PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Prof. Dr. Alfred Mertens, Mainz
Katholische Morgenfeier in hr 2-kultur am Sonntag, 5. Juni 2016
Recht und Gerechtigkeit. Oder: Der Richter, der sein Angeklagter ist
Wenn Sie diese Morgenfeier hören, bin ich bereits in der Toskana unterwegs. Ich kenne sie noch nicht und möchte mir so einen schon lange gehegten Wunsch erfüllen.
Ich möchte natürlich gern den schiefen Turm von Pisa sehen und San Gimigniano mit
den hohen Türmen der Adelsgeschlechter, das „mittelalterliche Manhattan“, wie man
es manchmal nennt; ich möchte Siena, die Stadt der heiligen Katharina besuchen.
Aber mein eigentliches Ziel ist die „Hauptstadt der Renaissance“, Florenz mit seinen
vielen künstlerischen Kostbarkeiten, vor allem eben aus der Zeit der Renaissance. Ich
kenne zwar vieles von Bildern; aber es ist doch etwas ganz anderes, unmittelbar da
zu sein und nicht nur die Kunstwerke selbst zu erleben, sondern auch etwas von der
Atmosphäre der Landschaft schnuppern zu können, in der sie entstanden sind.
Aber vielleicht spielt noch etwas anderes, bei mir bestenfalls Halbbewusstes, eine
Rolle; es ist mir erst bei der Vorbereitung dieser Morgenfeier deutlich geworden. Zum
ersten Mal bin ich der Renaissance vor vielen Jahren begegnet, in einem Roman:
Werner Bergengruens: „Der Großtyrann und das Gericht“. Er handelt „von den Versuchungen der Mächtigen und von der Leichtverführbarkeit der Unmächtigen“; so
schreibt Bergengruen selbst über seinen Roman. Er ist im Jahre 1935 veröffentlicht
worden, also bereits kurz nach dem Beginn der Naziherrschaft in Deutschland. Kein
Wunder, dass man den Roman damals auch als Zeugnis einer literarisch versteckten
Opposition gegen das Regime gelesen hat. Ein offener Widerstand wäre damals lebensgefährlich gewesen, aber oppositionelle Schriftsteller und andere Künstler haben Möglichkeiten gefunden, im Gewand der Verfremdung ihre Meinung zum Regime zu äußern, und viele Menschen haben das verstanden. So wird erzählt: Manche Soldaten haben damals, als sie wenige Jahre später in den Zweiten Weltkrieg
ziehen mussten, neben der Bibel auch diesen Roman vom „Großtyrann(en) und
(dem) Gericht“ in ihrem Tornisten bei sich getragen haben. Er war ihnen ein Zeugnis
der Hoffnung, dass die deutsche Tyrannei damals durch kein „tausendjähriges
Reich“ hindurch würde bestehen können.
Jetzt habe ich einen langen Anlauf gebraucht, um zu meinem Thema zu kommen:
Toskana – Florenz – Renaissance – und Bergengruens Roman „Der Großtyrann und
das Gericht“, dessen Handlung in der Renaissance angesiedelt ist. Ich möchte mit
Ihnen ein paar Überlegungen anstellen zum Thema „Recht und Gerechtigkeit“, ein
unsterbliches Thema. Es hat damals, in der Renaissance, eine Rolle gespielt und sicher nicht nur bei dem einen „Großtyrannen“, natürlich auch 1935 und danach; es hat
aber auch schon in den Erzählungen des Alten Testaments seine Bedeutung und das
hat sich bis heute nicht geändert: es ist immer wieder aktuell.
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Ich habe für diese Morgenfeier Musik aus der Renaissance ausgewählt. Hören Sie
bitte als Erstes „Lauda Jerusalem“ des Spaniers Gabriel Diaz; er hat von 1590 bis
1638 gelebt.
Musik 1: Gabriel Diaz, Lauda Jerusalem (CD „The glory of Gabrieli. Empire Brass
Quintet and Friends“; Leitung: Rolf Smedvig. Telarc digital; CD-80553. Spur 9. 2,51’).
„Recht und Gerechtigkeit“, das ist ein stets aktuelles Thema. Es hat sich mir schon vor
vielen Jahren einmal erschlossen bei der Lektüre von Werner Bergengruens Roman
„Der Großtyrann und das Gericht“.
Worum geht es? In einer oberitalienischen Stadt ist ein Mönch, Fra Agostino, im Garten des Großtyrannen erdolcht aufgefunden worden und der Großtyrann gibt den Auftrag, den Mörder ausfindig zu machen. Und nun beginnt ein verwirrendes Durcheinander von Verdächtigungen, Anklagen, Selbstbezichtigungen und Widerrufen. Alle,
die in der Umgebung des Herrschers leben, scheinen in irgendeiner Weise betroffen
zu sein. Jede und jeder wurde in Versuchung geführt und ist in Schuld gefallen, auf
diese oder jene Weise. Am Schluss versammelt der Großtyrann alle, die in den Fall
verwickelt sind, und hält Gericht. Er bekennt, er selbst habe Fra Agostino wegen eines
Verrats gerichtet: Der Richter ist sein eigener Angeklagter. Er habe aber auch sehen –
und zeigen – wollen, wie Menschen miteinander und gegeneinander umgehen, wenn
sie in den Dunstkreis eines schweren Verbrechens geraten.
