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Fußball im Mittelalter: Massenraufereien, Unfälle und
Tote
Monia Geitz · Freitag den 10. Juni 2016
Am 10. Juni 2016 beginnt die Europameisterschaft mit dem Eröffnungsspiel
zwischen Frankreich und Rumänien in Paris. Damit stehen wieder gekonnte
Spielzüge, Jubelszenen und große Emotionen auf dem Spielplan, aber auch
das eine oder andere brutale Foul. Doch wer glaubt, heute ginge es auf dem
Spielfeld grob zu, der würde sich über den mittelalterlichen Fußball wundern:
Das Spiel stand den damals allseits beliebten Steinschlachten und
Faustkämpfen in nichts nach.
Grobe Szenen wie heute im Fußball gab es im Mittelalter allemal. Foto:
Shutterstock/Natursports
Der mittelalterliche Fußball kam ohne Spielfeld aus, Stadttore dienten als Tor.
Fußball wird seit Jahrhunderten gespielt, das beweisen alte Quellen. In England und
Italien war dieser Sport spätestens seit dem zwölften Jahrhundert weit verbreitet. In
der Renaissance erhoben ihn die Medici-Fürsten zum Nationalspiel. Der
Kulturhistoriker Wolfgang Behringer von der Universität des Saarlandes hat
die Geschichte des Fußballs vom ersten Auftauchen in den Quellen bis heute
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erforscht.
Schutz vor harten Bällen
Warum sind an manch altem Gemäuer in englischen oder italienischen Altstädten die
Fenster auch der oberen Stockwerke vergittert? Warum betrieb man in schwindelnder
Höhe solch teuren Aufwand? Die Antwort von Wolfgang Behringer: „Fußball! Zu
Renaissance-Zeiten hatten die Menschen ihre Erfahrung damit: Sie wollten die teuren
Fenstergläser vor den harten Bällen schützen.“
Fußball ist weit älter, als man vielleicht vermuten würde. Zwar ist er keine antike
olympische Disziplin. Aber Behringer hat in unzähligen Quellen – in Chroniken,
Briefwechseln, Tagebüchern, Memoiren – Nachweise gefunden, die bis ins Mittelalter
reichen. Aus welcher Zeit stammt der älteste Beleg für den Fußball?
Repro aus „Kulturgeschichte des Sports“, C.H.Beck, S.181: Fresco von Jan van der Straet:
Calcio vor Santa Maria Novella, 1558 (Palazzo Vecchio, Florenz)
Der älteste Beleg für Fußball
Quellen aus dem Mittelalter nennen nur Ballspiele, ohne weitere Unterscheidung.
Ballspiele waren damals generell sehr beliebt. Etwa das dem Volleyball ähnliche
Pallone, das in Deutschland und Italien die populärste Sportart war. Als die Quellen
für Fußball einsetzen, gibt es diesen schon, so dass man über seine Anfänge nur
spekulieren kann.
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Unser BuchTipp:
Zur Sportgeschichte hat Wolfgang Behringer ein Buch veröffentlicht:
„Kulturgeschichte
des Sports. Vom antiken Olympia bis ins 21. Jahrhundert“ erschienen bei C. H. Beck,
2012, ISBN 978-3-406-63205-1
.
Der vielleicht älteste handfeste Nachweis stammt aus dem Jahr 1137: Es handelt sich
um einen Bericht vom Tod eines Jungen, der beim Fußballspiel in England starb“,
erklärt Behringer. „Ab dem Spätmittelalter waren England, Italien und auch
Frankreich die Fußball-Hochburgen“, sagt der Historiker. Ein Spiel dauerte oft so
lange es hell war, von morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Das Spielfeld konnte
kilometerlang sein. Stadttore dienten an manchen Tagen als Tor. Zum Beispiel waren
Faschingsdienstag und Aschermittwoch beliebte Termine für große Fußballturniere.
Mord und Totschlag waren verboten – alles andere nicht
Die Zahl der Spieler war nicht begrenzt und zimperlich ging es auch nicht zu. „Mord
und Totschlag waren verboten, sonst war der Körpereinsatz nicht groß
beschränkt. Massenraufereien, Unfälle, sogar Tote waren nicht selten – auch
Blutrache nach solchen Vorfällen ist bekannt.“ Und so wurde der Fußball des Öfteren
verboten: zwischen 1314 und 1667 insgesamt 30 Mal. „1424 wurde eine Geldstrafe
für das Fußballspielen verhängt“, sagt Behringer.
