ELVEA VERLAG Impressum Besuchen Sie uns im Internet: www.elvea-verlag.de Veröffentlicht im Elvea Verlag Chemnitz, 2016 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Besuchen Sie uns im Internet: www.elvea-verlag.de Mail: [email protected] Das Geheimnis des Überseekoffers von Anastasia Braun Bastian Calando J. M. Holland Alex P. Jandra Silvia Klöpper Sandra Monnier Sara Puland Ricco Sprengart ELVEA VERLAG Inhaltsverzeichnis Gefährliche Erbschaft 7 Alex P. Jandra Rasputins Erbe 22 J. M. Holland Täuschung im Gepäck 53 Sandra Monnier Teuflische Gedanken der Narren 78 Bastian Calando Der Auftrag 86 Anastasia Braun Jane, sonderbare Tagebücher und der Tod 94 Silvia Klöpper Murphys Tod 121 J. M. Holland Das Geheimnis in Löwenbergs Keller 152 Sara Puland Der Jagdausflug 170 Alex P. Jandra Mors ultima linea rerum est 185 Ricco Sprengart Dear Raven Sandra Monnier 190 Sein Inneres so dunkel So schwarz Dein Herz Erfüllt Deine Wünsche Wer fühlt den Schmerz? Gefährliche Erbschaft Alex P. Jandra Richard war immer noch überzeugt davon, dass es sich entweder um einen Irrtum oder einen Streich handelte. Immerhin hatte er bis heute nicht gewusst, dass er einen Onkel Peter hatte, den es aber nicht mehr gab, weil er angeblich spontan verstorben war. Aber aus diesem Grund stand nun dieses Ungetüm von einem Koffer neben der Couchgarnitur und erinnerte Richard an Zweiblums Koffer in dieser abgedrehten Geschichte von Terry Pratchett. Und daran, dass er dieses Monstrum ohne die Hilfe kräftiger Freunde nie an eine weniger auffällige Position verbringen könnte. Andererseits könnte sich wer weiß was in diesem Minisarkophag befinden. Aus dem Schreiben des Testamentsvollstreckers ging hervor, dass sein Onkel die ganze Welt bereist hatte. Vielleicht fand er ein Gemälde eines alten Meisters oder einen Beutel mit Perlen aus der Südsee. Hauptsache wertvoll. Richard nahm den einzigen Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn ausgiebig. Ein Teil des einzuführenden Endes dieses protzig wirkenden Eisenschlüssels war hohl, hatte zwei Bärte und 7 teilte sich am anderen Ende in zwei ineinander verwobene chinesische Drachen. Schließlich gab er sich einen Ruck, trank die angefangene Flasche Bier in einem Zug leer und erhob sich leicht schwankend. Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis er das gut getarnte Schlüsselloch entdeckte. Seine Hand zitterte leicht, dann war auch diese Hürde genommen. Er drehte den Schlüssel nach links, hörte ein schnappendes Geräusch und grinste, als hätte er gerade Kekse aus Mutters Geheimvorrat geklaut. Richard richtete sich auf, atmete tief durch und hob den Deckel des Überseekoffers an, während seine Fantasie Purzelbäume schlug bei der Vorstellung, was nun zum Vorschein kommen würde. Die Wahrheit ließ ihn vor Enttäuschung aufstöhnen. In dem riesigen Koffer, der eher eine Truhe war, befand sich nur eine kleine rotbraune Holzkiste. Richard klappte den Deckel nach hinten, bis zwei stabile Ketten ihn hielten. Dann beugte er sich hinunter, packte die Kiste und kehrte zur Couch zurück. Er setzte sich, stellte die Kiste auf den Tisch und las die verschnörkelten Buchstaben auf dem seitlich angebrachten Messingschildchen, welches unter einem roten Druckknopf angebracht war und wie frisch poliert glänzte. DRÜCK MICH! 