Was der Roman da an allzu menschlichen Verhaltensweisen aufdeckt, ist wahrhaft
bestürzend. Spontan ist mir die Frage gekommen: Musst du dir vielleicht eingestehen,
dass auch du in einer entsprechenden Situation zu Lug und Trug, zu falscher Verdächtigung und zu ungerechtfertiger Anklage fähig gewesen wärst, um deinen Kopf
aus der Schlinge zu ziehen? Nicht gerade ein sehr schmeichelhafter Gedanke! Sind
das wir Menschen, sind wir so?
Selbst die positivste Figur im Roman, der arme Färber Sperone, der den Mord fälschlicherweise auf sich nimmt, um andere zu schonen – selbst der findet keine Gnade in
den Augen des Großtyrannen; seine Schuld bestehe darin, sich selbst als „einen Heiligen zu erblicken“, wie es da heißt. Der Großtyrann selbst aber muss sich sagen lassen, dass er wie Gott sein und über alle anderen habe richten wollen: die Ursünde
schlechthin. So hält der Roman seinen Lesern – und heute auch denen, die darüber
nachdenken – unbarmherzig einen Spiegel vor.
Das letzte Wort des Romans ist freilich ein Wort der Vergebung. Der Großtyrann lässt
alle Akten zu dem Fall verbrennen und er bittet die im Gerichtssaal Versammelten um
Vergebung. Und sie vergeben ihm. Schließlich wünscht er, alle Betroffenen mögen
einander verzeihen, was sie sich gegenseitig angetan haben, und sie verzeihen einander. Der Großtyrann aber muss erschüttert bekennen, dass ein anderer, eben der
arme Färber Sperone, für ihn habe sterben wollen. Diese in ihrem Rang unschein2
barste Gestalt des Romans wird zur wichtigsten Figur, zu einem Bild Jesu; von ihm –
und von denen, die ihm nachfolgen wollen – sagt ja das Neue Testament:
„Ihr wisst, dass ... die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein
will, der soll euer Diener sein. ... Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben
hinzugeben als Lösepreis für viele.“ (Mk 10,42-45)
Hören Sie jetzt bitte eine Canzon von Giovanni Gabrieli, der von 1555 bis 1612 gelebt
hat.
Musik 2: Giovanni Gabrieli, Canzon Septimi Toni NO 2 (CD wie oben unter Musik 1.
Spur 2. 2,55’).
Das Thema von Recht und Gerechtigkeit, von Macht und ihrem Missbrauch ist ein
uraltes Thema; es ist wohl so alt wie die Menschheit selbst, und es sieht nicht gerade
so aus, als könnten wir heutzutage besser damit umgehen als frühere Zeiten. Deshalb
möchte ich jetzt mit Ihnen einen Blick in das Alte Testament werfen. Da gibt es eine
Geschichte, die in verblüffender Weise vorweg zu nehmen scheint, was Werner Bergengruen in seinem Roman „Der Großtyrann und das Gericht“ erzählt.
König David hat mit Batseba die Ehe gebrochen und ihren Mann Urija ermorden lassen. Da schickt Gott den Propheten Natan zu David und dieser erzählt ihm eine kleine
Geschichte: Ein reicher Mann bringt es nicht fertig, für einen unverhofften Gast ein
Tier aus seiner eigenen großen Herde zu nehmen; er raubt vielmehr einem armen
Nachbarn dessen einziges Lämmchen und lässt es für seinen Gast zubereiten (vgl. 2
Sam 12,1-4).
„Da geriet David in heftigen Zorn über den Mann und sagte zu Natan: So
wahr der Herr lebt: Der Mann, der das getan hat, verdient den Tod. Das
Lamm soll er vierfach ersetzen, weil er das getan und kein Mitleid gehabt
hat. Da sagte Natan zu David: Du selbst bist der Mann. So spricht der Herr,
der Gott Israels: Ich habe dich zum König von Israel gesalbt ... und wenn
das zu wenig ist, gebe ich dir noch manches andere dazu. Aber warum hast
du das Wort des Herrn verachtet und etwas getan, was ihm missfällt?“ (2
Sam 12, 5-9)
„Du selbst bist der Mann.“ In der biblischen Erzählung muss der König David erst auf
seine zweifache Untat hingewiesen werden; bei der kleinen Geschichte Natans von
dem reichen und dem armen Mann hat er noch nichts geahnt,. Es gibt kaum eine
dramatischere Stelle in der Bibel als dieses „Du bist der Mann“. So zerreißt der Prophet die fromme Selbsttäuschung des Königs und entlarvt seinen Eifer für Recht und
Gerechtigkeit als das, was es war: eine Regel, die zunächst einmal für die anderen
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gelten soll, für die Untertanen, aber nicht für den Mächtigen selbst: eine halbierte Gerechtigkeit.
