SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
SCHICHTEN DER SEELE
WIE ERFAHRUNGEN FRÜHERER GENERATIONEN UNS
PRÄGEN
VON FRIEDERIKE WEEDE
SENDUNG 05.06.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
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Musik (sphärisch, seelenmäßig)
Zitator: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich heraus geführt hat aus dem Land
Ägypten, aus einem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter
haben. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht
verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein
eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der
Väter an den Söhnen, bis in die dritte und vierte Generation.
Sprecher: Ist Jahwe, der Gott der Bibel, ein Gott mit einem
Elefantengedächtnis, ein nachtragender Gott? Oder ist es ganz einfach eine
menschliche Grunderfahrung, die aus den Worten des Buches Exodus spricht:
Die Erfahrung, dass es Erlebnisse gibt, Gefühle – glückliche wie schreckliche, in
den Worten der Bibel Segen und Fluch – Erfahrungen, die sich nicht innerhalb
einer Lebensspanne aufarbeiten lassen. Die weiter wirken in Kindern und
Kindeskindern und möglicherweise sogar darüber hinaus.
Musik
Sprecher: Das menschliche Gedächtnis ist schwach. Studien zeigen: Unsere
Gedächtnisspanne umfasst gerade einmal sieben Elemente. Nennt man
Versuchspersonen mehr als sieben Worte, Zahlen, Begriffe hintereinander, die
sie sich merken sollen, vergessen sie in der Regel sofort etwas. Die Seele
hingegen hat ein scheinbar unendliches Fassungsvermögen.
Tropfendes Wasser oder hallender Sound wie in einem Gewölbe
Sprecher: Die Seele ist weit mehr als ein göttlicher Hauch, der Menschen bei
der Zeugung verliehen, sozusagen in fertiger Form eingegeben wird und der
sie nach ihrem Tod – etwa durch den Mund, wie es dem Volksglauben
entspricht – wieder verlässt, um in den Himmel, das Jenseits oder gar in einen
neuen Körper zu entweichen. Die Seele gehört untrennbar zum Körper, formt
diesen und wird von ihm geformt. Sie wächst und entwickelt sich ein Leben
lang. Der evangelische Theologe Christoph Gestrich ist überzeugt: Unsere
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Seele ist ein Konstrukt, ein organisches Netz, gestrickt aus Beziehungen. Und
wie diese verändert sich auch die Seele im Laufe des Lebens, so Gestrich.
ZSP Gestrich: „Es geht darum, dass wir den Menschen und überhaupt viele
Wesen in ihren Beziehungen erfassen. Beziehungen machen manchmal die
Existenz und das Wesen einer Sache aus. Denken Sie zum Beispiel an die Zeit.
Die Zeit, die ist natürlich eine Wirklichkeit. Aber sie ist nur dadurch eine
Wirklichkeit, dass ein Weg und ein etwas, was sich bewegt, in einer Beziehung
zueinander stehen. Und auch der Mensch ist so konstituiert, dass ihn seine
Beziehungen im Wesentlichen ausmachen.“
Sprecher: Unausgeglichene Beziehungen, Verstrickungen, wie Psychologen
sagen, hinterlassen demnach immer Verletzungen im Netz der Seele. Sie
können vernarben, sie können sich aber auch wie Laufmaschen durch das
ganze Leben ziehen und es instabil machen. An der Seele reifen hingegen,
sich seiner seelischen Wurzeln bewusst werden, seiner Kraftquellen – das
stabilisiert das Netz, ist also „Spiritual Care“ im besten Sinne, Seelenpflege an
sich selbst.