Ganze Dörfer und Stadtviertel traten gegeneinander an
In Italien traten beim Calcio genannten Fußball ganze Dörfer und Stadtviertel
gegeneinander an. „Die Medici, die wie der sportbegeisterte Cosimo I. selbst
spielten, erhoben das Spiel in Zeiten der Renaissance zu ihrem Markenzeichen,
machten ihn in Florenz zum Nationalsport“, erklärt der Historiker. Die Medici
pflegten eine galantere Spielart, zivilisierten das wilde Spiel. Zwar immer noch recht
grob, aber bereits mit genauen Regeln, versuchten die 27 Spieler einer Mannschaft
das gegnerische Zelt-Tor zu treffen. Der Ball, so eine Quelle aus dem Jahr 1625, war
aus weißem Leder und mit Luft gefüllt.
Große Spiele mit Zuschauermasse
„Regelmäßig fanden große Spiele auf der Piazza Santa Croce oder auf dem Platz
vor der Kirche Santa Maria Novella statt, was große Zuschauermassen anzog.
Ein Anlass, einen großen Calcio zu veranstalten, wurde bei jeder Gelegenheit
wahrgenommen, etwa bei Staatsbesuchen, Hochzeiten oder an Festtagen“, sagt
Behringer. Im Winter wurde das Spiel kurzerhand aufs Eis verlegt – so geschehen
1491, als in Florenz der Arno zufror. „Ebene, nicht zugebaute Flächen ohne Wälder
waren selten, da wurde die freie Eisfläche sofort zum Fußballplatz erklärt“, erläutert
er.
Deutschlands Fußballtradition
Und Deutschland? „Deutschlands Fußballtradition ist eher jung“, erklärt er. Hier
waren andere Ballspielarten beliebter, bei denen aber auch bisweilen der Fuß zum
Einsatz kam, etwa beim Pallone, bei dem die Spieler verhindern mussten, dass der
Ball auf den Boden fiel. In dieser Hinsicht – so fand Behringer in Tagebüchern heraus
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– könnte Herzog Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg im 16. Jahrhundert als
einer der ersten verifizierten Fußballer in Deutschland gelten. Der Herzog war sehr
sportlich. „In seinen Tagebüchern findet sich fast täglich der Eintrag ,Nachmittags
Pallone‘“, sagt Behringer.
Seit 1863 gibt es den Fußball, wie wir ihn heute kennen
Der Fußball in seiner heutigen Erscheinungsform entstand 1863: „In diesem Jahr
wurde Fußball in England Schulsport. Im Zuge dessen legte man die Spielerzahl
auf elf fest und formulierte Spielregeln. So wurden etwa grobe Fouls und die
Zuhilfenahme der Hände untersagt. Der traditionelle, kampforientierte Football wurde
in Rugby umbenannt. Aus einer Sportart wurden damit zwei“, erläutert der
Historiker. Die Gründung der meisten deutschen Fußballvereine erfolgte seit den
1890er Jahren.
Fußball wird zu Rugby
Bei den Olympischen Spielen der Neuzeit wurde Fußball olympische Disziplin,
so in Paris 1900 bei den zweiten Olympischen Spielen, damals siegte Großbritannien
im Fußballturnier, Frankreich im Rugby. „1908 kam es in London erstmals zu einem
richtigen Turnier zwischen Nationalmannschaften – das englische Team gewann
im Viertelfinale gegen Schweden 12:1 und das sogar ohne Trainer. 17:1 spielten
die Dänen im Halbfinale gegen Frankreich – Torschützenkönig Sopus Niesen
ging mit zehn Toren Rekord in die Geschichte ein. Im Finale siegte Großbritannien
gegen Dänemark“, sagt Behringer.
Wolfgang Behringer lehrt Geschichte der
Frühen Neuzeit an der Universität des
Saarlandes. Sein Arbeitsschwerpunkt ist
die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit.
Zu den inhaltlichen Schwerpunkten seiner
Forschung zählen europäische Frühe
Neuzeit in vergleichender Perspektive,
Klima und Umwelt, Verarbeitung von
Krisenerfahrungen,
Hexenforschung,
Herausbildung der Nationalstaaten,
Radikale Reformation, Städteforschung,
Hofkultur, Kommunikations- und
Mediengeschichte.
Prof. Dr. Wolfgang Behringer
(Foto:
Behringer)
Dieser Beitrag wurde publiziert am Freitag den 10. Juni 2016 um 13:46
in der Kategorie: Aktuelles, Top-Artikel.
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