In Werner Bergengruens Roman hat der Großtyrann im vollen Wissen um das, was er
getan hat, den ganzen Prozess selbst inszeniert. Er hätte von Anfang an sagen können: Ich selbst bin der Mann. Das hat er nicht getan, und heraus gekommen sind die
ganze Armseligkeit und Niedertracht, die Versuchbarkeit und die Ohnmacht, die – neben allem Willen zum Guten – halt auch im Menschen stecken. Und beide, der Roman
sowohl als auch die biblische Erzählung, wollen sagen: Seht zu, dass ihr ehrlich und
wahrhaftig mit euch umgeht! Seht zu, dass ihr nicht in den Untiefen und Abgründen
eurer selbst versinkt! Wir sind leider nicht nur „Bild und Gleichnis Gottes“.
Der Komponist der folgenden Canzon ist wiederum Giovanni Gabrieli.
Musik 3: Giovanni Gabrieli, Canzon a 12 (CD wie oben unter Musik 1. Spur 19.
3,03’).
Recht und Gerechtigkeit, Macht und missbrauchte Macht – wir werden nicht sagen
können, das seien Themen von gestern und vorgestern. Beispiele dafür, dass es
Themen von heute sind, gibt es in Hülle und Fülle.
So wird von Flüchtlingen berichtet, dass sie in ihren Unterkünften von aggressiven
Deutschen belästigt werden, Christen unter ihnen nach wie vor aber auch von ihren
muslimischen Schicksalsgefährten. „Es hat sich für uns nichts geändert“, sagen sie,
„wir können auch hier nicht in Ruhe und Frieden leben.“ Dabei wollen sie doch nichts
anderes als dies. Die am meisten Leidtragenden sind – wie immer – die Kinder, die
sich oft genug allein und auf abenteuerlichen Wegen durchgeschlagen haben. Sie
alle, die Großen wie die Kleinen, brauchen jetzt kaum etwas mehr als Recht und Gerechtigkeit und eine starke Hand, die sich ihrer annimmt und sie vor Missbrauch und
Unrecht schützt.
Dabei besteht Gerechtigkeit doch gerade darin, dass jeder und jedem zuteil wird, worauf sie rechtens einen Anspruch haben. Und das gesetzte Recht hat das – zum Beispiel in unserem Grundgesetz – auch so fest geschrieben. Macht wiederum ist nötig,
das auch durchzusetzen; sonst wäre das geschriebene Recht die Tinte nicht wert, mit
der es geschrieben ist.
Recht und Gerechtigkeit und eine Macht, die sich nicht missbrauchen lässt, sind also
unverzichtbar; ohne sie kann eine Gesellschaft nicht bestehen. Und doch drängt sich
allenthalben der Eindruck auf: sie sind noch nicht das Letzte. Sie verweisen auf etwas
ganz anderes und Neues hin – wie Linien, die sich ausziehen lassen auf einen gemeinsamen Zielpunkt hin. Dieser Punkt heißt Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Liebe.
Josef Pieper, der wie kaum ein anderer die mittelalterliche Theologie eines heiligen
Thomas von Aquin für heute „übersetzt“ hat, hat das einmal so beschrieben:
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„Durch das bloße Berechnen dessen, was (einem) zusteht“, also durch bloße Gerechtigkeit, „wird das gemeinsame Leben notwendigerweise unmenschlich. Dass der Gerechte auch das Nicht-Zustehende gebe“, also
das, worauf ein anderer keinen eigentlichen Anspruch hat, „dies ist vor allem deswegen vonnöten, weil die Ungerechtigkeit eine durchschnittliche Erscheinung in der Welt ist.“ 1
Und dann zitiert er Thomas von Aquin selbst:
„Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung“, aber
„Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit.“ 2
Den Flüchtlingen in unserem Land und allen, die es an die Ränder der Gesellschaft
verschlagen hat, möchte man beides wünschen: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Das ist heute nötig. Im Grunde war es aber noch nie anders, weder zur Zeit eines
Großtyrannen in der Renaissance noch zur Zeit des Alten Testaments.
Hören Sie bitte zum Schluss noch eine Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina; er
hat von 1525 bis 1594 gelebt. Seiner Musik hat er den Titel gegeben: „Vos amici mei
estis – Ihr seid meine Freunde“.
Musik 4: Giovanni Pierluigi da Palestrina, Vos amici mei estis (CD wie oben unter
Musik 1. Spur 10. 3,20’)
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Über die Gerechtigkeit, Kösel-Verlag München 1954, 126.
Ebd., 127.
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