Bibliothek des Wissens

Bibliothek des Wissens
Richard Sennett
Respekt im Zeitalter
der Ungleichheit
Aus dem Amerikanischen
von Michael Bischoff
Mit e­ inem Beitrag
der ZEIT-Redaktion
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
Lizenzausgabe des Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg,
für die »ZEIT Bibliothek des Wissens« 2016
Originaltitel: Respect in a World of Unequality
Copyright © 2003 by Richard Sennett.
All rights reserved including the rights of reproduction
in whole or in part in any form.
© der deutschen Übersetzung: 2002 Berlin Verlag in der
Piper Verlag GmbH, Berlin
ZEIT-Beitrag: © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg 2016
Umschlaggestaltung: Aline Hoffbauer
Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
978-3-946456-05-6
Inhalt
Vor­wort
ERS­T ER TEIL
Die Knapp­heit von Res­pekt
11
Ers­tes Ka­pi­tel: Er­in­ne­run­gen an Cabr­ini
Zweites Ka­pi­tel: Was ist Res­pekt?
13
53
ZWEITER TEIL
Nach­for­schun­gen zum Res­pekt
63
Drit­tes Ka­pi­tel: Un­gleiche Ta­len­te
65
Vier­tes Ka­pi­tel: Die Schan­de der Ab­hän­gig­keit 97
Fünf­tes Ka­pi­tel: Ver­let­zen­des Mit­ge­fühl
121
DRIT­T ER TEIL
Ein Wort zur So­zi­al­hil­fe
143
Sechs­tes Ka­pi­tel: Bü­ro­kra­ti­scher Res­pekt
Sieb­tes Ka­pi­tel: Be­freite Für­sor­ge
145
167
VIER­T ER TEIL
Cha­rak­ter und So­zi­al­struk­tur
193
Ach­tes Ka­pi­tel: Das Ge­gen­seiti­ge an
ge­gen­seiti­gem Res­pekt
Neun­tes Ka­pi­tel: Ein nach au­ßen ge­wen­de­ter
­Cha­rak­ter
Zehn­tes Ka­pi­tel: Po­­litik des Res­pekts
195
211
229
Dank­sa­gung
An­mer­kun­gen
Na­men­re­gis­ter
245
246
260
ZEIT-Beitrag264
Vor­wort
Vor eini­gen Jah­ren habe ich ein Buch ge­schrie­ben, das ein Rat­
ge­ber zu Fra­gen der So­zi­al­hil­fe sein soll­te. Es trägt den Ti­tel The
Cor­ros­ion of Cha­rac­ter. The Per­so­nal Cons­equences of Work in the
New Ca­pit­alism (dt.: Der fle­xib­le Mensch). So­zi­al­hil­fe­empfän­ger
kla­gen oft, sie wür­den mit zu we­nig Res­pekt be­han­delt. Doch der
Man­gel an Res­pekt, un­ter dem sie leiden, hat seinen Grund nicht
al­lein in der Tat­sa­che, dass sie arm, alt oder krank sind. In der mo­
der­nen Ge­sell­schaft fin­den Res­pekt und An­er­ken­nung ge­ne­rell
nur sel­ten po­si­ti­ven Aus­druck.
Na­tür­lich be­ruht die Ge­sell­schaft auf dem Grund­ge­dan­ken,
dass wir ge­gen­seiti­gen Res­pekt be­kun­den, in­dem wir einan­der als
gleich be­han­deln. Aber keh­ren wir den Ge­dan­ken um: Kön­nen wir
nur sol­che Men­schen res­pek­tie­ren, die eben­so stark sind wie wir?
Man­che Un­gleich­heiten sind will­kür­lich, an­de­re da­ge­gen un­auf­
lös­lich – zum Beispiel Un­ter­schie­de des Ta­lents. In mo­der­nen
Ge­sell­schaf­ten ge­lingt es den Men­schen nicht, die­se Gren­zen
zu über­schreiten, wenn es um die Be­kun­dung wech­sel­seiti­ger
­Ach­tung und An­er­ken­nung geht.
Die harte Seite der Gleich­heit er­le­ben die So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ger,
wenn sie fest­stel­len, dass ihr An­spruch auf Be­ach­tung al­lein auf
ih­ren Prob­le­men, ih­rer Be­dürf­tig­keit be­ruht. Res­pekt ver­die­nen
sie nur, wenn sie nicht schwach und nicht be­dürf­tig sind.
Wenn So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ger Selbst­ach­tung er­lan­gen sol­len,
heißt das meist, sie müs­sen in ma­te­ri­el­ler Hin­sicht für sich selbst
sor­gen kön­nen. Doch in der üb­ri­gen Ge­sell­schaft hängt Selbst­ach­
tung keines­wegs nur von öko­no­mi­schem Er­folg und fi­nan­ziel­ler
Un­ab­hän­gig­keit ab, son­dern auch von der eige­nen Tä­tig­keit und
der Leis­tung. Selbst­ach­tung kann man nicht »ver­die­nen«, wie
man Geld ver­dient. Und auch hier kommt wie­der Un­gleich­heit ins
Spiel: Auf den un­te­ren Spros­sen der so­zi­a­len Stu­fen­leiter kann
man zwar Selbst­ach­tung er­lan­gen, aber die­se Selbst­ach­tung bleibt
stets ge­fähr­det.
