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Der Hummerskorpion
Nichts, wirklich gar nichts, gab es zu kaufen, was ich hätte trinken können. Keine Limonade, kein Mineralwasser, kein Bier.
Weder die Coca-Cola-GmbH noch eine andere Getränkefirma
belieferte das Gebiet. Nicht einmal ein Teeverkäufer ließ sich auf
dem Marktplatz blicken. Nirgends ein Wasserhahn oder auch nur
ein gefüllter Eimer oder eine Schale mit irgendeiner trinkbaren
Flüssigkeit. Mein Hals war trocken und eng. Ich entdeckte ein
Restaurantschild vor einer Hauswand, ging hinein und fragte
nach einer Kanne Tee. Der Besitzer sah mich an, ohne ein Wort
zu sagen. Als er seine Überraschung überwunden hatte, ließ er
sich die Antwort einfallen, das Restaurant sei geschlossen. Seine
Augen kniff er sorgenvoll zu. Das Personal schlafe, ergänzte er,
und es sei nicht die Zeit für Tee. Ich bettelte um Wasser. Ich sei
bereit, großzügig dafür zu zahlen. Der Besitzer seufzte und
brachte mir eine Schale Wasser. Es hatte die Farbe des helleren
Flusswassers, etwa so hell, wie das Wasser, das auf dem Dampfer zum Essen serviert wurde. Dort hatte ich das Wasser nicht
angerührt, solange es Getränke in Flaschen gab. Nun trank ich
das, was der Mann mir anbot, in großen Schlucken, so hastig,
dass es mir aus beiden Mundwinkeln tropfte. Der Mann nahm
mein Geld nicht an. Mein Durst war noch längst nicht gelöscht,
aber ich wollte nicht unbescheiden sein. Auf der Straße suchte
ich nach einem weiteren Restaurant, fand aber keines.
Bald entdeckte ich auf einem kleinen Hügel die katholische Mission. Am Ende der leichten Steigung standen rechts und links
des Weges zwei schlanke, wie von Menschenhand errichtete
Pfähle. Beim Näherkommen erwiesen sie sich als Termitenbauten, die eine Pforte bildeten. Die Mission dominierte den Platz –
die Kirche stand auf dem höchsten Punkt des Hügels, neben ihr
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mehrere flache Gebäude. Afrikaner mit den gleichen hellblauen
Hemden liefen über den Platz. Ich sprach einen von ihnen an,
ob mir die Mission für die kommende Nacht ein Bett zur Verfügung stellen könne. Ich müsse mit einem der Brüder sprechen,
meinte der Mann. Ein geschäftig wirkender Weißer kam aus einem Haus, ging schnurstracks auf ein anderes Gebäude zu. Ich
schnitt ihm den Weg ab und trug ihm mit wenigen Worten mein
Anliegen vor. Der Geistliche händigte mir mit gequälter Miene
einen prallen Schlüsselbund aus. Ich solle ausprobieren, welcher
Schlüssel auf eine der Türen passe. Er zeigte auf eine langgestreckte flache Baracke mit vielen Türen. Sie waren mit Vorhängeschlössern versehen.
Ich fand einen passenden Schlüssel. Eine Zelle von höchstens
zwei Quadratmetern. An den Wänden saßen mehrere Eidechsen,
mit und ohne Schwanz. Nie gesehene Arten, bleiche, schuppige,
blaugrüne und sogar eine mit drei Hörnern. Ein waagerechtes
Holzbrett war mit eingetrocknetem Echsenkot zugekleistert. Auf
diesem Brett sollte ich heute Nacht schlafen. Mit einem Stock,
den ich außerhalb der Zelle fand, kratzte ich die höchsten Erhebungen des Echsenkots ab, pustete den Staub weg und probierte, wie ich auf dem Brett liegen würde. Hart. Da half es wenig,
mir mein einziges Buch als Kopfkissen zurechtzulegen. Mir fehlte
alles, Matratze, Bettwäsche, oder zumindest mein Schlafsack. Der
Bruder, der mir missmutig den Schlüsselbund gegeben hatte,
machte nicht den Eindruck, als wolle er mir Bettzeug ausleihen.