'Sicher eine Art Kastenteufel', war Richards erster Gedanke, trotzdem zögerte er. Jetzt hätte er gern einen Freund an seiner Seite gehabt, doch seit 8 ihn Mary-Jane vergeblich vor dem Altar warten ließ, hatte er sich zurückgezogen in sein geistiges Schneckenhaus. Die Enttäuschung stürzte ihn in eine tiefe Depression. Die Schmach, vor seinen Freunden so gedemütigt zu werden, hatte ihn zudem den Glauben an das Gute im Menschen verlieren lassen. Danach hatte er auch noch seinen Job verloren, schließlich sein Auto. Seine Wohnung würde wohl bald folgen. Und jetzt hatte sich der Traum spontanen Reichtums durch Erbschaft ebenfalls erledigt. Dann dachte er: 'Was habe ich noch zu verlieren?', und drückte den roten Knopf. Nach Vollzug der Anweisung vernahm Richard ein Summen aus der Kiste, welches sich mit mechanischen Geräuschen mischte, was seine Vermutung nun in Richtung Spieluhr gehen ließ. Doch statt des ganzen Deckels öffnete sich ein schmaler Spalt im Deckel, aus welchem sich kurz darauf eine Art Spielkarte schob. Dann ertönte ein heller Glockenschlag und sofort stoppte jede Aktivität und erstarb jedes Geräusch. Richard starrte auf die Karte, die im Sonnenlicht bläulich schimmerte. Ohne lange nachzudenken, griff er nach ihr und zog sie aus dem Schlitz. Sie hatte etwa die Größe einer Ereigniskarte bei Monopoly und war mit einer zarten Schrift in roter Farbe bedruckt. Was wünscht Du Dir und wer soll dafür leiden? Richard ließ die Worte auf sich wirken und dachte nach, während er die Karte von allen Seiten 9 betrachtete. War es so gemeint, wie er es verstand? Wer leiden sollte, stand für ihn schon fest. Und sein Wunsch musste wohl in diesen Koffer passen, so das Ergebnis, zu dem sein Logiksektor gekommen war. »Tja, dann wollen wir mal testen, ob die Leiden der Größe des Wunsches entsprechen«, murmelte Richard. Er atmete zweimal tief durch, dann sagte er laut: »Ich wünsche mir 1000 Euro und Mary-Jane Hopkins soll dafür leiden.« Wie lange würde er warten müssen? Oder war sein Geld schon da? Er stand auf und ging zum Koffer. Nichts. »Hm«, brummte er enttäuscht. 'Vielleicht muss er geschlossen sein.' Dachte es und schloss den Deckel. Er zählte in Gedanken bis zehn und öffnete den Koffer. Und siehe da, der Boden war mit Geldscheinen bedeckt. 'Wie geil ist das denn?', dachte er, während er die Scheine einsammelte. Zurück auf der Couch zählte er zweimal nach, doch das Ergebnis blieb dasselbe. 1000 Euro. Steuerfrei. Einziger Wermutstropfen für Richard: Er wusste nicht, womit man sie leiden ließ und wie stark ihre Leiden waren. Doch am Ende zählte nur das Ergebnis. Denn nach seiner Überprüfung war er sicher, dass die Geldscheine echt waren. 'Wie oft man dich wohl benutzen kann?', sinnierte er. Da kam ihm eine Idee. Er schloss das 10 Monster von einem Koffer wieder. »Ich wünsche mir eine Betriebsanleitung für dich und leiden soll Mary-Jane Hopkins.« Doch nichts passierte. Der Koffer blieb leer. »Hm, war wohl schlecht formuliert.« Er setzte gerade dazu an, seinen Wunsch neu zu formulieren, als ihn die Erkenntnis übermannte, dass er vorher wohl eine neue Karte brauchte. Also drückte er kurz entschlossen den Knopf. Die Karte erschien, darauf der selbe Wortlaut. »Ich wünsche mir eine Bedienungsanleitung für den Koffer, der zu dir gehört. Leiden soll dafür Mary-Jane Hopkins.« Diesmal kam es umgehend zu einer Reaktion. Die Kiste summte erneut, das Glöckchen läutete und eine weitere Karte erschien. Sie war allerdings von schwarzer Farbe, darauf stand in weißer Schrift: Wunsch nicht erfüllbar. »Und warum nicht?«, fragte Richard die Kiste, erhielt aber keine Antwort. Er lehnte sich zurück und versuchte nachzudenken. »Hm, verstehe«, brummte er schließlich, »das gehört zum Spiel, wenn man es so bezeichnen will. Und MJ erleidet wohl nur auf ihrem Konto Verluste. Probieren wir also was anderes.