Bibliothek des Wissens Richard Sennett Respekt im Zeitalter der Ungleichheit Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff Mit e inem Beitrag der ZEIT-Redaktion Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG Lizenzausgabe des Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg, für die »ZEIT Bibliothek des Wissens« 2016 Originaltitel: Respect in a World of Unequality Copyright © 2003 by Richard Sennett. All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form. © der deutschen Übersetzung: 2002 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin ZEIT-Beitrag: © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg 2016 Umschlaggestaltung: Aline Hoffbauer Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany 978-3-946456-05-6 Inhalt Vorwort ERST ER TEIL Die Knappheit von Respekt 11 Erstes Kapitel: Erinnerungen an Cabrini Zweites Kapitel: Was ist Respekt? 13 53 ZWEITER TEIL Nachforschungen zum Respekt 63 Drittes Kapitel: Ungleiche Talente 65 Viertes Kapitel: Die Schande der Abhängigkeit 97 Fünftes Kapitel: Verletzendes Mitgefühl 121 DRITT ER TEIL Ein Wort zur Sozialhilfe 143 Sechstes Kapitel: Bürokratischer Respekt Siebtes Kapitel: Befreite Fürsorge 145 167 VIERT ER TEIL Charakter und Sozialstruktur 193 Achtes Kapitel: Das Gegenseitige an gegenseitigem Respekt Neuntes Kapitel: Ein nach außen gewendeter Charakter Zehntes Kapitel: Politik des Respekts 195 211 229 Danksagung Anmerkungen Namenregister 245 246 260 ZEIT-Beitrag264 Vorwort Vor einigen Jahren habe ich ein Buch geschrieben, das ein Rat geber zu Fragen der Sozialhilfe sein sollte. Es trägt den Titel The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism (dt.: Der flexible Mensch). Sozialhilfeempfänger klagen oft, sie würden mit zu wenig Respekt behandelt. Doch der Mangel an Respekt, unter dem sie leiden, hat seinen Grund nicht allein in der Tatsache, dass sie arm, alt oder krank sind. In der mo dernen Gesellschaft finden Respekt und Anerkennung generell nur selten positiven Ausdruck. Natürlich beruht die Gesellschaft auf dem Grundgedanken, dass wir gegenseitigen Respekt bekunden, indem wir einander als gleich behandeln. Aber kehren wir den Gedanken um: Können wir nur solche Menschen respektieren, die ebenso stark sind wie wir? Manche Ungleichheiten sind willkürlich, andere dagegen unauf löslich – zum Beispiel Unterschiede des Talents. In modernen Gesellschaften gelingt es den Menschen nicht, diese Grenzen zu überschreiten, wenn es um die Bekundung wechselseitiger Achtung und Anerkennung geht. Die harte Seite der Gleichheit erleben die Sozialhilfeempfänger, wenn sie feststellen, dass ihr Anspruch auf Beachtung allein auf ihren Problemen, ihrer Bedürftigkeit beruht. Respekt verdienen sie nur, wenn sie nicht schwach und nicht bedürftig sind. Wenn Sozialhilfeempfänger Selbstachtung erlangen sollen, heißt das meist, sie müssen in materieller Hinsicht für sich selbst sorgen können. Doch in der übrigen Gesellschaft hängt Selbstach tung keineswegs nur von ökonomischem Erfolg und finanzieller Unabhängigkeit ab, sondern auch von der eigenen Tätigkeit und der Leistung. Selbstachtung kann man nicht »verdienen«, wie man Geld verdient. Und auch hier kommt wieder Ungleichheit ins Spiel: Auf den unteren Sprossen der sozialen Stufenleiter kann man zwar Selbstachtung erlangen, aber diese Selbstachtung bleibt stets gefährdet. Als ich mich dem Verhältnis zwischen Respekt und Ungleich 9 heit zuwandte und meine Gedanken dazu niederzuschreiben be gann, erkannte ich, wie stark dieses Thema mein Leben geprägt hat. Ich bin im Sozialhilfesystem aufgewachsen und konnte ihm schließlich dank meiner Fähigkeiten entkommen. Ich hatte zwar nicht den Respekt vor den Zurückgelassenen verloren, doch