ZSP Gestrich: „Früher ist die Seele als Substanz aufgefasst worden, aber nicht
als Beziehung. Und ich möchte sie als genau das sehen. Es ist Beziehung, es ist
Prozess, angesprochen und gerufen Werden und dadurch in eine bestimmte
Richtung gehen und sich entwickeln. Das ist bei der Seele so, dass sie ein Ohr
dafür hat: Sie spornt an, nicht stehen zu bleiben, sondern sich zu öffnen, sich
zu entfalten, sich zu geben und etwas zu tun oder zu werden – biblisch
gesprochen – zu Gottes Lob. Zusammengefasst ist die Seele so etwas wie die
Agentin der Liebe. Die Agentin des Reiches Gottes, das uns dazu beruft,
etwas Schönes zu werden.“
Sprecher: Beziehung, Liebe, Sozialsinn, Nächstenliebe – Traumata hindern
Menschen gerade in diesem Bereich daran, ihre Seele voll zu entfalten.
Machen es ihnen schwer sich auf Verbindlichkeiten einzulassen, ob es um den
Wohnort, den Job oder einen festen Partner geht. Die Kölner Journalistin
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Sabine Bode hat in ihren Bücher die versteckten Traumata der Kriegskinder
und sogar der Kriegsenkel untersucht und festgestellt, dass die
Kriegsgeneration – ihre Schuld, Scham, ihren Verlust, ihre Todesangst in
veränderter Form weitergegeben hat an die Kinder und Kindeskinder, die
doch Krieg eigentlich nur aus Geschichtsbüchern kennen. Bis ins zweite und
dritte Glied.
Was die Verfasser des Exodusbuches einst niederschrieben, wird heute
mehr und mehr durch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt:
Spiegelneuronen übertragen seelische Zustände der Eltern auf die Kinder –
per „Gefühlsansteckung“. Natürlich spielt die Erziehung eine große Rolle. Und
sogar die Chromosomen sind mitverantwortlich für die Prägung der Seele, wie
man heute weiß. Diese Erkenntnisse spielen auch für die christliche Seelsorge
eine große Rolle. Hat man in der Theologie – und gerade in der
evangelischen – das Reden von der Seele lange vernachlässigt, weil man
einem esoterischen oder vermeintlich heidnischen Menschenbild nicht das
Wort reden wollte, so entdeckt man nun den Menschen als Seelenwesen neu
– in all seiner Versöhnungs- und Heilungsbedürftigkeit, beobachtet zumindest
Christoph Gestrich.
ZSP Gestrich: „Viele sagen heute, die Psychotherapie hat die Seelsorge
überflüssig gemacht, sie trägt nichts bei zur Spiritualität und darum müssten wir
ein kritisches Verhältnis zur Psychotherapie einnehmen. Ich habe eine Zeit
lang bei Tillich studiert und der hat das anders gesehen. Er sagt: Die
Psychotherapie gehört zu den guten Werken und ist die Möglichkeit, dass ein
in sich verschlossener Mensch, der die Öffnung zum Kollektiven hin nicht
schafft und der darum einen steinernen Gottesbegriff hat oder gar keinen,
dass der für die Liebe geöffnet wird und dass er auch wieder ein Ohr für Gott
gewinnt.“
Mönchischer Gesang
Sprecher: Die frühen christlichen Mönche, die sogenannten Wüstenväter,
Einsiedlermönche in der nordafrikanischen Wüste, verbrachten ihr Leben in
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Kontemplation und Gebet. Sie haben die Seele als tiefes, unruhiges Gewässer
gedeutet. Durch die bewegte, gekräuselte Wasseroberfläche sieht man nicht
auf den Grund. Erst wenn es windstill wird und die Oberfläche zur Ruhe
kommt, vermag der Betrachter zugleich sein Spiegelbild im Wasser zu
erkennen und in die Tiefe zu schauen. Wie in einem tiefen Teich, sammeln sich
in den dunklen Gewässern der Psyche die Erfahrungen, Eindrücke,
Anmutungen, Gefühle, Leidenschaften, Ängste und Sehnsüchte eines ganzen
Lebens.
Musik (leicht verrückt, schräg, passend zum Psychodrama)
Sprecher: Und vielleicht sogar mehr als nur eines Lebens.