« Er drückte den Knopf und nahm die Karte. »Ich wünsche mir den rechten Daumen von Mary-Jane Hopkins und leiden soll dafür MaryJane Hopkins.« 11 Als er den blutigen Daumen, welcher offensichtlich nicht mit einem Laserskalpell abgetrennt wurde, in der Hand hielt, überkam Richard ein überwältigendes Gefühl, welches eine Mischung aus Macht, Schadenfreude und Gier war. Mit einem Lächeln auf den Lippen brachte er das blutige Stück Fleisch in die Küche und entsorgte es im Mülleimer. Zurück im Wohnzimmer öffnete er die mitgebrachte Bierflasche und zündete sich danach eine Zigarette an. Da er sich sicher war, dass MaryJane derzeit mächtig zu leiden hatte, wollte er sich in der 3. Runde ihrem finanziellen Untergang widmen. Er malte sich ihr Entsetzen aus, wenn sie erfuhr, dass ihr Konto ein hohes siebenstelliges Saldo aufwies. Er kicherte schadenfroh, drückte erst die Zigarette aus und dann den Knopf. Die Karte erschien, es bimmelte. »Ich wünsche mir eine Million Euro und leiden soll Mary-Jane Hopkins.« Er sparte sich das Zählen, dankte seinem Onkel beim Ausräumen des Koffers überschwänglich, da es mit dem reich werden durch Erbschaft doch noch geklappt hatte. Die beiden Umzugskartons verfrachtete er anschließend neben den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Wegen der Menge des Geldes würde er sich auch noch was einfallen lassen müssen, überlegte er. Aber nicht heute. Heute wollte er feiern. Natürlich allein, denn er wusste um die Gefahr, dass er 12 sich leicht verplapperte. Er brauchte niemanden. Nicht mal einen Dealer. Schon drückte er den Knopf. Karte. Gebimmel. »Ich wünsche mir zehn Gramm vom besten Marihuana und leiden soll dafür Mary-Jane Hopkins.« Nach der Hälfte des ersten Joints war er nicht mehr in der Lage sich zu bewegen. Aber dieser Umstand blieb zunächst unbemerkt, denn Richard war glücklich. Zum ersten Mal. Rundum. Und er hatte noch viele Ideen, auch was die Opfer betraf. Mit einem Lächeln schlief er ein. Als Richard gegen Zehn frühstückte, fragte er sich, ob man sich auch eine Verjüngung wünschen könnte und dafür in den Koffer steigen muss. Wäre von Vorteil beim Verprassen des Reichtums. Und nicht nur da. Würde Schönheitsoperationen überflüssig machen. Er könnte auf diese Weise praktisch unsterblich werden. Gesättigt und gut gelaunt wechselte er ins Wohnzimmer und sah die Überreste des Joints. Genüsslich rauchte er ihn und schaltete den Fernseher dabei ein. Er wählte einen Nachrichtensender und geriet in eine Liveschaltung. Zu Bildern aus einem Hubschrauber, die in der letzten Nacht aufgenommen wurden (Polizeifahrzeuge mit Blaulicht vor Villa), schilderte (laut Einblendung) Jessy Carter, was der Familie Hopkins zugestoßen war. 13 »…drangen gegen 23:40 Uhr mehrere Unbekannte in das Haus ein und raubten seine Bewohner aus. Um vom Vater (Bildeinblendung) die Kombination für den Safe zu erpressen, schnitten sie der Tochter (Bildeinblendung) einen Finger ab. Letztendlich entkamen sie mit einer größeren Menge Bargeld und Schmuck. Es wurde eine Be…« Richard starrte betroffen auf den dunklen Bildschirm, denn er hatte den Fernseher ausgeschaltet, aber noch nicht verdaut, was er in den letzten Sekunden erfahren hatte. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er mochte Mary-Janes Vater, hatte sich gut mit ihm verstanden. Da klingelte es an der Tür. 