Als ich mich dem Ver­hält­nis zwi­schen Res­pekt und Un­gleich­
9
heit zu­wandte und meine Ge­dan­ken dazu nie­der­zu­schreiben be­
gann, er­kannte ich, wie stark die­ses The­ma mein Le­ben ge­prägt
hat. Ich bin im So­zi­al­hil­fe­sys­tem auf­ge­wach­sen und konnte ihm
schließ­lich dank meiner Fä­hig­keiten ent­kom­men. Ich hatte zwar
nicht den Res­pekt vor den Zu­rück­ge­las­se­nen ver­lo­ren, doch mein
eige­nes Selbst­wert­ge­fühl ba­sierte auf der Tat­sa­che, dass ich sie
hin­ter mir zu­rück­ge­las­sen hat­te. So konnte ich denn kaum als
neut­ra­ler Be­ob­ach­ter gel­ten; und wenn ich ein ehr­­liches Buch
über die­ses The­ma schreiben woll­te, musste ich es zum Teil aus
meiner eige­nen Er­fah­rung he­raus schreiben. Doch so ger­ne ich die
­Me­moi­ren an­de­rer lese, so un­gern schreibe ich über mich selbst.
Da­
rum wur­
de die­
ses Buch für mich zu ­
einem Ex­
pe­
ri­
ment.
Es han­delt sich we­der um ein Buch über prak­ti­sche Prob­le­me
der So­zi­al­hil­fe noch um ­eine Au­to­bi­o­gra­fie im vol­len Sin­ne des
Wor­tes. Viel­mehr habe ich ver­sucht, meine eige­ne Er­fah­rung zum
­Aus­gangs­punkt für die Er­for­schung ­eines um­fas­sen­den so­zi­a­len
Prob­lems zu ma­chen.
10
Ers­t es Ka­p i­t el
Er­i n­n e­run­gen an Cabr­i ni
Die So­zi­al­sied­lung
An­fang des 19.  Jahr­hun­derts flo­hen im­mer mehr schwar­ze Ame­
ri­ka­ner aus der Knecht­schaft des länd­­lichen Sü­dens in die Städte
des Nor­dens. Zu Be­ginn des Zweiten Welt­kriegs schwoll die­se
Wan­de­rungs­be­we­gung be­trächt­lich an; schwar­ze Män­ner und
Frau­en fan­den Ar­beit in der Rüs­tungs­in­dust­rie, und die Frau­en
er­hiel­ten erst­mals ­eine Al­ter­na­ti­ve zur Tä­tig­keit als Haus­halts­
hil­fen. In meiner Heimat­stadt Chi­ca­go wa­ren die Schwar­zen bei
den Weißen keines­wegs be­lieb­ter als im Sü­den; das Er­scheinen
die­ser neu­en In­dust­rie­ar­beiter ver­an­lasste die pol­ni­schen, grie­chi­
schen und ita­­lie­ni­schen Ein­wan­de­rer, sich von den Schwar­zen zu­
rück­zu­zie­hen, auch wenn sie mit­einan­der ar­beiten muss­ten. Die
Stadt­pla­ner ver­such­ten, die Flucht der Weißen aus den nun zu­
neh­mend von Schwar­zen be­wohn­ten Stadt­teilen zu ver­hin­dern,
in­dem sie mit­ten in Chi­ca­go neue Wohn­sied­lun­gen bau­ten, in de­
nen ­eine be­stimmte Zahl von Woh­nun­gen ar­men Weißen vor­
be­hal­ten war. Cabr­ini Green war solch ­eine eth­nisch ge­mischte
En­kla­ve, und dort ver­brachte ich ­einen Teil meiner Kind­heit.
In spä­te­ren Jah­ren wur­de Cabr­ini zum Sym­bol für alle ne­ga­
ti­ven Seiten des so­zi­a­len Woh­nungs­baus – über­all Dro­gen und
Waf­fen, die Ra­sen­flä­chen über­zo­gen von zer­bro­che­nen Fla­schen
und Hun­de­kot. Doch in den spä­ten Vier­zi­ger­jah­ren wäre die­se
Sied­lung ­einem Frem­den al­len­falls lang­weilig vor­ge­kom­men –
lang­ge­zo­ge­ne, nied­ri­ge Käs­ten, de­ren ein­tö­ni­ge Er­scheinung durch
keiner­lei Schmuck auf­ge­lo­ckert wur­de. Die Was­ser­leitun­gen
funk­ti­o­nier­ten, der Ra­sen war grün, und in der Nähe gab es gute
Schu­len. »Die Zu­kunft schien hell« für die Schwar­zen, die nach
Chi­ca­go ka­men, wie ein Be­ob­ach­ter über ­eine ähn­­liche So­zi­al­
sied­lung be­merk­te; die Stein­bau­ten er­setz­ten die mit Teer­pap­pe
ge­deck­ten Ba­ra­cken, in de­nen vie­le die­ser Men­schen im Sü­den
ge­haust hat­ten. Die Sied­lun­gen wirk­ten wie ein Sig­nal, dass die
elen­de Lage der Schwar­zen von der Ge­sell­schaft end­lich er­kannt
13
wor­den war.1 »Da­mals bo­ten die Frances Cabr­ini Homes ein­fach
sau­be­re, bil­­lige Woh­nun­gen, mit de­nen sich die Fa­mi­­lien so lan­ge
zu­frie­den ga­ben, bis sie sich et­was Bes­se­res leis­ten konn­ten«, hat
meine Nach­ba­rin Glo­ria Ha­yes Mor­gan dazu ge­schrie­ben.2
Den weißen Ar­men in Cabr­ini Green über­mit­tel­ten die staat­­
lichen So­zi­al­woh­nun­gen al­ler­dings ein an­de­res Sig­nal.