Nach und nach entdeckte ich immer mehr Eidechsen, die den
Schatten der Zelle suchten. Das Strohdach wurde von Holzbalken getragen. Die Lücken dazwischen sorgten für gute Belüftung, erlaubten aber allen möglichen Tieren, in die Zelle einzudringen. Auf dem Rücken liegend behielt ich eine Weile die
Konstruktion des Strohdachs im Blick, das zahlreichen Reptilien
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und Insekten Schlupfwinkel bot. Mein Insektenspray wollte ich
nicht einsetzen, um bei meiner Rückkehr den Boden nicht mit
einer Schicht toter Echsen, Spinnen, Käfern bedeckt vorzufinden.
Ich raffte mich auf, um dem unfreundlichen Ordensbruder die
restlichen Schlüssel zurückzugeben und nach einem Ort zu suchen, an dem ich mich aufhalten konnte, bis es unvermeidlich
wurde, mein karges Nachtquartier zu beziehen. Möglicherweise
würde sich ja das Versprechen des Mannes am Flughafen von
Kisangani, mir mein verlorenes Gepäck nach Lisala nachzusenden, erfüllen. Dann hätte ich für die Nacht meinen Schlafsack.
Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zum Flughafen und hoffte,
dort auch etwas zu trinken kaufen zu können.
Ich liege auf meinem harten Lager in der Zelle. Es ist stockfinster. Sicher wurden in den Zellen früher – oder werden immer
noch? – schwer zu missionierenden Heiden eingesperrt, Aufsässige, Respektlose. Kein Strom, nicht einmal eine Kerze befindet
sich im Raum, und ich hätte auch nicht gewusst, wo ich mir
Streichhölzer hätte besorgen können. Der Raum hat kein Fenster,
das etwas vom Sternenlicht hineinlassen würde. Von meinem
Spaziergang habe ich die satten Farben vor Augen. Die von der
untergehenden Sonne angeleuchteten Kronen der Schirmakazien.
Die Spiegelungen des orangenen Himmels auf dem breiten Kongo-Fluss mit treibenden schwarzen Inseln und schlanken Einbäumen, aus denen anmutige Silhouetten spitz zulaufende Ruder
in die sanfte Strömung tauchen. Das Aufscheinen der ersten Planeten nahe der Sonne und wenig später ein gepunkteter Himmel, der sein Licht über das breite Tal versprüht. Nichts davon,
außer den in meinem Kopf gespeicherten Bildern, findet Einlass
in den düsteren Kerker. Der sanfte Fluss der Bilder wird jäh unterbrochen durch ein Rascheln neben meinem Kopf. Ich rücke
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ein Stück von der Stelle weg, an der meine Ohren das Tier ausmachen. Ich versuche nicht in Panik zu geraten, die elf Stunden
bis zur Morgendämmerung auszuharren, wachsam, aber mich
zugleich etwas zu entspannen für die Anstrengungen des morgigen Tags. Eine Hängematte draußen zwischen den Bäumen wäre
jetzt etwas Wunderbares. Mich in ihr einrollen und sanft schaukelnd die Bilder meines Spaziergangs an mir vorüberziehen lassen. Eine zweimotorige Maschine, die bei der Landung roten
Staub aufwirbelt. Der Chef de Trafic, der auf mich zuschreitet,
um mich zu begrüßen, denn ein Weißer, der von Lisala zu Fuß
kam, war eine größere Sensation als die Landung eines Flugzeugs. Aber mit meinem Gepäck konnte er mir nicht weiterhelfen. Die einzige Maschine aus Kisangani, die in den letzten drei
Tagen hier gelandet war, hatte meine Sachen nicht dabei. Und
die, die soeben gelandet war? Die kam aus Gemena und flog
auch gleich wieder dorthin zurück. Ich horchte auf. Gemena lag
auf halbem Weg nach Bangui, die Richtung, in die ich wollte. Ob
der Pilot mich nicht mitnehmen könne? Unmöglich, meinte der
Chef de Trafic, freundlich aber bestimmt. Die Maschine dürfe nur
Waren befördern. Gern hätte ich mit dem Piloten selbst gesprochen, überzeugt, dass nichts unmöglich war, wenn man nur
richtig verhandelte. Aber der Chef ließ mich nicht auf die Piste,
und der Pilot verließ sein Flugzeug nicht, während Arbeiter der
Frachtraum ausluden. Mit Geld wäre alles einfach gewesen, ich
wäre jetzt in Gemena statt in dieser Gefangenenzelle. Aber mit
Geld kann ich nicht dienen.