Gong
Sprecher: Der Psychologe Franz Ruppert spricht lieber von der Psyche als von
der Seele. Doch auch er hat die Erfahrung gemacht, dass die Psyche durch
Verletzungen der Vergangenheit in der Gegenwart eingeschränkt sein kann.
Die Seele gespalten sein kann. Generationenübergreifend.
ZSP Ruppert: „Wenn erst einmal ein Trauma in so einem Beziehungssystem wie
einer Familie da ist, dann hat das Auswirkungen auf die Beziehungen. Dass
man irgendwo aus der inneren Gespaltenheit heraus versucht eine Beziehung
zu führen. Und das löst ganz viele Konflikte aus und viel gegenseitiges
Missbrauchen.“
Sprecher: In seiner Münchner Praxis macht Franz Ruppert so genannte
„transgenerationale Aufstellungen“. Ein Patient formuliert ein Anliegen zu
seinem seelischen oder körperlichen Problem. Dann wählt er für jeden Begriff
seines Anliegens eine Person als Stellvertreter und positioniert diese im Raum.
Im gemeinsamen Psychodrama der Beteiligten kristallisieren sich in der
Aufstellung die verborgenen Hintergründe des aktuellen Konflikts heraus,
erklärt Franz Ruppert.
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ZSP Ruppert: „Die Menschen kommen ja jetzt nicht und sagen: Ich bin
traumatisiert. Sie kommen und sagen: Ich habe Beziehungsprobleme,
Bauchschmerzen, Kopfschmerzen,. Ängste, ich kann nicht einschlafen. In der
Regel liegen selbst hinter einfachen Symptomatiken relativ schwere
Traumaerfahrungen. Darum geht es dann, da eine Verbindung herzustellen.
Und so kommt man auf das Trauma und darauf, was Trauma spezifisch
macht, nämlich diese Aufspaltung unsrer Psyche, so dass das Ich, das
Erinnern, das Fühlen, das Wahrnehmen, dass die nicht mehr miteinander
arbeiten, sondern gegeneinander arbeiten. Und das Ziel der Therapie wäre es
dann, das Aufgespaltene wieder zu einer Einheit zusammen zu führen, die
wieder tut, was das Ich will und entscheidet.“
Musik (leicht schräg, Gesangsfetzen, Ticken)
Sprecher: Mit der so genannten „empirischen Wende“ der 1970er Jahre hielt
in der Theologie die Erkenntnis Einzug, dass man an Pädagogik, Soziologie,
Psychologie anknüpfen muss, um den Anschluss an wissenschaftliche Diskurse
der Zeit nicht zu verpassen. Seelsorge bekam infolgedessen erstmals eine
therapeutische und systemische Perspektive. Der Mensch wird nicht länger
losgelöst von seinem sozialen Kontext betrachtet, sondern in all seinen
seelischen Verstrickungen. Die Erkenntnis über den Ursprung eines Problems ist
der erste Schritt in Richtung Heilung, sagt Franz Ruppert. Natürlich kann eine
Aufstellung nicht alle Konflikte lösen, schon gar nicht in der Vergangenheit.
ZSP Ruppert: „Das ist eine Illusion, die teilweise vorhanden ist, als könnte man
Probleme in der Vergangenheit lösen, vielleicht sogar noch für jemand
anderen. Das geht nicht. Die Dinge, die passiert sind, sind passiert. Was wir
erleben, sind die Auswirkungen. Und darum geht es, dass wir an denen so
arbeiten, dass die Traumatisierung sich auflösen kann.“
Sprecher: Besonders an der Aufstellung ist der Part der Stellvertreter: Sie
agieren und reagieren nicht als bloße Platzhalter im Raum, sondern wie eine
Art Antenne, die bestimmte Gefühlsresonanzen auffängt und so die
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Verstrickungen der Seele sichtbar macht. Durch „repräsentierende
Wahrnehmung“ empfinden sie und fühlen sogar körperlich wie diejenigen, die
sie repräsentieren. Keine Zauberei, sagt Franz Ruppert. Möglicherweise sind
dafür wiederum die Spiegelneuronen verantwortlich.