Die Ras­sen­kon­flikte hat­ten in Chi­ca­go schon ­eine lan­ge Ge­
schich­te; im Zweiten Welt­krieg be­grif­fen die Be­hör­den, dass sie
et­was da­ge­gen un­ter­neh­men muss­ten. Als die Cabr­ini-Sied­lung
1942 fer­tig­ge­stellt war, mach­ten die Be­hör­den ar­men Weißen
ein An­ge­bot: Wenn ihr mit den Schwar­zen zu­sam­men­lebt, über­
neh­men wir die Mie­te. Der Krieg hatte zu ­einer Woh­nungs­knapp­
heit in der Stadt ge­führt, vor al­lem bei bil­­ligem Wohn­raum. Wie
an­de­re vor und nach ih­nen ver­such­ten die Pla­ner der Cabr­iniSied­lung, ­einem gro­ßen so­zi­a­len Miss­stand mit den Mit­teln der
So­zi­al­po­­litik beizu­kom­men, in­dem sie den so­zi­a­len Woh­nungs­bau
als »Ins­tru­ment« zur Be­kämp­fung der Ras­sen­tren­nung ein­
setz­ten. Al­ler­dings ta­ten sie dies nicht all­zu di­rekt; meines Wis­
sens wohnte je­den­falls keiner der Schöp­fer die­ses Pro­jekts un­ter
uns. Und auch die da­mals noch kleine schwar­ze Bour­ge­oi­sie der
Stadt lebte nicht dort. Ich weiß nicht, ob un­se­re Nach­barn ras­
sis­ti­scher oder we­ni­ger ras­sis­tisch wa­ren als an­de­re Weiße. Doch
was sie auch ge­dacht ha­ben mö­gen, sie stan­den im Dienst ­eines
von den An­ge­hö­ri­gen hö­he­rer Schich­ten er­son­ne­nen Pro­jekts zur
Ras­sen­in­teg­ra­ti­on.
Ur­sprüng­lich sollte Ca­brini zu 75 Pro­zent von Weißen und zu
25 Pro­zent von Schwar­zen be­wohnt wer­den. Als die Sied­lung
fer­tig­ge­stellt war, hatte das Ver­hält­nis sich um­ge­kehrt.3 Meine
Mut­ter er­in­nerte sich, dass die Woh­nungs­knapp­heit vie­le An­ge­
hö­ri­ge der weißen Mit­tel­schicht in die Sied­lung zwang. Sta­tis­tisch
bil­de­ten sie al­ler­dings nur ­einen kleinen An­teil, und sie wa­ren die
Ers­ten, die wie­der weg­zo­gen.4 An­de­re Weiße soll­ten län­ger in Ca­
brini bleiben, zum Beispiel Kriegs­ver­sehr­te, die nur noch be­grenzt
ar­beits­fä­hig wa­ren. Au­ßer­dem brach­ten die Be­hör­den dort eini­ge
geis­tig Be­hin­derte un­ter, die nicht krank ge­nug für e­ ine psy­chi­
at­ri­sche An­stalt wa­ren, aber auch nicht ganz auf sich ge­stellt le­
ben konn­ten. Die­se ge­mischte Ge­sell­schaft aus Schwar­zen, ar­men
14
Weißen, Kriegs­ver­sehr­ten und geis­tig Be­hin­der­ten bil­dete das
Ob­jekt die­ses Ex­pe­ri­ments zur Ras­sen­in­teg­ra­ti­on.
Der Ver­such, den so­zi­a­len Woh­nungs­bau als Ins­tru­ment zur
Lö­sung weiter­reichen­der so­zi­a­ler Prob­le­me ein­zu­set­zen, war
durch­aus keine ame­ri­ka­ni­sche Be­son­der­heit. Schon früh im
19.  Jahr­hun­dert hatte Jer­emy Bent­ham in Groß­bri­tan­ni­en den
Ge­dan­ken ent­wi­ckelt, die Wohn­sied­lun­gen der neu­en Ar­beiter
könn­ten zum Vor­bild ­einer stär­ker in­teg­rier­ten, ge­mein­schafts­
o­ri­en­tier­ten Ge­sell­schaft wer­den. Der bri­ti­sche »Arti­sans’ and
La­bour­ers’ Dwel­ling Act« von 1868 sollte zeigen, wie sich der
Markt­ka­pi­ta­lis­mus durch die äu­ße­re Ge­stal­tung der Stadt zü­geln
ließ. Das erste Woh­nungs­bau­pro­jekt des Pea­body Trust ver­stand
sich als ar­chi­tek­to­ni­scher »Ent­wurf für ein Le­ben und nicht nur
für ein Haus«. Die­se bri­ti­schen Ver­su­che gal­ten in ers­ter Li­nie
dem Klas­sen­pro­blem. Ca­brini und ähn­­liche ame­ri­ka­ni­sche Woh­
nungs­bau­pro­jekte des 20.  Jahr­hun­derts wa­ren in­so­fern et­was Be­
son­de­res, als sie gleich zwei tie­fe so­zi­a­le Wun­den zu be­han­deln
ver­such­ten: Ras­se und Klas­se.5
Viel­leicht sollte ich er­klä­ren, wie es kam, dass meine Mut­ter,
die aus an­de­ren so­zi­a­len Ver­hält­nis­sen stamm­te, in der Sied­lung
leb­te. Als Toch­ter ­eines bril­lan­ten, aber ex­zent­ri­schen Er­fin­ders –
mein Groß­va­ter er­fand den Me­cha­nis­mus des An­ruf­be­ant­wor­
ters, küm­merte sich aber nicht um des­sen Pa­ten­tie­rung – wuchs
meine Mut­ter in den durch po­­liti­schen Ra­di­ka­lis­mus und künst­
le­ri­sche Ex­pe­ri­mente ge­präg­ten Zeiten der Welt­wirt­schafts­kri­se
auf. Sie war po­­litisch en­ga­giert, wollte aber vor al­lem schreiben,
und zwar in ers­ter Li­nie gute Sät­ze, ob nun po­­liti­schen In­halts
oder nicht.
