faulheit & arbeit In der Résistance Sonnabend/Sonntag, 11./12. Juni 2016, Nr. 134 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Lenin 1916: Das 20. Jahrhundert ist der Wendepunkt von der Herrschaft des Kapitals schlechthin zu der des Finanzkapitals DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann gibt sich EU-kritisch. Seine Problemanalyse geht am Kern vorbei. Von Arnold Schölzel Reise mit Hindernissen: »Die Kraft der Schwachen« über den Kubaner Jorge Jeréz auf US-Tournee. Von Natalie Benelli Nix da mit Chillen: Ein Lob des frühen Beginnens. Über Urlaub, Arbeit, Faulenzen und Schuften. Von Peter Wawerzinek A »Gegen Neofaschismus hilft nur Aufklärung« Erhard Stenzel Gespräch Mit Erhard Stenzel. Über seinen Weg in die Résistance, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich und seinen Neustart in der DDR … wurde im Februar 1925 in Freiberg/ Sachsen geboren. Als die Nazis ihn zur Wehrmacht verpflichteten, war er 17 Jahre alt. Mit 18 Jahren desertierte er, als sich ihm die erste Gelegenheit bot. Denn für Nazideutschland wollte er nicht kämpfen, wollte sich lieber in Gefangenschaft begeben. Aber es kam anders ... Ein Gespräch mit Erhard Stenzel: Über seinen Weg in den antifaschistischen Widerstand in Frankreich, die Befreiung von Paris, seinen Neustart in der DDR und Aufklärung als Waffe. Außerdem: Ein Lob des frühen Aufstehens von Peter Wawerzinek CHRISTIAN-DITSCH.DE ls das Land Brandenburg Sie während einer Feierstunde am 22. April für besondere Verdienste ehrte, erhielten Sie sehr viel Beifall. Ihre Biographie ist geprägt von Ihrem antifaschistischen Engagement. Wann und wie wurden Sie zum Antifaschisten? Das kann ich ganz genau sagen. Es war am 2. Mai 1933 in Freiberg in Sachsen, als die Nazis meinen Vater in den frühen Morgenstunden abholten. Ich sah als achtjähriges Kind mit an, wie mein Vater die Treppe hinuntergestoßen und in einen LKW gedrängt wurde. Damit setzten die Nazis ihr Verbot der Gewerkschaften in die Tat um: Mein Vater war Kommunist, Metallarbeiter und in der Gewerkschaft aktiv. Meine Mutter, die Textilarbeiterin war, hatte es nun besonders schwer; aber die klare antifaschistische Linie galt weiterhin. Der Wehrmacht allerdings konnten Sie nicht entgehen, als Sie im sogenannten wehrfähigen Alter waren. Die Wehrmacht verpflichtete mich im Sommer 1942. Da war ich siebzehn. Mein Beschluss stand von Anfang an fest, nämlich dass ich für die Nazis nicht Krieg führen würde. In Norwegen, wohin die faschistische Armee mich nach der Ausbildung zuerst schickte, ging es ruhig zu, aber desertieren konnte ich nicht, denn die schwedische Miliz hat damals Überläufer an die Deutschen ausgeliefert. Im Oktober 1943 wurde mein Regiment nach Frankreich verlegt. Damals hielten die Deutschen schon fast ein Jahr lang das ganze Land besetzt. Aber die Widerstandsbewegung, die »Résistance«, wehrte sich. Außerdem bereiteten die Briten und Amerikaner die zweite Front in Nordfrankreich vor. Also schickten die deutschen Militärs Verstärkung nach Nordfrankreich. Wir waren in Rouen stationiert, einer Stadt von mehr als 100.000 Einwohnern. Von der Stadt sahen wir nicht viel; regelmäßigen Ausgang hatten nur die Offiziere. Aber wir konnten die zivilen Dienste der Bevölkerung nutzen. So ging ich zu einem Schuster, um meine Stiefel reparieren zu lassen. Der Schuster stammte aus dem Elsass und sprach perfekt deutsch. Zuerst redeten wir nur über belanglose Dinge. Dann fragte er mich, wie mir Frankreich gefalle. Ich antwortete ausweichend, erzählte aber irgendwann von meinem Vater. War das nicht ein Risiko? Hätten die Fragen des Mannes nicht auch eine Provokation sein können? Ja, das hätte sein können. Aber ich hatte Vertrauen zu ihm. Er sagte dann auch bei meinem zweiten Besuch: »Wenn du mal Schwierigkeiten hast, kannst du jederzeit zu mir kommen.« Um die Jahreswende 1943/44 gab es endlich die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte: Ich kommandierte zwei Soldaten, die etwas jünger waren als ich. Wir hatten Streife von 22 bis zwei Uhr. Als wir von der Wohnung des Schusters nur ein paar Straßen weit entfernt waren, so ungefähr um Mitternacht, stellte ich mich den beiden Soldaten entgegen und sagte: »Ich haue jetzt ab. Ihr könnt mitkommen, euch in Gefangenschaft begeben; dann ist der Krieg für euch vorbei.