'Wer kann das sein?', dachte er misstrauisch, da er nichts und niemanden erwartete. Leise erhob er sich und schlich zur Wohnungstür. Ein Blick durch den Spion brachte kein Ergebnis. Der Flur war leer. Richard zuckte mit den Schultern und kehrte zur Couch zurück. »Sicher nur ein Paketbote«, versuchte er sich zu beruhigen, da klingelte es erneut. Plötzlich schlug ihm sein Herz bis zum Hals und sein Bauchgefühl befürchtete Ärger. Wieder klingelte es, diesmal mehrfach, sodass es drängend wirkte. Erneut bewegte er sich leise zur Tür und blickte durch den Türspion. Doch der war dunkel, als hätte jemand einen Kaugummi draufgeklebt oder würde seinen Daumen auf den Spion drücken. 14 Richard wagte kaum zu atmen, lauschte angestrengt, als jemand recht nachdrücklich gegen die Tür klopfte. Der Schreck ließ ihn zusammenzucken, erneut pochte sein Herz hart in seiner Brust. Er begann zu schwitzen und versuchte sich zusammenzureißen. Was war nur los mit ihm? Er war doch sonst nicht so ängstlich. In seine Konzentration hinein klopfte es, dann fragte eine kräftige Männerstimme: »Herr Davids?« Richard überwand sich und fragte etwas zögerlich durch die geschlossene Tür: »Ja? Wer ist da?« »Ich bin von der Lieferfirma. Es hat da eine Verwechslung gegeben, wodurch Sie die falsche Lieferung erhielten. Dies möchten wir gern schnell und unbürokratisch korrigieren.« »Das kann nicht sein. Ich bekam, was ich bekommen sollte.« »Ach ja? Trotzdem müsste ich den Lieferschein kontrollieren.« »Was denn genau?« Richard war überzeugt, dass dieser Mann und sein(e) Helfershelfer (alleine hätte er den Koffer sicher nicht transportieren können) Betrüger waren. Er versuchte erneut durch den Spion etwas zu erkennen, während der Mann antwortete: »Die Transportnummer.« »Geben Sie den Spion frei. Ansonsten ist es wohl besser, ich rufe die Polizei an.« 15 »Wofür die Polizei rufen? Wir gehen ja schon.« Richard vernahm noch einen unterdrückten Fluch, und als er durch den Spion sah, konnte er den Abzug von drei Männern verfolgen. Rasch eilte er zum Fenster. Auf der anderen Straßenseite parkte ein Kleintransporter, den die drei Männer nach Verlassen des Hauses ansteuerten. 'Schau an', dachte Richard und lächelte. Dass das Fahrzeug ohne jegliche Beschriftung war, bestätigte seinen Verdacht, dass diese Männer Betrüger sein mussten. Doch woher wussten sie von seinem Koffer? Die Annahme lag nahe, dass sie oder ihr Auftraggeber auch über weitergehende Informationen verfügten. Und da er mit dem Koffer nicht einfach flüchten konnte, hatten sie alle Zeit der Welt, um ihre nächsten Schritte zu planen. 'Außer ich könnte per Wunsch umziehen. Aber wohin?', waren Richards nächste Gedanken. Wo wären er und sein Koffer sicher? Eigentlich nirgends. Blieb nur, die eigene Wohnung sicherer zu machen. Da kam ihm eine Idee. Er beendete sein nervöses Umherwandern und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz. Kurz entschlossen drückte er den Knopf, nahm die Karte und sagte: »Ich wünsche mir, dass die drei Männer, die gerade vor meiner Wohnungstür standen, in einer Minute einen tödlichen Unfall haben. Leiden soll dafür ihr Auftraggeber.« 16 Die Karte mit den Worten Wunsch nicht erfüllbar ernüchterte Richard. »Fuck!«, fluchte er enttäuscht und seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Wie konnte er sich und seinen neuen Reichtum sichern? Wer wusste noch vom Koffer? Um sich zu beruhigen, drehte sich Richard einen Joint, doch gerade, als er den Klebestreifen des Zigarettenpapiers mit der Zunge anfeuchtete, klingelte sein Telefon. Er zuckte zusammen und zerriss dabei das Blättchen, wodurch der Inhalt auf Couch und Teppich landete. »Fuck!