Mitte der Dreißi­gerjah­re be­geg­nete sie meinem Va­ter, der we­
nig spä­ter zu­sam­men mit seinem Bru­der, dem größ­ten po­­liti­schen
Hitz­kopf un­se­rer Fa­mi­lie, in den spa­ni­schen Bür­ger­krieg zog. Der
Krieg ge­gen den Fa­schis­mus in Spa­ni­en zog zahl­reiche ide­a­lis­ti­
sche Kämp­fer aus al­ler Welt an; vie­le wand­ten sich da­nach ent­
täuscht vom Kom­mu­nis­mus ab, und der Hit­ler-Sta­lin-Pakt von
1939 be­sie­gelte ihre Ent­täu­schung. So er­ging es auch meinem
Va­ter, des­sen per­sön­­liches Le­ben aus den Fu­gen ge­riet. In ­einem
Ver­such, ihre Ehe zu ret­ten, zeug­ten meine El­tern mich, und wie
15
so oft in ähn­­lichen Fäl­len be­deu­tete meine Ge­burt das Ende ih­
rer Ehe. Mein Va­ter floh, als ich we­ni­ge Mo­nate alt war – ich bin
ihm nie be­geg­net –, und meine Mut­ter ge­riet in gro­ße fi­nan­zi­el­le
Schwie­rig­keiten. Seit ih­rer Ju­gend hatte sie The­a­ter­stü­cke und
Kurz­ge­schich­ten ge­schrie­ben, doch das konnte sie sich jetzt nicht
mehr leis­ten. Als ich drei Jah­re alt war, zo­gen wir nach Ca­brini;
das war 1943.
Mit ­einer ein­zi­gen Aus­nah­me konnte ich die Zeit dort na­tür­lich
nur über die Er­in­ne­run­gen an­de­rer, über of­fi­zi­el­le Do­ku­mente
und vor al­lem über die Auf­zeich­nun­gen meiner Mut­ter re­kons­t­
ru­ie­ren.
In ­einem Text über Ca­brini be­schrieb meine Mut­ter zum Beispiel un­se­re eige­ne Woh­nung: »… zwei Zim­mer und ein Bad …;
ne­ben der Schlaf­zim­mer­tür stand ein Koh­le­ofen; mehr­mals am
Tag rüt­telte ich die Asche durch und putzte an­schlie­ßend den
Fuß­bo­den im Wohn­zim­mer auf …«6 Von An­fang an über­raschte
sie je­doch der Lärm, der drau­ßen herrsch­te. Die Woh­nung er­
schien ihr »wie ein be­la­ger­tes Schiff. Vom frü­hen Mor­gen bis in
den spä­ten Abend toste rund­um ein Meer von Lärm … Stim­men,
Ru­fen, La­chen, Weinen, Ge­schrei.«7 Der Ta­xi­fah­rer, der uns beim
Ein­zug nach Ca­brini fuhr, so er­zählte meine Mut­ter, mochte gar
nicht glau­ben, dass ­eine so hüb­sche jun­ge Frau mit Kind dort ein­
zie­hen woll­te.
Meine Mut­ter er­in­nerte sich, dass ich acht­zehn Mo­nate spä­ter
»au­ßer­ge­wöhn­lich groß« war, ­eine Jun­ge mit »nach­denk­­lichem,
erns­tem Ge­sicht, der äl­ter als fünf Jah­re zu sein schien«.8 In zwei
Jah­ren sollte die Grö­ße meine Ret­tung auf den Stra­ßen be­deu­ten.
Und auch mein Ernst war ein Schutz; ich hörte ger­ne Mu­sik und
lernte be­geis­tert Le­sen. Meine Mut­ter hatte ihre be­ruf­­liche Lauf­
bahn be­gon­nen, die sie schließ­lich zu ­einer an­ge­se­he­nen So­zi­al­
ar­beite­rin mach­te. Un­se­ren Nach­barn mö­gen wir recht son­der­bar
er­schie­nen sein mit un­se­ren beiden Zim­mern vol­ler Bü­cher und
klas­si­scher Mu­sik. Au­ßer­dem den­ke ich, un­se­re Ar­mut war nicht
mit dem­sel­ben Stig­ma be­haf­tet wie für vie­le un­se­rer weißen
Nach­barn.