mein eigenes Selbstwertgefühl basierte auf der Tatsache, dass ich sie hinter mir zurückgelassen hatte. So konnte ich denn kaum als neutraler Beobachter gelten; und wenn ich ein ehrliches Buch über dieses Thema schreiben wollte, musste ich es zum Teil aus meiner eigenen Erfahrung heraus schreiben. Doch so gerne ich die Memoiren anderer lese, so ungern schreibe ich über mich selbst. Da rum wur de die ses Buch für mich zu einem Ex pe ri ment. Es handelt sich weder um ein Buch über praktische Probleme der Sozialhilfe noch um eine Autobiografie im vollen Sinne des Wortes. Vielmehr habe ich versucht, meine eigene Erfahrung zum Ausgangspunkt für die Erforschung eines umfassenden sozialen Problems zu machen. 10 Erst es Kap it el Eri nn erungen an Cabri ni Die Sozialsiedlung Anfang des 19. Jahrhunderts flohen immer mehr schwarze Ame rikaner aus der Knechtschaft des ländlichen Südens in die Städte des Nordens. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schwoll diese Wanderungsbewegung beträchtlich an; schwarze Männer und Frauen fanden Arbeit in der Rüstungsindustrie, und die Frauen erhielten erstmals eine Alternative zur Tätigkeit als Haushalts hilfen. In meiner Heimatstadt Chicago waren die Schwarzen bei den Weißen keineswegs beliebter als im Süden; das Erscheinen dieser neuen Industriearbeiter veranlasste die polnischen, griechi schen und italienischen Einwanderer, sich von den Schwarzen zu rückzuziehen, auch wenn sie miteinander arbeiten mussten. Die Stadtplaner versuchten, die Flucht der Weißen aus den nun zu nehmend von Schwarzen bewohnten Stadtteilen zu verhindern, indem sie mitten in Chicago neue Wohnsiedlungen bauten, in de nen eine bestimmte Zahl von Wohnungen armen Weißen vor behalten war. Cabrini Green war solch eine ethnisch gemischte Enklave, und dort verbrachte ich einen Teil meiner Kindheit. In späteren Jahren wurde Cabrini zum Symbol für alle nega tiven Seiten des sozialen Wohnungsbaus – überall Drogen und Waffen, die Rasenflächen überzogen von zerbrochenen Flaschen und Hundekot. Doch in den späten Vierzigerjahren wäre diese Siedlung einem Fremden allenfalls langweilig vorgekommen – langgezogene, niedrige Kästen, deren eintönige Erscheinung durch keinerlei Schmuck aufgelockert wurde. Die Wasserleitungen funktionierten, der Rasen war grün, und in der Nähe gab es gute Schulen. »Die Zukunft schien hell« für die Schwarzen, die nach Chicago kamen, wie ein Beobachter über eine ähnliche Sozial siedlung bemerkte; die Steinbauten ersetzten die mit Teerpappe gedeckten Baracken, in denen viele dieser Menschen im Süden gehaust hatten. Die Siedlungen wirkten wie ein Signal, dass die elende Lage der Schwarzen von der Gesellschaft endlich erkannt 13 worden war.1 »Damals boten die Frances Cabrini Homes einfach saubere, billige Wohnungen, mit denen sich die Familien so lange zufrieden gaben, bis sie sich etwas Besseres leisten konnten«, hat meine Nachbarin Gloria Hayes Morgan dazu geschrieben.2 Den weißen Armen in Cabrini Green übermittelten die staat lichen Sozialwohnungen allerdings ein anderes Signal. Die Rassenkonflikte hatten in Chicago schon eine lange Ge schichte; im Zweiten Weltkrieg begriffen die Behörden, dass sie etwas dagegen unternehmen mussten. Als die Cabrini-Siedlung 1942 fertiggestellt war, machten die Behörden armen Weißen ein Angebot: Wenn ihr mit den Schwarzen zusammenlebt, über nehmen wir die Miete. Der Krieg hatte zu einer Wohnungsknapp heit in der Stadt geführt, vor allem bei billigem Wohnraum. Wie andere vor und nach ihnen versuchten die Planer der CabriniSiedlung, einem großen sozialen Missstand mit den Mitteln der Sozialpolitik beizukommen, indem sie den sozialen Wohnungsbau als »Instrument« zur Bekämpfung der