete seine Wahl: „Per Nørgård ist einer der originellsten
Komponisten des Nordens, dessen Werk doch weit über die skandinavischen Grenzen
hinaus von einzigartiger Bedeutung ist.“ In der Tat findet man eine überwältigende Vielzahl
seiner Werke auf CD – Opern, Sinfonien, Streichquartett, Klavierlieder, überhaupt
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Kammermusik aller Gattungen, Chorwerke. Fast alle sind von dänischen oder
skandinavischen Musikern eingespielt – und zeugen von einem beeindruckenden und
beeindruckend individuellen Komponisten, der nicht nur konsequent, sondern auch
hinreißend klangsensibel komponiert.
Gerade jetzt erscheinen wieder zwei seiner acht Sinfonien mit dem Oslo Philharmonic
Orchestra unter der Leitung von John Storgårds, der vielfach als Geiger und Dirigent mit Per
Nørgård zusammengearbeitet hat. – und das nehme ich zum Anlass für einen kurzen
Ausflug in ungewöhnliche Sinfonische Gefilde hier in Treffpunkt Klassik.
Per Nørgård bezeichnet seine Musik in einem Gespräch mit Kristin Amme „als Spaziergang
durch seine psychologischen Zustände“ – dabei ist es eine mathematische Idee, die seine
Kompositionen im Innersten zusammenhält: die Idee der unendlichen Reihe, einer
Motivzelle, die sukzessive ergänzt und verwandelt wird und dabei wächst, gedehnt
gestaucht, gespiegelt wird, sich verzweigt und weiterentwickelt, als wäre sie ein lebender
Organismus. Hier der letzte Satz seiner 6. Sinfonie „Am Ende des Tages“ von 1999. Allegro
energico ist er überschrieben, aber das charakterisiert nur den Anfang …
Per Nørgård: SinfonieNr. 6, 3. Satz
6‘45
Was für ein zarter, lakonischer Schluss für diese Sinfonie, die noch fünf Minuten vorher, zu
Beginn dieses dritten Satzes auf vollen Touren war. Ein Höreindruck von der sechsten
Sinfonie von Per Nørgård, dem diesjährigen Preisträger des Siemens Musikpreises, der als
Nobelpreis der klassischen Musik gilt. Sie hörten einen Ausschnitt aus der neu erschienenen
Aufnahme seiner Sinfonien Nr. 2 und 6 mit dem Oslo Philharmonic Orchestra unter der
Leitung von John Storgards. Eine Aufnahme, die mit großem Farbspektrum, sattem
Klangbild und intensiver Expressivität die organischen und leidenschaftlichen Qualitäten
dieser Musik zur Geltung bringt und dennoch von hoher Präzision und gläserner
Nüchternheit ist. Bei DACAPO ist sie erschienen und nimmt ein für diesen Unbekannten, der,
mit mehreren Grammys ausgezeichnet, in Skandinavien einer der Bekannten und ganz
Großen ist.
Bei diesem Stichwort: „Großer Unbekannter“ sind wir schon bei unserer nächsten CD – auf
der sich zwei große Unbekannte zusammen finden. Der eine – Anton Bruckner – kämpfte zu
Lebzeiten mit Verunglimpfungen seiner Zeitgenossen, insbesondere der Kritiker und
Rezensenten. Die Schlagworte vom „Hinterwäldler“, der „ungebildet, intellektuell unbedarft,
naiv, hilflos und einfältig“ sei, wirkten in den Köpfen noch lange nach, so dass es fast
100 Jahre dauerte, bis er in seinem Rang als der wichtigste Sinfoniker nach Beethoven
erkannt wurde.
Bei dem anderen – Alexander Zemlinksy – war es gerade umgekehrt: Er war zu Lebzeiten
ein Star, gefördert ausgerechnet von Johannes Brahms, der Anton Bruckner so hart verurteilt
hatte. Als Jude aber fiel er der nationalsozialistischen Kulturideologie zum Opfer, die seine
Bedeutung als Komponist so gründlich und nachdrücklich aus den Köpfen radierte, dass es
wiederum fast 100 Jahre dauern wird, bis er seinen Platz in der Musikgeschichte wieder
gefunden hat.