Das Stig­ma ließ sich an der Geo­gra­phie der Stadt ab­le­sen. Ca­
brini Green lag nur acht Blocks öst­lich der »Gold­küs­te« ­Chi­ca­gos:
16
d­ a­mals wie heute ein den Reichen vor­be­hal­te­ner Streifen mit
Apart­ment­häu­sern, der sich ent­lang des Mi­chi­gan­sees er­streckt.
Der Reich­tum der Gold­küste über­stieg bei Weitem das Vor­stel­
lungs­ver­mö­gen der meis­ten Be­woh­ner von Ca­brini.9 Bei dem
west­lich der Sied­lung ge­le­ge­nen Be­reich war das an­ders. Gleich
im An­schluss an Ca­brini Green er­streckte sich das Mo­sa­ik der
Vier­tel, in de­nen sich die eu­ro­pä­i­schen Ein­wan­de­rer erst­mals
nie­der­ge­las­sen hat­ten, Stra­ßen, auf de­nen die Men­schen im­mer
noch Deutsch, Pol­nisch oder Grie­chisch spra­chen. Weiter west­
lich schlos­sen sich die da­mals ge­ra­de erst ent­ste­hen­den Vor­ort­
sied­lun­gen an, in die nach dem Zweiten Welt­krieg die Kin­der
der Ein­wan­de­rer zu zie­hen be­gan­nen; dort konnte man Häu­ser
mit Ga­ra­gen und kleinen pri­va­ten Ra­sen­flä­chen fin­den, die an­
zeig­ten, dass ­eine Fa­mi­lie den Auf­stieg in die un­te­re Mit­tel­schicht
­ge­schafft hat­te.
Die Weißen in un­se­rer Sied­lung hat­ten kaum Aus­sich­ten, in
den Wes­ten Chi­ca­gos zu zie­hen. Ich den­ke, vie­le von ih­nen wa­
ren Leu­te, die es nicht ge­schafft hat­ten, sich von den Be­las­tun­gen
der Welt­wirt­schafts­kri­se oder des Krie­ges zu er­ho­len. Ihre Vet­tern
ka­men an den Wo­chen­en­den zu Be­such und park­ten die da­mals
üb­­lichen Stra­ßen­kreu­zer vor un­se­ren Be­ton­klöt­zen; wir Kin­der
um­ring­ten die rie­si­gen Au­tos und streichel­ten sie wie Haus­tie­re.
Schon we­gen der Bau­weise hat­ten alle Be­woh­ner ein pas­si­ves
Ver­hält­nis zur Ca­brini-Sied­lung. Nie­mand von ih­nen war an der
Pla­nung be­teiligt ge­we­sen. Die nied­ri­gen Bau­ten wa­ren in ­einem
stren­gen Recht­eck­mus­ter an­ge­ord­net; die Ra­sen- und Freiflä­chen
zwi­schen den Häu­sern durf­ten nicht als Gär­ten ge­nutzt wer­den.
Fünf­zehn Jah­re spä­ter er­rich­tete man ne­ben Ca­brini Green ­eine
Sied­lung aus ho­hen Bau­ten, die soge­nann­ten Ro­bert Tay­lor
Homes. Die­se Ge­bäu­de sorg­ten für ­eine noch stren­ge­re Reg­le­
men­tie­rung der Be­woh­ner: Die Auf­zü­ge wa­ren be­wacht, und die
Woh­nungs­grund­ris­se leg­ten fest, wo Bet­ten, Ti­sche und So­fas
auf­ge­stellt wer­den konn­ten.
An­ge­sichts des Hor­rors, zu dem das Pro­jekt spä­ter aus­ar­te­te,
möchte ich hier auf die po­si­ti­ve Seite sol­cher Kont­rol­le hin­weisen:
Wie bei den Wie­ner Ar­beiter­woh­nun­gen der Zwan­ziger­jah­re
stand auch in Chi­ca­go die ar­chi­tek­to­ni­sche Stren­ge für ­et­was
17
Neu­es, Kla­res und Sau­be­res; sie war ein Sym­bol des ar­chi­tek­to­ni­
schen Mo­der­nis­mus.
Die Sied­lung ver­ur­teilte die Men­schen aber auch zu e­ iner so­
zi­a­len Pas­si­vi­tät, un­ter der ihre Selbst­ach­tung litt. So hat­ten die
Be­woh­ner der Ca­brini-Sied­lung und der Ro­bert Tay­lor Homes
keinen Ein­
fluss auf die Aus­
wahl ih­
rer Nach­
barn: Die­
se Ent­
scheidung lag bei der Chi­ca­go Ho­using Au­tho­rity, und die ori­
en­tierte sich bei der Aus­wahl so­wohl am Cha­rak­ter als auch an
der Ein­kom­mens­la­ge der Mie­ter. Es gab zwar ­einen Mie­ter­beirat,
aber seine Be­fug­nis­se wa­ren be­schränkt. Meine Tante er­zählte
mir spä­ter, dass die für die Ver­wal­tung der Sied­lung zu­stän­di­gen
Be­am­ten die Sit­zun­gen des Mie­ter­beirats nur sel­ten be­such­ten.