Rassentrennung ein setzten. Allerdings taten sie dies nicht allzu direkt; meines Wis sens wohnte jedenfalls keiner der Schöpfer dieses Projekts unter uns. Und auch die damals noch kleine schwarze Bourgeoisie der Stadt lebte nicht dort. Ich weiß nicht, ob unsere Nachbarn ras sistischer oder weniger rassistisch waren als andere Weiße. Doch was sie auch gedacht haben mögen, sie standen im Dienst eines von den Angehörigen höherer Schichten ersonnenen Projekts zur Rassenintegration. Ursprünglich sollte Cabrini zu 75 Prozent von Weißen und zu 25 Prozent von Schwarzen bewohnt werden. Als die Siedlung fertiggestellt war, hatte das Verhältnis sich umgekehrt.3 Meine Mutter erinnerte sich, dass die Wohnungsknappheit viele Ange hörige der weißen Mittelschicht in die Siedlung zwang. Statistisch bildeten sie allerdings nur einen kleinen Anteil, und sie waren die Ersten, die wieder wegzogen.4 Andere Weiße sollten länger in Ca brini bleiben, zum Beispiel Kriegsversehrte, die nur noch begrenzt arbeitsfähig waren. Außerdem brachten die Behörden dort einige geistig Behinderte unter, die nicht krank genug für e ine psychi atrische Anstalt waren, aber auch nicht ganz auf sich gestellt le ben konnten. Diese gemischte Gesellschaft aus Schwarzen, armen 14 Weißen, Kriegsversehrten und geistig Behinderten bildete das Objekt dieses Experiments zur Rassenintegration. Der Versuch, den sozialen Wohnungsbau als Instrument zur Lösung weiterreichender sozialer Probleme einzusetzen, war durchaus keine amerikanische Besonderheit. Schon früh im 19. Jahrhundert hatte Jeremy Bentham in Großbritannien den Gedanken entwickelt, die Wohnsiedlungen der neuen Arbeiter könnten zum Vorbild einer stärker integrierten, gemeinschafts orientierten Gesellschaft werden. Der britische »Artisans’ and Labourers’ Dwelling Act« von 1868 sollte zeigen, wie sich der Marktkapitalismus durch die äußere Gestaltung der Stadt zügeln ließ. Das erste Wohnungsbauprojekt des Peabody Trust verstand sich als architektonischer »Entwurf für ein Leben und nicht nur für ein Haus«. Diese britischen Versuche galten in erster Linie dem Klassenproblem. Cabrini und ähnliche amerikanische Woh nungsbauprojekte des 20. Jahrhunderts waren insofern etwas Be sonderes, als sie gleich zwei tiefe soziale Wunden zu behandeln versuchten: Rasse und Klasse.5 Vielleicht sollte ich erklären, wie es kam, dass meine Mutter, die aus anderen sozialen Verhältnissen stammte, in der Siedlung lebte. Als Tochter eines brillanten, aber exzentrischen Erfinders – mein Großvater erfand den Mechanismus des Anrufbeantwor ters, kümmerte sich aber nicht um dessen Patentierung – wuchs meine Mutter in den durch politischen Radikalismus und künst lerische Experimente geprägten Zeiten der Weltwirtschaftskrise auf. Sie war politisch engagiert, wollte aber vor allem schreiben, und zwar in erster Linie gute Sätze, ob nun politischen Inhalts oder nicht. Mitte der Dreißigerjahre begegnete sie meinem Vater, der we nig später zusammen mit seinem Bruder, dem größten politischen Hitzkopf unserer Familie, in den spanischen Bürgerkrieg zog. Der Krieg gegen den Faschismus in Spanien zog zahlreiche idealisti sche Kämpfer aus aller Welt an; viele wandten sich danach ent täuscht vom Kommunismus ab, und der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 besiegelte ihre Enttäuschung. So erging es auch meinem Vater, dessen persönliches Leben aus den Fugen geriet. In einem Versuch, ihre Ehe zu retten, zeugten meine Eltern mich, und wie 15 so oft in ähnlichen Fällen bedeutete meine Geburt das Ende ih rer Ehe. Mein Vater floh, als ich wenige Monate alt war – ich bin ihm nie begegnet –, und meine Mutter geriet in große finanzielle Schwierigkeiten. Seit ihrer Jugend hatte sie