ZSP Ruppert: „Wir haben die Möglichkeit aufzunehmen von anderen. Über die
Stimme, Gefühle, den Blick, die Hauttemperatur beim Berühren der Hände,
das sind ja alles Informationen. Und dann scheint es da noch eine Reihe von
Spezialphänomenen zu geben im Gehirn, wie die Spiegelneuronen, die in der
Lage sind, unmittelbar zu imitieren und quasi mitzuerleben. Unsere Psyche ist
perfekt darauf vorbereitet, diesen Resonanzboden zu bieten.“
Sprecher: In den Aufstellungen zeigt sich, wie untrennbar Seele und Körper
miteinander verbunden sind. Der Körper kann seelische Signale übermitteln
und empfangen. Genau so kann die Seele körperliche Reaktionen auslösen.
Um Traumata zu heilen, die – wie er sagt – zu einer Spaltung der Psyche
führen, muss man immer den ganzen Menschen in den Blick nehmen, meint
Franz Ruppert.
ZSP Ruppert: „Dieser Dualismus der abendländischen Philosophie, also seit
Descartes haben wir ja den Leib-Seele-Dualismus, den müssen wir irgendwie
überwinden. Denn der führt dazu, dass diese Spaltungen, mit denen wir ja eh
schon solche Probleme haben, dass wir die noch durch die Wissenschaften
verstärken: Hier ist die Medizin, die kümmert sich um den Körper, da ist die
Psychologie, die kümmert sich um die Seele. das funktioniert so nicht.“
Musik (Trommeln, Klangschalen)
Sprecher: Ursula Yngra-Wieland sitzt entspannt zwischen orangefarbenen
Kissen und Klangschalen und trinkt Kräutertee.
Trommeln verklingt
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Sprecher: In ihrer Praxis in Kirchheim bei München führt die Heilpraktikerin für
Psychotherapie Gesprächstherapien nach der Methode des USamerikanischen Psychologen Carl Rogers durch, Traumatherapien, aber auch
Hypnosesitzungen oder astrologische Beratungen. Als Symbol für ihre Arbeit
prangt an der Praxistür von Ursula Yngra-Wieland das Bild eines Phönix. Für die
Heilpraktikerin symbolisiert das Aufsteigen aus der Asche das Durchleben
einer Krise, aus der man auch gestärkt und gewandelt hervorgehen kann. So
interpretiert sie ihre therapeutische Arbeit – als Hilfe zur „Selbstwerdung“.
ZSP Yngra-Wieland: „Man bringt die Veranlagung mit, die zum Beispiel im
Horoskop sichtbar wird. Das sind die Bausteine der Seele, die man mitbringt.
Der Teil der Seele, der man schon immer war und immer sein wird. Dann wird
man natürlich durch die Eltern geprägt, das beginnt schon in der
Schwangerschaft. Dann geht es durch die Erziehung weiter und dadurch
bekommen wir auch das Sippengedächtnis mit. Also das, was unsere Eltern
und Großeltern schon tragen. Und je nachdem, wie viel Trauma da drin ist,
tragen wir daran mit und haben mehr oder minder Probleme. Flucht ist ein
gutes Stichwort. Ich habe das immer mal wieder gehabt, dass Menschen
kamen, die ruhelos sind, die nicht ankommen konnten. Und da war es dann
oft so, dass das Menschen waren, deren Großeltern vertrieben wurden
damals durch den Krieg.“
Sprecher: Yngra-Wieland ist überzeugt: Die Vergangenheit wirft lange
Schatten. Unter Umständen so lange, dass die Menschen ihr Seelenerbe sogar
aus einem früheren Leben übernommen haben oder von einem entfernten
Vorfahren. In Reinkarnationstherapien oder Rückführungen finden ihre
Klienten Zugang zu den Wurzeln ihrer Seele, die weitaus älter sind als sie selbst.