Ich selbst habe nur ­eine ein­zi­ge kla­re Er­in­ne­rung aus die­ser
Zeit. Sie be­zieht sich auf ein Er­eig­nis, das sich zu­trug, kurz be­vor
ich mit sie­ben Jah­ren die Sied­lung ver­ließ, näm­lich auf ­eine ge­
walt­tä­ti­ge Aus­einan­der­set­zung zwi­schen schwar­zen und weißen
Kin­dern der Sied­lung, die et­was äl­ter wa­ren als ich. In der Um­
ge­bung der Sied­lung wa­ren eini­ge Häu­ser auf­ge­ge­ben wor­den;
der Bo­den der lee­ren Räu­me war mit zer­bro­che­nen Fens­ter­
scheiben und Bau­schutt über­sät. Die weißen Kin­der ver­steck­ten
sich auf der ­einen, die schwar­zen auf der an­de­ren Stra­ßen­seite
in den leer ste­hen­den Woh­nun­gen und spiel­ten »Glas­krieg«, wie
sie es nann­ten. Bei die­sem Spiel schleu­derte man Glas­scheiben
über die Stra­ße, wie man Kie­sel über ­eine Was­ser­flä­che wirft,
und wer je­man­den auf der an­de­ren Stra­ßen­seite traf, machte
­einen Punkt.
Für die Kin­der ent­sprang der Glas­krieg eigent­lich we­ni­ger dem
Ras­sen­hass als der Lust an phy­si­scher Ge­walt. Glo­ria Mor­gan
schreibt zum K­lima zwi­schen den Ras­sen, in der Sied­lung »lag
ge­nug Span­nung in der Luft, um ge­le­gent­­liche Reibun­gen aus­
zu­lö­sen«.10 Der Thrill des Glas­kriegs war das Blut. Nur sel­ten
ver­mochte ein Mit­spie­ler auf di­rek­tem Wege ­einen Punkt zu ma­
chen, denn der Geg­ner sah die Glas­scheibe kom­men und konnte
leicht aus­weichen. Ge­fähr­lich wur­de das Spiel erst, wenn ver­irrte
Glas­scheiben an den Zim­mer­wän­den zer­split­ter­ten; dann be­stand
die Ge­fahr, dass man von Glas­split­tern an Hän­den oder Fü­ßen
­ver­letzt wur­de.
18
Ein­mal je­doch wäre ein jun­ges schwar­zes Mäd­chen beina­he
durch e­ inen Schnitt am Hals ums Le­ben ge­kom­men. Ihre Mit­
spie­ler hiel­ten auf der Stra­ße ­einen Bus an und brach­ten sie ins
Kran­ken­haus. Das Kran­ken­haus be­nach­rich­tigte nicht die El­tern,
son­dern die Po­­lizei; die Po­­lizei wandte sich gleich­falls nicht an die
El­tern, son­dern an die Schu­le; und die Schu­le alar­mierte ­einen
Trupp So­zi­al­ar­beiter, der in der Sied­lung aus­schwärm­te. So er­
fuh­ren die El­tern von dem Vor­fall erst, als er vo­rü­ber war und die
Be­hör­den sich seiner an­nah­men.
Meine Tante be­zeich­nete die­sen Vor­fall als ­einen der Grün­de,
wes­halb meine Mut­ter sich ver­zweifelt be­müh­te, aus der Sied­lung
he­raus­zu­kom­men. Of­fen­sicht­lich wa­ren un­se­re weißen Nach­barn
wü­tend auf die Be­hör­den, weil sie ein­ge­grif­fen hat­ten, wäh­rend
der Zorn der schwar­zen El­tern sich eher ge­gen ihre Kin­der rich­
te­te, weil sie die Auf­merk­sam­keit der Be­hör­den er­regt hat­ten.
Die­ser Un­ter­schied ist durch­aus nach­voll­zieh­bar. Im Sü­den hätte
solch ein Vor­fall die Dä­mo­nen des Ras­sis­mus we­cken und An­
grif­fe auf schwar­ze Er­wach­se­ne nach sich zie­hen kön­nen, ganz
gleich, wer das Op­fer war. Für die Weißen in Chi­ca­go lag das Pro­
blem da­ge­gen in der Tat­sa­che, dass die Be­hör­den sich ih­rer El­tern­
rol­le be­mäch­tigt und als Erste ein­ge­grif­fen hat­ten.
Als ich zum Stu­di­um nach Chi­ca­go zu­rück­kehr­te, er­zählte mir
­eine äl­te­re Leh­re­rin an ­einer Schu­le der Ge­gend, dass sie sich
noch gut an den Vor­fall er­in­ne­re, weil weiße El­tern mit dem Vor­
wurf an sie he­ran­ge­tre­ten wa­ren, sie habe von den Kämp­fen ge­
wusst, aber den El­tern nichts da­von ge­sagt. Als ich Jah­re spä­ter in
Bos­ton weiße Fa­mi­­lien aus der Ar­beiter­klas­se in­ter­view­te, fiel mir
ein merk­wür­di­ger Sprach­ge­brauch auf. Sie sag­ten gleicher­ma­ßen
»die«, wenn sie über arme Schwar­ze oder Mit­glie­der der ­libe­ra­len
Mit­tel­schicht wie Leh­rer und So­zi­al­ar­beiter spra­chen. Die­se Ver­
wen­dungs­weise ver­mischt Ras­sen- und Klas­sen­zu­ge­hö­rig­keit und
lässt »die« als ­eine ein­zi­ge ein­heit­­liche Be­dro­hung er­scheinen; sie
bringt die Furcht der Ar­beiter­klas­se vor ih­rer Ver­letz­lich­keit zum
Aus­druck. In Bos­ton kämpf­ten weiße Ar­beiter jahr­zehn­te­lang ge­
gen »die«, in­dem sie sich ge­gen die er­zwun­ge­ne Ras­sen­in­teg­ra­
ti­on in den Schu­len wehr­ten. In Chi­ca­go hat­ten die Weißen den
bil­­ligen, mit ­einer Ras­sen­in­teg­ra­ti­on ver­knüpf­ten Wohn­raum in
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Ca­brini Green ak­zep­tiert; keine hohe Mau­er konnte »uns« vor
»de­nen« schüt­zen.