Theaterstücke und Kurzgeschichten geschrieben, doch das konnte sie sich jetzt nicht mehr leisten. Als ich drei Jahre alt war, zogen wir nach Cabrini; das war 1943. Mit einer einzigen Ausnahme konnte ich die Zeit dort natürlich nur über die Erinnerungen anderer, über offizielle Dokumente und vor allem über die Aufzeichnungen meiner Mutter rekonst ruieren. In einem Text über Cabrini beschrieb meine Mutter zum Beispiel unsere eigene Wohnung: »… zwei Zimmer und ein Bad …; neben der Schlafzimmertür stand ein Kohleofen; mehrmals am Tag rüttelte ich die Asche durch und putzte anschließend den Fußboden im Wohnzimmer auf …«6 Von Anfang an überraschte sie jedoch der Lärm, der draußen herrschte. Die Wohnung er schien ihr »wie ein belagertes Schiff. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend toste rundum ein Meer von Lärm … Stimmen, Rufen, Lachen, Weinen, Geschrei.«7 Der Taxifahrer, der uns beim Einzug nach Cabrini fuhr, so erzählte meine Mutter, mochte gar nicht glauben, dass eine so hübsche junge Frau mit Kind dort ein ziehen wollte. Meine Mutter erinnerte sich, dass ich achtzehn Monate später »außergewöhnlich groß« war, eine Junge mit »nachdenklichem, ernstem Gesicht, der älter als fünf Jahre zu sein schien«.8 In zwei Jahren sollte die Größe meine Rettung auf den Straßen bedeuten. Und auch mein Ernst war ein Schutz; ich hörte gerne Musik und lernte begeistert Lesen. Meine Mutter hatte ihre berufliche Lauf bahn begonnen, die sie schließlich zu einer angesehenen Sozial arbeiterin machte. Unseren Nachbarn mögen wir recht sonderbar erschienen sein mit unseren beiden Zimmern voller Bücher und klassischer Musik. Außerdem denke ich, unsere Armut war nicht mit demselben Stigma behaftet wie für viele unserer weißen Nachbarn. Das Stigma ließ sich an der Geographie der Stadt ablesen. Ca brini Green lag nur acht Blocks östlich der »Goldküste« Chicagos: 16 d amals wie heute ein den Reichen vorbehaltener Streifen mit Apartmenthäusern, der sich entlang des Michigansees erstreckt. Der Reichtum der Goldküste überstieg bei Weitem das Vorstel lungsvermögen der meisten Bewohner von Cabrini.9 Bei dem westlich der Siedlung gelegenen Bereich war das anders. Gleich im Anschluss an Cabrini Green erstreckte sich das Mosaik der Viertel, in denen sich die europäischen Einwanderer erstmals niedergelassen hatten, Straßen, auf denen die Menschen immer noch Deutsch, Polnisch oder Griechisch sprachen. Weiter west lich schlossen sich die damals gerade erst entstehenden Vorort siedlungen an, in die nach dem Zweiten Weltkrieg die Kinder der Einwanderer zu ziehen begannen; dort konnte man Häuser mit Garagen und kleinen privaten Rasenflächen finden, die an zeigten, dass eine Familie den Aufstieg in die untere Mittelschicht geschafft hatte. Die Weißen in unserer Siedlung hatten kaum Aussichten, in den Westen Chicagos zu ziehen. Ich denke, viele von ihnen wa ren Leute, die es nicht geschafft hatten, sich von den Belastungen der Weltwirtschaftskrise oder des Krieges zu erholen. Ihre Vettern kamen an den Wochenenden zu Besuch und parkten die damals üblichen Straßenkreuzer vor unseren Betonklötzen; wir Kinder umringten die riesigen Autos und streichelten sie wie Haustiere. Schon wegen der Bauweise hatten alle Bewohner ein passives Verhältnis zur Cabrini-Siedlung. Niemand von ihnen war an der Planung beteiligt gewesen. Die niedrigen Bauten waren in einem strengen Rechteckmuster angeordnet; die Rasen- und Freiflächen zwischen den Häusern durften nicht als Gärten genutzt werden. Fünfzehn Jahre später errichtete man neben Cabrini Green eine Siedlung aus hohen Bauten, die sogenannten Robert Taylor Homes. Diese Gebäude sorgten für eine noch strengere Regle mentierung der Bewohner: Die Aufzüge