Diese beiden also treffen aufeinander auf der CD des Bartholdy Quintets, die jetzt
erschienen ist, und die die Streichquintette von Anton Bruckner und Alexander Zemlinsky
nebeneinanderstellt. Beide sind Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, 1879 das von Anton
Bruckner, 1896 das von Alexander Zemlinsky, beide sind Solitäre im Werkkatalog ihrer
Komponisten, und beide sind für das gleiche Quartett geschrieben, das HellmesbergerQuartett aus Wien. Damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf, denn die beiden
Quartette trennen Welten. Bruckner war 55, als er es schrieb, ein gestandener Symphoniker,
der seine an der großen Form entwickelten Kompositionsprinzipien auf die Kammermusik
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übertragen hat, das hatte sich übrigens sein Auftraggeber, der Geiger Hellmesberger,
ausdrücklich gewünscht. Hier der Beginn des ersten Satzes:
Anton Bruckner: Quintett WAB 112,1. Satz (Ausschnitt)
4‘20
Sie hören, es gibt keinen Grund, dieses Werk mit einem ganzen Streichorchester
aufzuführen, wie es immer wieder gemacht wird – häufiger fast als in der Originalbesetzung
für Streichquintett. Kompositorisch klar und klanglich sensibel, ist es vollwertige
Kammermusik – die einzige übrigens, die wir von Anton Bruckner haben. Jedenfalls, wenn
man sie so spielt wie das Bartholdy Quintet.
Dahinter verbergen sich gestandene Musiker, allesamt Professoren an deutschen
Musikhochschulen: Ulf Schneider, bekannt als Primarius des Trio Jean Paul, und die Solistin
Anke Dill (Violine), Volker Jacobsen, den viele als Bratscher des Artemis Quartetts kennen
werden, dazu Barbara Westphal und der Cellist Gustav Rivinius. Während es sonst eher
Streichquartette sind, die sich einen weiteren Bratscher als Gast suchen, wenn sie Quintette
spielen wollen, haben sich diese Musiker als festes Quintett zusammengetan und
konzertieren seit sieben Jahren. Erst jetzt, nach vielen Jahren gemeinsamer Konzertpraxis
haben sie die Quintettkompositionen von Anton Bruckner und Alexander Zemlinsky
aufgenommen. Sie bezeichnen diese Platte als ihre Debut-CD. Wirklich ein reifes Debut –
denn diese Aufnahme setzt Maßstäbe.
Diese Musiker kennen sich, hier ist niemand das fünfte Rad am Wagen. Absolut
ausgewogen in den Klangregistern bei Bruckner, perfekt aufeinander abgestimmte, virtuose
Agogik in dem Quintett von Zemlinsky, bei dem der rubatoverliebte Wiener Ton immer
wieder das Metrum ins Wanken bringt … Diese Aufnahme lohnt sich. Und darum spielen wir
das Quintett von Alexander Zemlinsky jetzt ganz. Zwei Sätze hat es und dauert 17 Minuten.
Alexander Zemlinsky: Streichquintett d-moll
17‘40
Hörbar eine Wiener Komposition. – Der 25-jährige Alexander Zemlinsky hat dieses Quintett
komponiert, 1896. Sie hörten eine Neueinspielung mit den Musikern Anke Dill und Ulf
Schneider (Violine) Barbara Westphal und Volker Jacobsen (Viola) und Gustav Rivinius
(Violoncello), die mit dieser Aufnahme ihr Debut als festes Streichquintett unter dem Namen
Mendelssohn-Quintett geben. Bei Avi ist dieser Silberling erschienen.
Und jetzt kommt zu guter Letzt noch ein Debut, dieses Mal aber ein Echtes. Luisa Imorde
heißt diese junge Frau, eine Pianistin, die sich etwas traut. 2015 hat sie im Berliner
Konzerthaus mit einem Solorezital debutiert und im selben Jahr in Salzburg mit der
österreichischen Erstaufführung zweier Klavierkonzerte von Elliott Carter aufgewartet. Das
ist kein leichter Stoff. Und jetzt kommt ihre erste CD heraus – mit dem einprägsamen Titel
„Zirkustänze“. Das ist der Titel einer Solosuite für Klavier von Jörg Widmann und zugleich die
Grundidee ihrer eigenwilligen Programmkonzeption. Denn Luisa Imorde ist offensichtlich klug
genug, um zu wissen, dass sie mit Robert Schumanns „Papillons“ als Debut-CD keinen
Hund hinter dem Ofen hervorlockt. Zu bekannt ist dieser Zyklus, zu viele gute Einspielungen
gibt es schon, als dass diese CD irgendeine Nachricht wert wäre. Wenn sie aber Robert
Schumanns Musik mit einer Ersteinspielung von Jörg Widmann verbindet, mit einer
zeitgenössischen Komposition, die klangvoll ist, virtuos und gut gemacht und sie in eine
schlüssige Beziehung zu Schumann bringt, dann sieht das schon ganz anders aus. Und
dann will man auch ihre Schumann-Interpretation hören.