«, fluchte er erneut und starrte das Kommunikationsgerät an, als könne er es dadurch dazu bringen, ihm den Anrufer und dessen Anliegen zu verraten. Es klingelte noch mehrfach, aber Richard starrte weiterhin den Apparat an und verharrte in seiner Position. Minuten nach dem letzten Klingeln kam wieder Bewegung in seinen Körper, denn er hatte unbewusst den Atem angehalten und versuchte nun durch heftiges Atmen den Sauerstoffmangel auszugleichen. Nachdem sich seine Atmung wieder beruhigt hatte, kam er zu der Überlegung, sich mit seiner Million abzusetzen und den Koffer einfach zurückzulassen. Einer Eingebung folgend stand er auf und ging zum Fenster. »Verdammt!« Der Transporter stand immer noch da. Richard sah keine Möglichkeit, beladen 17 wie ein Packesel, das Haus unbemerkt zu verlassen. Er könnte natürlich auch den Typen einfach den Koffer überlassen. Doch was, wenn sie ihn trotzdem umbrachten? Oder per Koffer leiden ließen? Erneut begann er durch das Zimmer zu wandern, denn er glaubte, dass es ihm half, seine Gedanken zu sortieren. Es waren einige, die wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen umherflatterten. Er überlegte, ob er sich eine Waffe wünschen sollte. Er war zwar in solchen Dingen gänzlich unerfahren, aber das wussten die Ganoven ja nicht. Richard bog zur Küche ab und entnahm dem Kühlschrank eine Bierflasche. Kurz rollte er das kühle Glas über seine Stirn, dann öffnete er die Flasche und trank sie mit dem ersten Zug halb leer. Er kehrte zur Couch zurück und ließ sich mehr fallen, als dass er sich setzte. Eine Woge von Leichtigkeit und Wohlgefühl schwappte über ihn hinweg, ließ ihn kurzzeitig sein Problem vergessen. Bis das Telefon klingelte. Ohne nachzudenken, hob Richard den Hörer vom Apparat und fragte: »Ja?« »Herr Davids?« Die Frauenstimme mit einem leichten osteuropäischen Akzent klang angenehm, flößte Vertrauen ein. »Wer will das wissen?« »Mein Name tut nichts zur Sache, Herr Davids«, antwortete die unbekannte Anruferin, 18 deren Stimme von weich auf eine härtere Tonart umgeschaltet hatte. »Sie können sich denken, weshalb ich anrufe.« Richard, bei dem die Mischung der Drogen einige Sicherungen in seinem mentalen Sicherungskasten rausgeschraubt hatte, antwortet fast schon naiv: »Im Moment nicht. Wo drückt denn der Schuh?« Kurzes Schweigen, wahrscheinlich aus Überraschung. »Nein, es geht um den Koffer. Ich hätte ihn gern.« »Kann ich mir denken.« Nach beenden des Satzes fiel Richard auf, dass es wohl ein Fehler war, so unbedacht zu antworten. Nun wusste sie, dass er den Koffer hatte. Im Rahmen dieser Verzweiflung setzte er hinzu: »Ich will nicht umgebracht werden!« »Aber Herr Davids, niemand wird hier umgebracht. Übergeben Sie einfach meinen Mitarbeitern den Koffer und Sie hören nie wieder von mir. Oder haben Sie ihn schon geöffnet?« »Äh, nein. Da ist kein Schloss.« 'Ja, das war clever!', lobte er sich selbst. Vielleicht konnte er doch noch verhindern, dass man ihn später leiden ließ. »Das ist gut, denn der Koffer ist nicht ungefährlich. Meine Mitarbeiter haben Geld dabei. Wären zehntausend Euro ein akzeptabler Preis in ihren Augen?« 19 »Da sage ich nicht Nein.« »Hervorragend. Meine Leute sind in wenigen Minuten bei ihnen.« Damit war das Gespräch beendet und Richard entspannte ein wenig. Aus einem undefinierbaren Gefühl heraus überlegte er, ob er die kleine Kiste unterschlagen sollte. Schließlich wusste doch niemand, was im Koffer war. Oder eventuell … Er verwarf den Gedanken wieder. Lieber auf Nummer sicher gehen. Er erhob sich, schwankte dabei leicht, ergriff die Kiste, stellte sie in den Koffer und vergaß tatsächlich nicht, diesen auch abzuschließen. Dann wartete er. Als es endlich klingelte, hatte er aufgehört sich zu wundern, warum die drei Typen so lange zum Überqueren der Straße gebraucht hatten. Er betätigte den Öffner für die Haustür und beobachtete dann den Flur durch den Spion, bis sich vier Männer vor seiner Wohnungstür aufbauten. Die Anzahl irritierte ihn kurz, dann öffnete er die Tür. »Herr Davids?