waren bewacht, und die Wohnungsgrundrisse legten fest, wo Betten, Tische und Sofas aufgestellt werden konnten. Angesichts des Horrors, zu dem das Projekt später ausartete, möchte ich hier auf die positive Seite solcher Kontrolle hinweisen: Wie bei den Wiener Arbeiterwohnungen der Zwanzigerjahre stand auch in Chicago die architektonische Strenge für etwas 17 Neues, Klares und Sauberes; sie war ein Symbol des architektoni schen Modernismus. Die Siedlung verurteilte die Menschen aber auch zu e iner so zialen Passivität, unter der ihre Selbstachtung litt. So hatten die Bewohner der Cabrini-Siedlung und der Robert Taylor Homes keinen Ein fluss auf die Aus wahl ih rer Nach barn: Die se Ent scheidung lag bei der Chicago Housing Authority, und die ori entierte sich bei der Auswahl sowohl am Charakter als auch an der Einkommenslage der Mieter. Es gab zwar einen Mieterbeirat, aber seine Befugnisse waren beschränkt. Meine Tante erzählte mir später, dass die für die Verwaltung der Siedlung zuständigen Beamten die Sitzungen des Mieterbeirats nur selten besuchten. Ich selbst habe nur eine einzige klare Erinnerung aus dieser Zeit. Sie bezieht sich auf ein Ereignis, das sich zutrug, kurz bevor ich mit sieben Jahren die Siedlung verließ, nämlich auf eine ge walttätige Auseinandersetzung zwischen schwarzen und weißen Kindern der Siedlung, die etwas älter waren als ich. In der Um gebung der Siedlung waren einige Häuser aufgegeben worden; der Boden der leeren Räume war mit zerbrochenen Fenster scheiben und Bauschutt übersät. Die weißen Kinder versteckten sich auf der einen, die schwarzen auf der anderen Straßenseite in den leer stehenden Wohnungen und spielten »Glaskrieg«, wie sie es nannten. Bei diesem Spiel schleuderte man Glasscheiben über die Straße, wie man Kiesel über eine Wasserfläche wirft, und wer jemanden auf der anderen Straßenseite traf, machte einen Punkt. Für die Kinder entsprang der Glaskrieg eigentlich weniger dem Rassenhass als der Lust an physischer Gewalt. Gloria Morgan schreibt zum Klima zwischen den Rassen, in der Siedlung »lag genug Spannung in der Luft, um gelegentliche Reibungen aus zulösen«.10 Der Thrill des Glaskriegs war das Blut. Nur selten vermochte ein Mitspieler auf direktem Wege einen Punkt zu ma chen, denn der Gegner sah die Glasscheibe kommen und konnte leicht ausweichen. Gefährlich wurde das Spiel erst, wenn verirrte Glasscheiben an den Zimmerwänden zersplitterten; dann bestand die Gefahr, dass man von Glassplittern an Händen oder Füßen verletzt wurde. 18 Einmal jedoch wäre ein junges schwarzes Mädchen beinahe durch e inen Schnitt am Hals ums Leben gekommen. Ihre Mit spieler hielten auf der Straße einen Bus an und brachten sie ins Krankenhaus. Das Krankenhaus benachrichtigte nicht die Eltern, sondern die Polizei; die Polizei wandte sich gleichfalls nicht an die Eltern, sondern an die Schule; und die Schule alarmierte einen Trupp Sozialarbeiter, der in der Siedlung ausschwärmte. So er fuhren die Eltern von dem Vorfall erst, als er vorüber war und die Behörden sich seiner annahmen. Meine Tante bezeichnete diesen Vorfall als einen der Gründe, weshalb meine Mutter sich verzweifelt bemühte, aus der Siedlung herauszukommen. Offensichtlich waren unsere weißen Nachbarn wütend auf die Behörden, weil sie eingegriffen hatten, während der Zorn der schwarzen Eltern sich eher gegen ihre Kinder rich tete, weil sie die Aufmerksamkeit der Behörden erregt hatten. Dieser Unterschied ist durchaus nachvollziehbar. Im Süden hätte solch ein Vorfall die Dämonen des Rassismus wecken und An griffe auf schwarze Erwachsene nach sich ziehen können, ganz gleich, wer das Opfer war. Für die Weißen in Chicago lag das Pro blem dagegen in der Tatsache, dass die