Unter Umständen hunderte Jahre, so die Therapeutin.
ZSP Yngra-Wieland: „Das geht durch Trance, durch Hypnose. Und dann
kommen Bilder. Und mir ist es sehr wichtig, dass ich denen nicht sage: Dein
Großvater hat so und so, denn das sehe ich hier in meiner Glaskugel, sondern
ich versuche, den Menschen anzuleiten, dass er seine eigenen Bilder
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entwickelt, die aus ihm rauskommen. Und das kann man im Gespräch oft in
Relation setzen. Das müssen nicht immer großartige Dramen sein. Das kann
sein, dass eine Magd von ihrem Dienstherren vergewaltigt wurde. Was
natürlich eine Tragödie ist, aber damals eben noch mehr an der
Tagesordnung war als heute.“
Sprecher: Aber nicht nur seelische Traumata werden von Generation zu
Generation weitergegeben. Auch Charakter, Talente, persönliche Vorlieben
haben nach Yngra Wielands Erfahrung häufig Wurzeln, die tief in die
Familiengeschichte hinein reichen.
ZSP Yngra-Wieland: „Ich finde das oft, wenn man Arbeit mit dem
Genogramm macht, also mit den Ahnen, wenn man so will, bis zu den
Urgroßeltern. Dann war da vielleicht irgendeine Urgroßmutter mit einer sehr
großen Liebe zu Heilpflanzen. Und dann entdeckt irgendeine Enkelin oder
Urenkelin das auch bei sich, ohne dass es durch die Eltern oder die Familie
gefördert worden wäre. Sowas gibt es natürlich auch: Talente, Ressourcen.
Das ist ja auch eine große Stärke, die wir von unseren Ahnen bekommen.
Wenn man sich vorstellt: Hinter uns stehen unsere Eltern und hinter denen
stehen deren Eltern. Das ist ein Riesenstrom, eine Riesenenergie, die durch uns
fließt. Und wenn man überhaupt keinen Bezug dazu hat, dann steht man sehr
verloren da und sehr unsicher im Leben.“
Gong
Sprecher: Das Erbe der Ahnen als früheres Leben. Das Christentum freilich
kann mit dem Gedanken an einen wiederkehrenden Lebenskreislauf nichts
anfangen. Im Gegenteil: Die christliche Theologie betont die Einzigartigkeit
des menschlichen Lebens. Ein Großteil der Menschen, übrigens auch der
Christen, glaubt heute hingegen an Wiedergeburt oder Seelenwanderung.
Unsere wachsende Kenntnis über die weit verzweigten Wurzeln der Seele
könnte hier eine Brücke schlagen. Denn Wiedergeburt ist ja nur eine
Bezeichnung der Erfahrung, dass wir mehr sind als die Summe aus
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Lebensgeschichte und Genen. Die Idee einer Weltseele wie beim
Philosophen Platon, Carl Gustav Jungs kollektives Unbewusstes oder auch das
christliche Bekenntnis zur communio sanctorum, zur Gemeinschaft der
Heiligen – letztlich alles Annäherungen an ein und dieselbe Erfahrung, dass
unsere Geschichte über die Eckdaten der Biografie hinausreicht.
Musik (Psalmengesang)
ZSP Müller: „Wir sprechen vom Lebensskript, das ein Mensch im Laufe des
Lebens schreibt. Von seiner Psychografie, die ihn prägt. Und die ist genetisch,
aber auch durch Erziehung. Wenn die Kinder jetzt Negatives erleben.