« Die beiden waren ganz überrascht. Sie waren ja noch nicht lange im Krieg, waren unerfahren und glaubten an den Endsieg. Aber sie waren zwei, und Sie waren einer. Als ihr Vorgesetzter hatte ich eine Maschinenpistole und sie nur je einen Kan Fortsetzung auf Seite zwei ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SA/SO, 11./12. JUNI 2016 · NR. 134 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Vor Gericht Auf Konfrontation Im Osten Unter Barbaren 3 7 11 12 Rechte »Oldschool Society« plante Anschläge, um sie »Ausländern in die Schuhe zu schieben« Von wegen Schluss: NATO stoppt Truppenabbau in Afghanistan und weitet Einsatzaufgaben aus Gern in der DDR: Eine Graphic Novel Sprachkritik, Zeitkritik: Ein Text von über mosambikanische VertragsKarl Kraus von 1916 aus arbeiter. Von Alexander Reich Anlass seines 80. Todestags Die EM wird schmutzig CETA: EU will Parlamente ausbooten OLIVIER HOSLET/DPA-BILDFUNK Rudelbildung in Paris: Die Müllabfuhr streikt. Aus der Bevölkerung kommen Beifall und Spenden. Von Hansgeorg Hermann, Paris D Brüssel. Die EU-Kommission will zwei Insidern zufolge das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente beschließen lassen. Damit würden die Parlamente der 28 Mitgliedsländer nicht mit der Sache befasst, sondern nur das EUParlament. Der bereits ausverhandelte Vertrag soll im Oktober unterzeichnet werden. CETA gilt als Blaupause für den TTIP-Vertrag mit den USA. Beide werden von großen Teilen der europäischen Bevölkerung abgelehnt. Zuletzt demonstrierten im April in Hannover 90.000 Menschen gegen die Abkommen. Ein weiterer bundesweiter Aktionstag ist für den 17. September geplant. (Reuters/jW) CHARLES PLATIAU/REUTERS er Widerstand gegen das geplante neue Arbeitsgesetz in Frankreich hat eine neue Qualität erreicht: Statt im amtlich verordneten Freudentaumel über die Fußballeuropameisterschaft im eigenen Land zu versinken, ersticken die Bewohner der reichen Quartiere von Paris im Dreck. Die vor allem aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien Frankreichs stammenden Arbeiter der städtischen Müllabfuhr haben ihren Dienst an der Wohlstandsgesellschaft vorerst eingestellt. In jenen Vierteln, die für das wichtigste Geschäft der Hauptstadt, den Tourismus, von größter Bedeutung sind, türmt sich seit Tagen der Abfall auf. Die Mehrheit der Franzosen unterstützt dennoch nach wie vor die von der Gewerkschaft CGT angeführten Streiks. In nur einer Woche, berichtete am Donnerstag die Historikerin Sophie Wahnich, seien in den Solidaritätsfonds für die Streikenden knapp 150.000 Euro in bar eingezahlt worden. Dazu kämen mehr als 16.000 Euro in Schecks. Wahnich ist in einer Bürgerinitiative engagiert, die zum Protest gegen das Arbeitsgesetz aufruft. Wie sie versicherte, werde der Widerstand, der in der Öffentlichkeit in erster Linie als Streik bei den Verkehrsbetrieben, den Energieversorgern und jetzt der Müllabfuhr wahrgenommen werde, auch von einer deutlichen Mehrheit der Intellektuellen des Landes getragen. Zu denen zählen sich die sozialdemokratische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, und ihr Stellvertreter Bruno Julliard offenbar nicht. Letzterer fürchtet wegen des »Unrats in manchen Arrondissements« schwere Imageschäden für die Stadt an der Seine, gerade jetzt, da die große Fußballsause franzö- C'est la vie: Den Arbeitern der Müllabfuhr stinken die Pläne für das neue Arbeitsrecht gewaltig. Also patrouilliert die Armee im Abfall – wie hier am Donnerstag in der Pariser Innenstadt sischen und internationalen Unternehmern – nicht dem Staat – Hunderte Millionen Euro in die Kassen spülen soll. »Außerdem gibt es langsam Überdruss bei unseren Mitbürgern«, sagt Julliard, jenen widersprechend, die ihre Bürgerpflicht eher darin sehen, den Lohnabhängigen bei ihrem nun seit Wochen anhaltenden Kampf beizustehen. Die Stadtoberhäupter denken dabei nicht nur an den Fußball, sondern auch an die Olympischen Spiele. Paris will in acht Jahren Gastgeber sein, und Widerstand gegen unternehmerfreundliche Gesetze ist das letzte, was sich multinationale Sponsoren für die größte aller Sportshows wünschen. Die Regierung von Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls scheint inzwischen etwas für den herbeigesehnten »sozialen Frieden« tun