Behörden sich ihrer Eltern rolle bemächtigt und als Erste eingegriffen hatten. Als ich zum Studium nach Chicago zurückkehrte, erzählte mir eine ältere Lehrerin an einer Schule der Gegend, dass sie sich noch gut an den Vorfall erinnere, weil weiße Eltern mit dem Vor wurf an sie herangetreten waren, sie habe von den Kämpfen ge wusst, aber den Eltern nichts davon gesagt. Als ich Jahre später in Boston weiße Familien aus der Arbeiterklasse interviewte, fiel mir ein merkwürdiger Sprachgebrauch auf. Sie sagten gleichermaßen »die«, wenn sie über arme Schwarze oder Mitglieder der liberalen Mittelschicht wie Lehrer und Sozialarbeiter sprachen. Diese Ver wendungsweise vermischt Rassen- und Klassenzugehörigkeit und lässt »die« als eine einzige einheitliche Bedrohung erscheinen; sie bringt die Furcht der Arbeiterklasse vor ihrer Verletzlichkeit zum Ausdruck. In Boston kämpften weiße Arbeiter jahrzehntelang ge gen »die«, indem sie sich gegen die erzwungene Rassenintegra tion in den Schulen wehrten. In Chicago hatten die Weißen den billigen, mit einer Rassenintegration verknüpften Wohnraum in 19 Cabrini Green akzeptiert; keine hohe Mauer konnte »uns« vor »denen« schützen. Nach fünfzig Jahren scheint mir, bei allen denkbaren Verzer rungen der Erinnerung, aber vielleicht auch dank der Weisheit, die man im Rückblick gewinnen kann, dass die weißen Bewohner der Cabrini-Siedlung vor zwei Problemen standen, die ihr Selbst wertgefühl bedrohten: Das eine war die Abhängigkeit, die von Erwachsenen in Amerika als erniedrigend empfunden wird; »So zialhilfe« ist ein Synonym für Demütigung. In der Cabrini-Sied lung war diese Demütigung über die Rasse vermittelt: Unsere weißen Nachbarn brauchten Wohnungen und waren daher zu Rassenbeziehungen gezwungen, die von besser gestellten Weißen gemieden wurden. Das zweite Problem lag in der Tatsache, dass diese Sozialsiedlung den Menschen die Selbstbestimmung nahm. Man machte sie zu bloßen Zuschauern ihrer eigenen Bedürfnisse, zu Konsumenten der ihnen gewährten Hilfe. Hier erlebten sie jenen eigentümlichen Mangel an Respekt, der darin besteht, nicht wahrgenommen und nicht als vollwertige Menschen angesehen zu werden. Das war die Botschaft, die das Nachspiel des Glaskriegs für die weißen Be wohner der Siedlung bereithielt; für die Schwarzen war dieser Mangel an Respekt dagegen eine uralte Realität. Flucht Mit einer amerikanischen Drehung des sozialen Kaleidoskops verbesserte sich langsam unsere Lage. Als wir Cabrini verließen, begann meine immer noch alleinstehende Mutter ihren Weg als Sozialarbeiterin, und ich machte Fortschritte in der Musik. Ich war zwar kein Wunderkind, aber ich komponierte, spielte Cello und hatte meine ersten Auftritte. Durch das Erlernen einer Kunst begann ich andere hinter mir zu lassen. Die Zeit beschleunigt sich im Erleben eines musizierenden Kindes: Mit elf oder zwölf Jahren muss man vier bis fünf Stunden täglich üben; wenn man dann als Jugendlicher auch noch auf tritt, hat die Arbeit des Erwachsenenlebens bereits begonnen. Die 20 Stunden des Übens waren Stunden, die ich nicht mit anderen Kin dern verbrachte. Als ich mit fünfzehn vor Publikum zu spielen begann, waren meine Freunde und Kollegen ältere Musiker, die studierten oder bereits im Berufsleben standen. Dank dieser Be schleunigung der Zeit glaubte ich damals, ein neuer Mensch zu werden, und Cabrini schien bald nichts mehr mit mir zu tun zu haben. Als typischer Antrieb eines Selfmademan gilt gemeinhin der Ehrgeiz, und ohne Zweifel besaß ich genug davon. Doch zur Ent wicklung eines Talents gehört stets auch ein Element von Können: Man muss etwas um seiner selbst willen tun, und dieses Können verleiht dem Einzelnen eine gewisse Selbstachtung. Es geht nicht