Nach fünf­zig Jah­ren scheint mir, bei al­len denk­ba­ren Ver­zer­
run­gen der Er­in­ne­rung, aber viel­leicht auch dank der Weis­heit,
die man im Rück­blick ge­win­nen kann, dass die weißen Be­woh­ner
der Ca­brini-Sied­lung vor zwei Prob­le­men stan­den, die ihr Selbst­
wert­ge­fühl be­droh­ten: Das ­eine war die Ab­hän­gig­keit, die von
Er­wach­se­nen in Ame­ri­ka als er­nied­ri­gend emp­fun­den wird; »So­
zi­al­hil­fe« ist ein Sy­no­nym für De­mü­ti­gung. In der Ca­brini-Sied­
lung war die­se De­mü­ti­gung über die Ras­se ver­mit­telt: Un­se­re
weißen Nach­barn brauch­ten Woh­nun­gen und wa­ren da­her zu
Ras­sen­be­zie­hun­gen ge­zwun­gen, die von bes­ser ge­stell­ten Weißen
ge­mie­den wur­den.
Das zweite Pro­blem lag in der Tat­sa­che, dass die­se So­zi­al­sied­lung
den Men­schen die Selbst­be­stim­mung nahm. Man machte sie zu
blo­ßen Zu­schau­ern ih­rer eige­nen Be­dürf­nis­se, zu Kon­su­men­ten
der ih­nen ge­währ­ten Hil­fe. Hier er­leb­ten sie je­nen eigen­tüm­­lichen
Man­gel an Res­pekt, der da­rin be­steht, nicht wahr­ge­nom­men und
nicht als voll­wer­ti­ge Men­schen an­ge­se­hen zu wer­den. Das war
die Bot­schaft, die das Nach­spiel des Glas­kriegs für die weißen Be­
woh­ner der Sied­lung be­reit­hielt; für die Schwar­zen war die­ser
Man­gel an Res­pekt da­ge­gen ­eine ur­alte Re­a­­lität.
Flucht
Mit ­einer ame­ri­ka­ni­schen Dre­hung des so­zi­a­len Ka­leidos­kops
ver­bes­serte sich lang­sam un­se­re Lage. Als wir Ca­brini ver­lie­ßen,
be­gann meine im­mer noch al­lein­ste­hen­de Mut­ter ih­ren Weg als
So­zi­al­ar­beite­rin, und ich machte Fort­schritte in der Mu­sik. Ich
war zwar kein Wun­der­kind, aber ich kom­po­nier­te, spielte Cel­lo
und hatte meine ers­ten Auf­trit­te. Durch das Er­ler­nen ­einer Kunst
be­gann ich an­de­re hin­ter mir zu las­sen.
Die Zeit be­schleu­nigt sich im Er­le­ben ­eines mu­si­zie­ren­den
Kin­des: Mit elf oder zwölf Jah­ren muss man vier bis fünf Stun­den
täg­lich üben; wenn man dann als Ju­gend­­licher auch noch auf­
tritt, hat die Ar­beit des Er­wach­se­nen­le­bens be­reits be­gon­nen. Die
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Stun­den des Übens wa­ren Stun­den, die ich nicht mit an­de­ren Kin­
dern ver­brach­te. Als ich mit fünf­zehn vor Pub­­likum zu spie­len
be­gann, wa­ren meine Freun­de und Kol­le­gen äl­te­re Mu­si­ker, die
stu­dier­ten oder be­reits im Be­rufs­le­ben stan­den. Dank die­ser Be­
schleu­ni­gung der Zeit glaubte ich da­mals, ein neu­er Mensch zu
wer­den, und Ca­brini schien bald nichts mehr mit mir zu tun zu
ha­ben.
Als ty­pi­scher An­trieb ­eines Self­ma­de­man gilt ge­mein­hin der
Ehr­geiz, und ohne Zweifel be­saß ich ge­nug da­von. Doch zur Ent­
wick­lung ­eines Ta­lents ge­hört stets auch ein Ele­ment von Kön­nen:
Man muss et­was um seiner selbst wil­len tun, und die­ses Kön­nen
ver­leiht dem Ein­zel­nen ­eine ge­wis­se Selbst­ach­tung. Es geht nicht
so sehr da­rum, bes­ser zu sein als an­de­re, son­dern eher da­rum,
man selbst zu sein. Das mu­si­ka­­lische Kön­nen schenkte mir die­se
Gabe.