« »Ja. Kommen sie rein.« Dies taten die Männer. Einer drückte ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand, im Gegenzug gab ihm Richard den Schlüssel. Anschließend verließen sie mit dem Koffer seine Wohnung. Richard konnte es kaum fassen. Alles wie abgemacht. Bisher. Blieb nur die Angst vor dem Koffer und dem Leiden. Aber warum sollte die nette 20 Frau ihn nachträglich umbringen? Er warf das Geldbündel auf den Tisch und ging zum Fenster. Der Lieferwagen, welcher direkt vor dem Haus stand, fiel Richard zwar auf, doch er beachtete ihn nicht weiter. Bis die Männer mit dem Monstrum aus dem Haus kamen und den Koffer in eben diesem Lieferwagen verstauen wollten. Da stiegen aus dem Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite die drei Männer aus, riefen wohl etwas, die Kofferträger reagierten darauf. Sieben Männer zogen ihre Waffen und lieferten sich auf offener Straße ein Feuergefecht. Innerhalb weniger Sekunden waren alle tot oder wirkten zumindest so. Als der erste Streifenwagen am Tatort eintraf, trank Richard den Rest seines Bieres und beobachtete das bunte Treiben auf der Straße. Er überlegte kurz, ob er bei der Polizei seine Besitzansprüche geltend machen sollte. Doch dann schüttelte er leicht den Kopf. Zuviel Behördenstress und zusätzliches Risiko. Er war aus der Geschichte raus. Wer wohl sein Nachfolger werden würde? 21 Rasputins Erbe J. M. Holland Nicht nur die sagenhafte Pracht des Bernsteinzimmers hatten die Deutschen aus dem Katharinenpalast von Zarskoje Zelo entwendet und nach Königsberg gebracht, sondern auch einen nicht ganz so prächtigen Überseekoffer. Diesen hatte sich der Kunstschutzoffizier Borsche unter den Nagel gerissen. Normalerweise entdeckte man solche alten Überseekoffer auf Dachböden oder in den Kellern bürgerlicher Häuser. Was hatte so etwas in einem Zarenpalais zu suchen? Hauptmann Borsche wurde stutzig. Trotzdem hätte er den in einem Nebengemach stehenden Koffer sicherlich sofort wieder vergessen, wenn ihm nicht bei der Demontage des Bernsteinzimmers ein Büchlein in die Hände gefallen wäre. Da er seine Kindheit als Sohn des deutschen Botschafters in Moskau verbracht hatte, sprach er sehr gut russisch. Einer einzigen kyrillischen Zeile wegen erklärte er den verschrammten und verbeulten Koffer zu einem kunsthistorischen Meisterwerk und ließ ihn zusammen mit den Kisten voller Millionenwerte abtransportieren. 22 Tatsächlich enthielt das seltsame Gepäckstück nichts. Gar nichts – nur ein Geheimnis. Borsche war der Einzige, der von nun an das Geheimnis kannte. Er besaß den Schlüssel zu dem Koffer und außerdem das, was sich ursprünglich darin befunden hatte – ein unscheinbares, kleines Holzkästchen, in dem jeder die Liebesbriefe seiner Frau vermutete. Infolge der verschlammten russischen Wege war die Fahrt nach Königsberg schier endlos, aber Borsche nahm weder von Stürmen noch Schneegestöbern Notiz, so sehr fesselte ihn seine Lektüre – Rasputins Vermächtnis. Dieser geheimnisumwitterte Mönch, der buchstäblich aus dem Nichts auftauchte, um sich im Zentrum der Politik einzunisten, hatte ihn schon als Student fasziniert: Wie hatte sich Rasputin die Zarin gefügig gemacht? Nur durch die Macht des