zu wollen. Wie Pariser Tageszeitungen am Freitag meldeten, habe Arbeitsministerin Myriam El Khomri den CGT-Generalsekretär Philippe Martinez für die kommende Woche zum Gespräch gebeten. Darin soll es dann den Berichten zufolge darum gehen, »bestimmte Artikel, die in diesem Gesetz problematisch sind, noch einmal zu diskutieren«. Nicht mehr unabdingbar sei für die CGT die bisher geforderte komplette Rücknahme des »Code du travail«. Martinez habe sich Siehe Seite 4 mit seinen Kollegen und den Streikführern statt dessen auf eine neue Sprachregelung verständigt – es komme nun darauf an, dem Regierungsprojekt »das Rückgrat zu brechen«. Mit »Rückgrat« ist der Artikel 2 des Gesetzes gemeint, der Zeitverträge, Billiglöhne und problemlose Entlassungen ermöglichen soll. Unabhängig von Verhandlungen mit El Khomri oder gar Valls haben die Gewerkschaftsdachverbände CGT und Force Ouvrière (FO) für den kommenden Dienstag zu einem neuen »Tag des Widerstands« aufgerufen. Die »Équipe tricolore«, Frankreichs Fußballnationalmannschaft, hat an diesem Tag spielfrei. Bundeswehr rüstet gegen Russland Wunschliste: Brückenlegepanzer, Funkgeräte, Minenleger D ie Bundeswehr bereitet sich weiter auf einen möglichen Krieg der NATO gegen Russland vor. »Wegen der geänderten Bedrohungslage« braucht das deutsche Militär in den nächsten Jahren neue Brückenlegepanzer, modernere Funkgeräte sowie Ausrüstung zum Verlegen von Minensperren. Außerdem sollen rund 600 Soldaten in das an Russland grenzende Litauen entsandt werden. Insgesamt sind Kosten in Höhe etlicher Milliarden Euro zu erwarten. Teuerster und bereits von der Bundesregierung akzeptierter Posten in der Wunschliste der Generalität sind die Funkgeräte. Der Austausch werde sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen, erläuterte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Jörg Vollmer, am Donnerstag abend in Berlin. Außerdem würden 31 neue Brückenlegepanzer benötigt, mit deren Hilfe Flussläufe schneller überwunden werden können. Die gewünschten Panzer vom Typ »Leguan« werden von Krauss-Maffei Wegmann produziert. Zum Verlegen von Minen verfüge die Bundeswehr zwar schon über Fahrzeuge – die seien aber seit Jahren eingemottet. Sie müssten »reaktiviert« werden, hieß es. Zu den neuen Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Planung gehört auch die Stationierung eines Bataillons in Litauen. Deutschland habe sich für dieses Land entschieden, weil es schon Kontakte zu dessen Streitkräften gebe, sagte Vollmer. Zum Beispiel seien Litauer an der »Panzerhaubitze 2000« ausgebildet worden. Die NATO stellt ihren Truppenaufmarsch als Reaktion darauf dar, dass Russland die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer »annektiert« habe. Bei einem NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau soll unter anderem beschlossen werden, dass jeweils ein Bataillon aus Ländern des Bündnisses rotierend in Litauen, Lettland, Estland und Polen stationiert wird. Nicht nur die Aufrüstungspläne der Bundeswehr verschlingen Unsummen: Wie am Freitag bekanntwurde, hat die Bundeswehr während ihres 15jährigen Einsatzes in Afghanistan knapp eine halbe Milliarde Euro für heute nicht mehr benötigte Feldlager, Flugplätze und andere Einrichtungen verpulvert. Peter Wolter (mit dpa und AFP) Siehe Seite 8 Vorerst gibt es kein Lobbyistenregister Berlin. Die Einführung eines verbindlichen Lobbyistenregisters bei Bundesregierung und Bundestag ist vorerst vom Tisch. Mit der Mehrheit der großen Koalition stimmte der Bundestag am Freitag gegen entsprechende Forderungen von Linken und Grünen. Der Justitiar der Unionsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU), warnte vor einer »Diskriminierung und Stigmatisierung« von Interessenvertretern. Das Vorbringen und Anhören von Partikularinteressen dürfe nicht »kriminalisiert« werden. Zusätzlich zu der kürzlich veröffentlichten Liste von Verbänden, die Hausausweise für den Bundestag besitzen, fordern die Oppositionsfraktionen eine öffentlich zugängliche Datenbank. Sie soll alle Interessenvertreter im Bereich von Parlament und Regierung aufführen. (dpa/jW) wird herausgegeben von 1.841 Genossinnen und Genossen (Stand 2.6.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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