Viel­leicht kann ich die­sen Ge­dan­ken durch ­eine kör­per­­liche Fä­
hig­keit ver­an­schau­­lichen, die je­der Cel­list be­herr­schen muss. Das
Vib­ra­to ist e­ ine wie­gen­de Be­we­gung der lin­ken Hand, die den Ton
be­lebt, in­dem sie ihn um seine prä­zi­se Lage schwin­gen lässt. Die
Schwin­gun­gen des Vib­ra­to breiten sich um den Ton aus wie die
Wel­len um e­ inen Stein, den man ins Was­ser ge­wor­fen hat. Das
Vib­ra­to be­ginnt im Ell­bo­gen; dort nimmt der Im­puls der wie­
gen­den Be­we­gung seinen Aus­gang und setzt sich fort über den
Un­ter­arm und die Hand bis in den Fin­ger.
Das Ele­ment des Kön­nens liegt in Fol­gen­dem: Für das Vi­bra­to
muss der Cel­list zu­nächst die Fä­hig­keit be­herr­schen, den reinen
Ton prä­zi­se zu spie­len. Wenn ein jun­ger Cel­list die­se Fä­hig­keit
noch nicht be­sitzt, ver­stärkt sich die Un­rein­heit des Tons beim
Vib­ra­to, und es ent­ste­hen die fal­schen Ober­tö­ne. Den reinen Ton
zu tref­fen ist un­se­re Form künst­le­ri­scher Wahr­heit. Die Freiheit
des Vib­ra­to ba­siert auf sol­cher Dis­zip­lin, wäh­rend ein bloß im­pul­
si­ver Aus­druck le­dig­lich Durch­einan­der schafft – ­eine Volks­weis­
heit, die für die Hand ge­ra­de­so gilt wie für das Herz.
Ich war mit ­einem gu­ten Ge­hör ge­seg­net und konnte rasch
sau­ber spie­len, doch ich brauchte meh­re­re Jah­re, bis mir das Vi­
bra­to leicht­fiel. Als es mir mit zwölf Jah­ren schließ­lich ge­lang, war
das ein epo­cha­les Er­eig­nis für mich, ähn­lich wie Er­folg im Sport
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für an­de­re Kin­der. Und wie im Sport, so hat auch die­ses Er­eig­nis
zwei Seiten: den Res­pekt an­de­rer Men­schen, den man ge­winnt,
weil man et­was gut zu tun ver­steht; und den Akt, in dem man
er­kun­det, wie man et­was macht. Da­raus ge­winnt man Be­frie­di­
gung und ein Selbst­wert­ge­fühl, das nicht auf der An­er­ken­nung
durch an­de­re be­ruht – als es mir ge­lang, ­einen prä­zi­sen, freien Ton
zu spie­len, emp­fand ich e­ ine tie­fe Freu­de, die ganz in sich selbst
­ruh­te.
Ein Jahr­
zehnt spä­
ter, im Al­
ter von sieb­
zehn Jah­
ren, führte
mich das Be­dürf­nis nach weite­rer mu­si­ka­­lischer Aus­bil­dung
1960 wie­der nach Chi­ca­go. Frank Mil­ler, Cel­list beim Chi­ca­go
Symph­ony Or­chest­ra, nahm mich als Pri­vat­schü­ler an, und ich
schrieb mich an der Uni­ver­si­tät ein. Ob­wohl ich die Mu­sik zu
meinem Be­ruf ma­chen woll­te, wünschte ich mir auch e­ ine ge­wis­se
All­ge­mein­bil­dung. An­dert­halb Jah­re lang trieb Frank Mil­ler mich
sanft, aber un­er­bitt­lich an, und ich er­ar­beitete ein Pro­gramm mo­
der­ner, aber zu­gäng­­licher Mu­sik – Bar­bers Cel­lo­so­na­te, Sa­lon­
mu­sik von Po­ulenc –, die Mil­ler mich eben­so ernst zu neh­men
zwang wie Bach oder Beet­ho­ven.
Dann schickte er mich nach New York, da­mit ich dort bei ­einem
Kol­le­gen Di­ri­gie­ren lern­te. Mil­ler, der selbst ein gro­ßer Cel­list
war, hegte den Wunsch, in die Fuß­stap­fen seines Leh­rers Tos­ca­
ni­ni zu tre­ten; aus Grün­den, die mir nicht ganz klar sind, be­steht
­eine enge Ver­bin­dung zwi­schen un­se­rem Ins­tru­ment und dem
Di­ri­gie­ren.
Ich ver­brachte neun Mo­nate in Green­wich Vil­la­ge und lebte
dort zu­
sam­
men mit e­inem an­
de­
ren Jun­
gen und e­inem Mäd­
chen in ­einer Ein­zim­mer­woh­nung in der Nähe ­einer Tra­ves­tie­bar,
wäh­rend ich mich da­rauf vor­be­reite­te, Bi­zets Car­men zu di­ri­
gie­ren. Wie vie­le an­de­re Mu­si­ker war ich ein Nacht­mensch, und
in die­sem Teil der Stadt war rund um die Uhr ge­öff­net; früh am
Mor­gen konnte man in der Bar et­was es­sen, Zi­ga­ret­ten kau­fen
und Un­ter­hal­tung fin­den. Doch das war nur Ent­span­nung. Ich ar­
beitete hart an der Be­herr­schung der »Mon­teux-Box«, ­einer von
Pi­erre Mon­teux ein­ge­führ­ten Di­ri­gier­tech­nik, bei der die Hand
des Di­ri­gen­ten sich in­ner­halb ­eines kleinen, in Schult­er­hö­he vor­
ge­stell­ten Kas­tens be­wegt, so dass jede kleinste Be­we­gung e­ ine
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