Es fühlt sich an, als kröchen Termiten in meinen Hosenbeinen
hoch. Ich habe die Beine angewinkelt und versuche die Tiere
abzuschütteln. Die Rückenlage ist unbequem, die Wirbelsäule
drückt hart gegen das raue Holz. Aber auf der Seite zu liegen
schmerzt an den Hüftknochen und der Schulter. Ein kleines Fett-
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polster, wie es viele der afrikanischen Frauen haben, wäre jetzt
gut.
Aus der Ferne klingen Gesang und Trommeln zu mir. Aus der
entgegengesetzten Richtung ein Heulen, das von einer Hyäne
stammen könnte – so hört es sich an. Rund um die Baracke tönen Zikaden, Frösche und ich weiß nicht was noch. Ruckartig
bewegt sich ein Tier über den Boden. Einige Sekunden bleibt es
inmitten meiner Zelle sitzen und huscht dann in die Ecke, die
von meinem Bett am weitesten entfernt ist, aber immer noch nah
genug. Eine Ratte? Ich liege stocksteif. Die Generatoren der Mission sind längst abgeschaltet, sodass auch draußen alle Lampen
erloschen sind und nicht der geringste Lichtschein durch den
Spalt unter der Tür oder durch die Zwischenräume unter dem
Strohdach einfällt. Wenigstens ein Feuerzeug oder Streichhölzer
hätte ich im Handgepäck behalten sollen, bevor ich meinen
Rucksack seinem aviatorischen Schicksal überließ. Ich traue mich
nicht aufzustehen, um draußen nach einem Platz zu suchen, an
dem sich meine Umgebung besser kontrollieren lässt. Wenn es
eine Ratte ist, die sich in den hintersten Winkel meiner Zelle
verkrochen hat, ist sie womöglich auf der Flucht vor einer
Schlange, die ihr bald durch den Spalt unter der Tür folgen wird.
Der Spalt ist selbst für solche Würger breit genug, die ein Kaninchen unverdaut in ihrem Magen mit sich schleppen. Da kriecht
etwas über den Boden. Langsam nähert sich das schleifende Geräusch dem Bett. Ich liege reglos und horche. Wenn die Schlange über mich kröche. Aus meinen Büchern weiß ich, dass es
lebensrettend sein kann, sich tot zu stellen und die Schlange über sich hinwegkriechen zu lassen. Besitze ich so viel Selbstbeherrschung, selbst dann reglos zu bleiben, wenn ihre gespaltene
Zunge meine Augenlider, meine Ohrmuscheln, meine Lippen
leckt? Ich schüttele mich, ohne es zu wollen. Auf meinem Arm
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landet ein Tier. Ich zucke zusammen und schlage mit einem kurzen Aufschrei reflexartig auf die Stelle, wo das Insekt sitzen
müsste, erwische es aber nicht. Den Schlangentest würde ich
niemals bestehen. Das Kriechen ist nun an der Wand zu hören.
Keine Schlange dürfte in der Lage sein, eine Wand senkrecht
empor zu klettern. Aber ebenso wenig klingt es nach den Bewegungen einer Eidechse. Kein Huschen, vielmehr ein kontinuierliches langsames Kriechen. Es nähert sich stetig. Das Tier schleppt
sich nicht senkrecht die Wand hoch, sondern schräg auf eine
Stelle unmittelbar über meinen Kopf zu. Ich hätte das Bett ein
Stück abzurücken sollen, solange es hell war. Aber dazu ist es
nun zu spät, und ich will lieber davon ausgehen, dass mein Bett
unverrückbar mit der Wand verbunden ist. Das Kriechtier befindet sich jetzt hoch über meinem Kopf und scheint auf einen der
Dachbalken überwechseln zu wollen. Plötzlich bin ich mir sicher, dass es sich um einen Skorpion handelt. Ein Riesenexemplar. Mit den Maßen des Drei-Kilo-Hummers, den ich in
Mombasa verspeist hatte. Der Hummerskorpion befindet sich
nun senkrecht über mir zwischen Kopf und Brust. Unwillkürlich
lege ich eine Hand auf meinen Hals, fühle die Stoppeln von
fünf-Tage-nicht-rasieren. Gehört es zu den Kampftechniken von
Skorpionen, sich aus anderthalb bis zwei Metern auf seine Opfer
zu stürzen? Den tödlichen Stachel voran, der sich tief in die Brust
seines Opfers bohrt? In meine. Aber auch wenn nicht, könnte
das ungelenke Schalentier vom Balken abrutschen und auf mich
fallen. Ich drehe mein Gesicht zur Seite. Schweiß läuft aus allen
Poren. Von Innen wird mein Körper von rhythmischen Schlägen
gestoßen. Mein Herz arbeitet wie ein Blasebalg. Mit einem Ohr
auf dem Holz dröhnt die Resonanz meines harten Bettes in mir
nach. Meine Knochen zittern. Auf dem Spaziergang hätte ich
nicht das trübe Wasser trinken sollen, in dem ich das Würmchen
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schwimmen sah. Die Krankheit kündigt sich mit den Trompeten
des Jüngsten Gerichts an.