Aberglaubens und seine fanatisch glühenden Augen? Nein, den Hieroglyphen der Mönchsklaue entnahm Borsche, dass der Geistliche seinen Aufstieg noch einem anderen Faktor verdankte: dem Koffer. Dass die Lesbarkeit zu wünschen übrig ließ, stellte für ihn einen Glücksumstand dar. Andernfalls hätte sich wohl schon vorher jemand die Mühe gemacht, das Tagebuch zu entziffern und sich Rasputins Tricks zu bedienen. Borsche blätterte immer wieder zu der Stelle zurück, die ihm als Erstes ins Auge gefallen war. 23 Dort stand, wie der Koffer funktionierte. Als die Fahrt wegen eines Achsenbruchs stundenlang unterbrochen wurde, fand er Gelegenheit, die Probe aufs Exempel zu machen. Er trug das unscheinbare Holzkästchen in ein ausgebranntes Gehöft. Hier gab es niemanden, der ihn beobachten konnte – abgesehen von einem Erhängten, dem die Vögel die Augen ausgepickt hatten, sodass sich von ihm mit Sicherheit Diskretion erwarten ließ. Würde die Mechanik nach all den Jahren noch funktionieren? Durch die leeren Fensterhöhlen fauchte der Wind und die Lastwagen röhrten so laut, dass er den Glockenton kaum vernahm, mit dem das Kästchen, nachdem er den Druckknopf betätigt hatte, seine Dienstbereitschaft verkündete. Dann erschien ein zuvor unsichtbarer Spalt im Deckel. Er wartete gebannt, ob sich tatsächlich eine Spielkarte herausschieben würde. Die Karte kam. Zu seiner Überraschung war die Beschriftung auf Deutsch – ganz so, als ob der Apparat erkennen konnte, dass er jetzt nicht mehr einem slawischen Mönch, sondern einem nordischen Herrenmenschen diente. »Was wünschst Du Dir und wer soll dafür leiden?« Er wünschte sich, bescheiden wie er war, etwas sehr Kleines. Nur ein Stück Papier. Und wer sollte dafür leiden? Nun, für einen ehrgeizigen Offizier, dem der Rang eines Hauptmanns nicht genügte, 24 gab es immer jemanden, der ihm im Wege stand. Von diesem Moment an konnte es Borsche nicht erwarten, den Koffer zu öffnen. Ein ganzer Tag verging, bevor er ihn endlich in den Händen hielt: den Führerbefehl, die Ermächtigung, durch die er die Vollmacht besaß, alles zu unternehmen, was er zum Schutze des Koffers für notwendig erachtete. Brauchte er einen Wagen für den Transport und eine bewaffnete Eskorte – hier war der dazu nötige Wisch. Er faltete den Führerbefehl gerade sorgfältig zusammen, als ihn eine Eilmeldung erreichte: Sein schärfster Konkurrent war in Polen einem Partisanenüberfall zum Opfer gefallen. Einem unerwarteten, denn das Gelände wies fast keine Möglichkeit für einen Hinterhalt auf. Es gab dort kein Haus, keinen Baum und keine Mauer, nur einen Graben, aus dem urplötzlich ein Schütze heraussprang, der (das war das Seltsamste) alle Deutschen vor seiner Flinte verschonte – bis auf den einen, dem er das Hirn wegblies. Die Meldung und die sich daraus ergebende Beförderung war Borsche ein paar Schnäpse wert. Er hatte das Zarenpalais als Hauptmann verlassen – und kam als Major in Königsberg an. Als er sich mit seinen neuen Rangabzeichen im Spiegel betrachtete, dachte er: 'So sieht er aus, der Herrenmensch!' Dabei hatte sich die Natur nicht viel Mühe gegeben, ihn eindrucksvoll er25 scheinen zu lassen. Er maß kaum einen Meter sechzig und war so schwächlich, dass er nur mit Mühe ein Gewehr halten konnte. Trotzdem beherrschte ihn die Überzeugung, dass er in dem Volk der Auserwählten am auserwähltesten war – abgesehen vom Führer natürlich. Die Frage war, wie er den Überseekoffer am besten für seine Mission einsetzte. Und für die Mission des Führers. In den mit einem Lederüberzug beschlagenen Holzkasten passte zwar immens