so sehr darum, besser zu sein als andere, sondern eher darum, man selbst zu sein. Das musikalische Können schenkte mir diese Gabe. Vielleicht kann ich diesen Gedanken durch eine körperliche Fä higkeit veranschaulichen, die jeder Cellist beherrschen muss. Das Vibrato ist e ine wiegende Bewegung der linken Hand, die den Ton belebt, indem sie ihn um seine präzise Lage schwingen lässt. Die Schwingungen des Vibrato breiten sich um den Ton aus wie die Wellen um e inen Stein, den man ins Wasser geworfen hat. Das Vibrato beginnt im Ellbogen; dort nimmt der Impuls der wie genden Bewegung seinen Ausgang und setzt sich fort über den Unterarm und die Hand bis in den Finger. Das Element des Könnens liegt in Folgendem: Für das Vibrato muss der Cellist zunächst die Fähigkeit beherrschen, den reinen Ton präzise zu spielen. Wenn ein junger Cellist diese Fähigkeit noch nicht besitzt, verstärkt sich die Unreinheit des Tons beim Vibrato, und es entstehen die falschen Obertöne. Den reinen Ton zu treffen ist unsere Form künstlerischer Wahrheit. Die Freiheit des Vibrato basiert auf solcher Disziplin, während ein bloß impul siver Ausdruck lediglich Durcheinander schafft – eine Volksweis heit, die für die Hand geradeso gilt wie für das Herz. Ich war mit einem guten Gehör gesegnet und konnte rasch sauber spielen, doch ich brauchte mehrere Jahre, bis mir das Vi brato leichtfiel. Als es mir mit zwölf Jahren schließlich gelang, war das ein epochales Ereignis für mich, ähnlich wie Erfolg im Sport 21 für andere Kinder. Und wie im Sport, so hat auch dieses Ereignis zwei Seiten: den Respekt anderer Menschen, den man gewinnt, weil man etwas gut zu tun versteht; und den Akt, in dem man erkundet, wie man etwas macht. Daraus gewinnt man Befriedi gung und ein Selbstwertgefühl, das nicht auf der Anerkennung durch andere beruht – als es mir gelang, einen präzisen, freien Ton zu spielen, empfand ich e ine tiefe Freude, die ganz in sich selbst ruhte. Ein Jahr zehnt spä ter, im Al ter von sieb zehn Jah ren, führte mich das Bedürfnis nach weiterer musikalischer Ausbildung 1960 wieder nach Chicago. Frank Miller, Cellist beim Chicago Symphony Orchestra, nahm mich als Privatschüler an, und ich schrieb mich an der Universität ein. Obwohl ich die Musik zu meinem Beruf machen wollte, wünschte ich mir auch e ine gewisse Allgemeinbildung. Anderthalb Jahre lang trieb Frank Miller mich sanft, aber unerbittlich an, und ich erarbeitete ein Programm mo derner, aber zugänglicher Musik – Barbers Cellosonate, Salon musik von Poulenc –, die Miller mich ebenso ernst zu nehmen zwang wie Bach oder Beethoven. Dann schickte er mich nach New York, damit ich dort bei einem Kollegen Dirigieren lernte. Miller, der selbst ein großer Cellist war, hegte den Wunsch, in die Fußstapfen seines Lehrers Tosca nini zu treten; aus Gründen, die mir nicht ganz klar sind, besteht eine enge Verbindung zwischen unserem Instrument und dem Dirigieren. Ich verbrachte neun Monate in Greenwich Village und lebte dort zu sam men mit einem an de ren Jun gen und einem Mäd chen in einer Einzimmerwohnung in der Nähe einer Travestiebar, während ich mich darauf vorbereitete, Bizets Carmen zu diri gieren. Wie viele andere Musiker war ich ein Nachtmensch, und in diesem Teil der Stadt war rund um die Uhr geöffnet; früh am Morgen konnte man in der Bar etwas essen, Zigaretten kaufen und Unterhaltung finden. Doch das war nur Entspannung. Ich ar beitete hart an der Beherrschung der »Monteux-Box«, einer von Pierre Monteux eingeführten Dirigiertechnik, bei der die Hand des Dirigenten sich innerhalb eines kleinen, in Schulterhöhe vor gestellten Kastens bewegt, so dass jede kleinste Bewegung e ine 22
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