Schlagartig weicht die Schwüle meiner stickigen Kammer einer
schon lange nicht mehr erlebten Kälte. Die Wände wackeln von
den langsamen, gewaltigen Bewegungen des Spinnentiers. Oder
kommt mir das nur so vor, weil ich selbst so stark geschüttelt
werde? Das Strohdach flattert. Frische Windböen wehen über die
Baracke. Der Temperaturwechsel ist keine Täuschung, die mir
mein kranker Körper vorgaukelt, sondern eindeutig in einem
Wetterumschwung begründet. Ein Windstoß fährt unter der Tür
her und drückt eine Staubwolke in die Kammer. Einige kleinere
Tiere flüchten in alle Richtungen. Ein Schlag von unten droht das
Dach abzuheben. Krachend setzt es wieder auf, Sandkörner und
Halme rieseln auf mich herab, und ich fürchte, dass sich nun
auch der schwere Skorpion nicht länger auf seinem Schwebebalken zu halten vermag. Ich presse das Gesicht gegen die Holzplatte, Augen und Mund fest zugekniffen. Regen prasselt aufs
Strohdach und wird im Nu so heftig, dass vor der Tür die Wassermassen wie schwere Gegenstände in die Pfützen einschlagen,
die sich in Nullkommanichts gebildet haben. Vom Dach fallen
Lehmklumpen oder zusammengrollte Spinnen auf mich. Oder
kleine Skorpione. Doch ihr König, der Vater aller Skorpione, hält
sich noch, wartet ab, bevor er zum tödlichen Schlag ansetzt.
Meine Haut ist nass; die Nässe kommt aus dem Körper heraus,
nicht von Außen. Der Regen zieht weiter, ebenso rasch wie er
über das Haus hergefallen ist. Er lässt eine klare, kühle Luft zurück. Ich schlage die Augen auf. Die Konturen meiner Gefängniszelle zeichnen sich im Licht des anbrechenden Morgens ab.
Ich drehe mich vorsichtig auf den Rücken. Alle Glieder schmerzen, aber der Alptraum ist vorbei. Ich winkele meine Beine an,
strecke die Arme aus, bewege den Kopf, schaue mich um. Auf
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den weiß gekalkten Wänden sitzen zahlreiche Echsen, starr und
kalt, als hätten sie sich seit tausend Jahren nicht bewegt. Auf
dem Balken über mir suche ich nach dem gigantischen Kriechtier. Es hat sich zurückgezogen. Was immer dort gesessen haben
mochte, hält sich bereits wieder in irgendeiner Spalte oder Ritze
verborgen, unsichtbar für die Welt. Ich richte meinen Oberkörper auf und setze mich auf die Kante des Holzbretts. Unter der
Tür her ist ein Rinnsal in den Raum gelaufen, das schnell verdunstet. Ich stehe auf und öffne die Tür. Der erste Tag nach der
Schöpfung, oder zumindest der erste Tag nach der Sintflut, liegt
vor mir. Das weite Tal des Kongo-Flusses. Nebelschwaden über
dem dichten Wald am anderen Ufer, aus dem die knorrigen Arme einiger Urwaldriesen fuchtelnd herausragen. Über den Hof
der Mission wandelt einer der Ordensbrüder. Ich gehe zu ihm
und frage, wo es eine Möglichkeit gibt, sich zu waschen. Der
Geistliche lässt mich einen Moment warten und bringt mir einen
Eimer mit halbwegs klarem Wasser. Es ist ein herrlicher, unverdorbener Morgen, dessen Unschuld noch mindestens eine Stunde anhalten wird.
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