Abwesenheit der Eltern oder Strenge, Perfektionismus, Angst, Leistungsdruck
und dergleichen mehr, dann prägt das die Seele und zwar nicht gut. Wir
reden von Lebenslügen: Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht, mich mag
keiner – Lebenslügen. Das ist auch der Grund, warum Patienten zu uns
kommen. Die leiden, aber sie wissen nicht warum.“
Sprecher: Der Pallottinerpater und klinische Psychologe Jörg Müller leitet in
Freising die so genannte „Heilende Gemeinschaft“, eine Art christliche
Kurzzeittherapie für Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen und
psychosomatischen Beschwerden. Für drei Wochen gehen die Klienten im
Tagungshaus der Pallottinergemeinschaft in Freising in Klausur. Unter der
Anweisung von Therapeuten der unterschiedlichsten Fachgebiete betreiben
sie die Sorge um die eigene Seele. Viele von ihnen leiden unter den
verschiedensten Formen von Traumata, die sie zum Teil von ihren Eltern oder
sogar Großeltern „geerbt“ haben, erklärt Pater Jörg Müller.
ZSP Müller: „Das ist heute uns allen bekannt, dass man von einer Erbschuld
zwar theologisch spricht, aber psychologisch ist das eine weitergegebene
ungelöste Schuld und Problematik in der Familienstruktur. Etwa wenn ein
Großvater zum Beispiel Nazi war, totgeschwiegen wurde in der Familie, dann
kann es sein, dass nun ein Enkel das Gefühl hat, nicht gewollt zu sein oder
ausgegrenzt zu sein. Wer meine Gebote hält, wird bis zur letzten Generation
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gesegnet, wer sie nicht hält, der muss die Konsequenzen bis zur dritten
Gegenration tragen. Deswegen forschen wir nach bis zur dritten Generation.“
Sprecher: Nach der dritten Generation ist seiner Ansicht nach kein sinnvoller
Zugang zu alten Verletzungen mehr möglich. Wenn man nur weit genug
zurückgeht, findet jeder irgendeinen Makel in seiner Vorgeschichte. Unter
Umständen kann die Traumatherapie sogar zur Sucht werden, warnt Jörg
Müller.
ZSP Müller: „Man deutet dann unter Umständen alle Problemchen: Ja, da
muss was gewesen sein. Das ist gefährlich. Ich denke, das Angebot aus dem
Exodus „bis zur dritten Generation“ sehr sinnvoll und mehr nicht.“
Sprecher: Von den Verletzungen ihrer Seele – ihren „Lebenslügen“, wie Pater
Müller es nennt, wissen zu Beginn der Therapie die Wenigsten. Für die
Patienten äußern sie sich vordergründig als Burn-Out-Syndrom, Depression,
Angstzustände, Panikattacken oder psychosomatisch, als chronische
Schmerzen, Hautkrankheiten, Bluthochdruck, Haarausfall, Schlafstörung.
ZSP Müller: „Nicht alles ist gleich psychisch bedingt. Aber es hat schon Einfluss.
Und wir müssen halt auf die Organsprache schauen. Der Magen reagiert
sauer, wenn ich es nicht tue, die Haut schlägt aus, wenn ich es nicht tue, das
Blut kocht vor Wut, wenn ich es nicht tue. Also wir müssen schauen, was sagt
der Körper.“
Sprecher: Die Palette der Methoden, die in der Heilenden Gemeinschaft
angewendet werden, ist umfassend: Einzelgespräche, Gruppensitzungen,
Atem- und Körpertherapie, Aufstellungen, Kunsttherapie, Bibliodrama,
autogenes Training, Gebet. Nicht immer braucht ein Klient das ganze
Repertoire, um zum Kern seines Problems vorzustoßen. Doch mindestens zwei
verschiedene therapeutische Zugänge sind erfahrungsgemäß nötig, um der
eigenen Seele auf die Schliche zu kommen, sagt Jörg Müller. Dann gibt die
Seele vergangene Geschichten preis, verblichene Personen, gut gehütete
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Geheimnisse, die den Klienten nicht bewusst sind, die aber ihr Leben Tag für
Tag beeinflussen.