Manege frei also, hier ist der Anfang der CD: die ersten drei Nummern von Schumanns
„Papillons“ op. 2, gespielt von Luisa Imorde:
Robert Schumann: „Papillons“ op. 2, 1., 2. und 3. Satz
2’20
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Ein schlanker, eleganter Schumann ist das, eher moderat in Tempo und Temperament,
leicht und luzide. Aber kann diese Pianistin auch zulangen und Kante zeigen? Kann sie; das
zeigt sich bei Jörg Widmanns „Zirkustänzen“, einer Klaviersuite, die er für Andras Schiff
geschrieben hat. In der Carnegie Hall hat der sie uraufgeführt, 2012 – aber eben nicht
eingespielt. Und so legt die junge Pianistin Luisa Imorde hier die erste Aufnahme dieses
Zyklus vor. Mit Furor und Sinn für das Groteske, Akrobatische, Zirzensische interpretiert sie
diese Musik, die zwar unterhaltsam zu hören, aber keineswegs leicht zu spielen ist.
Jörg Widmann: „Zirkustänze“, 1., 2. und 3. Satz
2’35
„Fanfaren“, „Boogie-Woogie“ und „erster Walzer“ sind diese ersten drei Sätze von Jörg
Widmanns Klaviersuite „Zirkustänze“ überschrieben. Insgesamt sind es 11 nach Art einer
Revue aneinandergereihte Musiknummern, die ironisch gebrochen oder doppelbödig, sich in
schwungvolle, sentimentale und exotische Kostüme hüllen oder ihren derben Spass mit dem
Clownskostüm legitimieren. Wie hier im finalen „Bayerisch-Babylonischen Marsch“, der der
jungen Pianistin nun doch zu schaffen macht:
Jörg Widmann: „Zirkustänze“, 11. Satz
0‘50
Besser liegen Luisa Imorde da die „Elf Humoresken“ von Jörg Widmann, die sie im Mittelteil
der CD mit einer eigenen Auswahl von Werken Robert Schumanns kombiniert. Zuerst hat
Jörg Widmann sich dagegen gewehrt, hat argumentiert, dass sie dadurch zwei Ruinen
schaffe. Aber sie hat nicht aufgegeben und ihn davon überzeugt, dass die Bezüge tragen,
selbst wenn sie ihm als Komponist nicht bewusst waren. Ein im Booklet abgedruckter Dialog
zwischen ihr und dem Komponisten gibt darüber Aufschluss. Er hat schließlich
nachgegeben, weil sie ihn überzeugt hat mit ihrem Konzept, für das sie an jeder Stelle gute
Argumente hatte. Hier der Beginn der eigenwilligen Widmann-Schumann Collage von Luisa
Imorde:
Jörg Widmann: Elf Humoresken, Nr. 1: Kinderlied
Robert Schumann: Kinderszenen op. 15, Fast zu ernst
Jörg Widmann: Elf Humoresken, Nr. 2, Fast zu ernst
3‘45
1‘25
0‘55
Das war die Debut-CD der jungen Pianistin Luisa Imorde, die Werke von Robert Schumann
gekonnt in Beziehung setzt zu den Zirkustänzen und den elf Humoresken von Jörg
Widmann. Nicht alles gelingt ihr gleich gut auf dieser CD, und ohne Zweifel liegt ihr das
luzide, elegant-Virtuose oder feinsinnig ironisch Gebrochene besser als Stücke, die derbklotzig Bajuwarische Pratzen heraufbeschwören. Aber merken sollte man sich den Namen
dieser klugen und mutigen jungen Frau unbedingt. Luisa Imorde heißt sie, „Zirkustänze“
heißt ihre CD und ist bei dem Label Ars Produktion erschienen.
Und damit sind wir am Ende von Treffpunkt Klassik. Am Mikrophon war Dorothea Bossert.