ZSP Müller: „Wir haben festgestellt: Wo Abtreibungen stattfanden, in der Regel
sind dann die Kinder und Enkel gestört insoweit, dass sie das Gefühl haben,
nicht gewünscht zu sein. Wir sind verwundert und erstaunt oft, wenn in einer
Aufstellung fremde Personen Rollen übernehmen und Dinge sagen, die sie
gar nicht wissen können. Etwa: Ich fühle mich irgendwie unerwünscht, ich
habe das Gefühl, gar nicht leben zu dürfen. Dann fragen wir nach: Was war
denn da. Und spätestens dann kommt die Wahrheit raus: Da war ein Suizid,
ein Mord, eine Abtreibung. Da war was.“
Sprecher: Nach drei Wochen Therapie machen Jörg Müllers Klienten in der
heilenden Gemeinschaft mit den Brüchen in ihrer Lebensgeschichte ihren
Frieden und vergeben – soweit es ihnen möglich ist – sich selbst und anderen.
Versöhnung gehe dann noch ein Schritt weiter, so der Psychologe. Ein Schritt,
der unter Umständen ein Leben lang andauern kann, wie Müller betont.
ZSP Müller: „Unterscheiden wir zwischen vergeben und versöhnen. Vergeben
ist ein von Gott gewollter Willensakt: Ich werfe es Dir nicht mehr vor. Aber
bleibe mir vorerst aus den Augen. Es gilt die Regel: Nur Gekränkte kränken.
Und der Kränkende ist ja auch Opfer, nicht nur Täter. Und das wird in
Rollenspielen versucht zu erklären. Und im gespielten Dialog erkennt der
Patient plötzlich andere Sichtweisen im Täter, die ihn milder stimmen und
Vergebung erleichtern.“
Sprecher: Versöhnung und Vergebung – eine explizit christliche
Psychotherapie kann hierfür eine große Chance sein, ist der Pallottiner
überzeugt. Archetypen helfen bei der Heilung und die Bibel ist voll von
Archetypen und Versöhnungsgeschichten. Viele seiner Klienten finden beim
Bibliodrama sich und ihre eigenen Geschichte in den Überlieferungen der
Bibel wieder. Sie üben zu vergeben nach dem Vorbild des verlorenen Sohnes
und sie finden Trost im alten christlichen Vergebungsritual der Beichte. Das
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überzeitliche Ritual, die geprägte Form wird in Verbindung gesetzt mit dem
eigenen Lebensskript, dessen Geflecht ebenfalls überzeitlich ist, über die
Spanne zwischen Geburt und Tod hinausreicht.
ZSP Müller: „Wenn jemand gestorben ist – unversöhnt – wenn ich keine
Aussprache hatte mit jemandem, wenn ich Schuldgefühle habe oder wütend
bin, das bindet wie Pattex. Hass und Schuldgefühle binden unsäglich. Das
kann man nur lösen durch den Schritt der Vergebung. Das üben wir. Lassen
Briefe schreiben zum Beispiel an Gott oder den Täter oder sich selbst, die
werden im Gottesdienst auf den Altar gelegt und verbrannt. Das hilft vielen
Menschen.“
Musik (ab und aufsteigende Flötentonleitern)
Sprecher: Die Seele ist mehr als das, was wir wissen. und das, was wir früher
höchstens ahnen konnten, das wird uns heute immer wahrscheinlicher: Wir
sind aus dem Stoff von Generationen gewebt und sind doch zugleich freie
Individuen. Und in dieser Freiheit liegt vielleicht gerade die Aufgabe, uns aus
alten Verstrickungen zu lösen und so die Eltern, Großeltern und vielleicht sogar
Urgroßeltern zu befreien.
Musik (ab und aufsteigende Flötentonleitern) endet
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