viel hinein, doch obwohl er alle normalen Gepäckdimensionen sprengte, ließ sich darin keine Kanone verstauen. Der Koffer konnte nicht einmal eine Haubitze aufnehmen; er wäre militärisch also völlig wertlos gewesen, wenn nicht … Ja, wenn nicht etwas darin hätte Platz finden können, das mehr ausrichtete als eine ganze Armee – die Atombombe. Borsche fieberte dem Tag entgegen, an dem ihn keine schwarze Karte zurückhielt: »Wunsch nicht erfüllbar«. Dann würde es so weit sein. Dann war er der Mann für den Endsieg. Vorausgesetzt, dass dem Reich noch eine abschussbereite V-2 zur Verfügung stand. Vermutlich war er der einzige deutsche Offizier, der darauf setzte, dass die Feinde mit ihrer Wunderwaffe möglichst schnell vorankamen. Und ganz gewiss der Einzige, der Einblick in die Operationen der Gegenseite gewann. Die Amerikaner hatten ihren Geheimdienst – und er hatte den Koffer. Zwar wusste er, indem er 26 der Rasputin-Methode folgte, niemals genau, welche Dokumente er eigentlich erhalten wollte, sodass er immer wieder die belanglosesten englischsprachigen Dossiers durchlas (die ihn zum Beispiel über den täglichen Toilettenpapierverbrauch im Pentagon in Kenntnis setzten), doch schlussendlich erfuhr er, was in Los Alamos vor sich ging. Während die Sonne dieses Wüstenkaff versengte, verbrannte Königsberg. Die alliierten Bomber legten es in Schutt und Asche. Das Bernsteinzimmer, das man im Schloss ausgestellt hatte, musste wieder einmal demontiert und in Kisten verpackt werden. Es verschwand in den Kellergewölben, die so tief in die Erde hineingebohrt waren, dass sie jedem Luftangriff widerstanden. Zwischen diesen unschätzbaren Werten stand der Überseekoffer. Rasputins Koffer. Die Zukunft des Reiches. Der Mann, von dem die Geschicke der Welt abhingen, campierte direkt daneben auf einem Feldbett. Er konnte sich von seinem Schatz nicht trennen und verließ die Gruft nie. Wozu auch? Im Unterschied zu den Anderen blieb ihm die Angst erspart, im Untergrund zu verhungern. Dank des Koffers verfügte er über ein veritables Tischlein-deck-dich. Über ihm brannte das Schloss bis auf die Grundmauern nieder, aber er fühlte sich sicher. Es ging ihm in den Innereien der Erde blendend, bis … Der x-te Bombenangriff erwies sich als zu stark. Ein Kellergewölbe nach 27 dem anderen stürzte ein. Wen das Gestein nicht erschlug, der drohte in dem dichten Qualm zu ersticken. Dann drangen die Flammen zu den Eingeschlossenen hinab. Borsche versuchte, sich zum Koffer vorzutasten. Mit dem letzten, in dieser Lage noch möglichen Plan: Ihn mittels der Wunsch-Karten mit Löschwasser zu füllen. Aber schon nach den ersten Schritten taumelte er nur noch. Er versuchte, sich an einer Wand festzuhalten. Die Wand zitterte noch stärker als er. Die Wand wurde schwarz. Alles wurde schwarz. Die Welt war nur noch eine schwarze, undurchdringliche Wand. Und dann war die Welt weg. Als er zu sich kam, umfing ihn immer noch eine undurchdringliche Schwärze. Seine Hände ertasteten Holz. Es fühlte sich wie ein Deckel an. Es konnte sich nur um den Deckel eines Sargs handeln. Hatten sie ihn für tot gehalten und verscharrt? In panischer Angst warf er sich gegen die Holzplatte. Endlich: Ein Lichtspalt! Er stemmte den Deckel hoch und … Ihn umgab eine braungraue Suppe, aber wenigstens keine völlige Finsternis mehr. Ein flackerndes Licht kämpfte gegen das Erlöschen an. Langsam begriff er: Er befand sich immer noch im Keller. Weil der Stromgenerator laufend ausfiel, benutzten sie in den Katakomben Grubenlampen. Der vermeintliche Sarg entpuppte sich als der Überseekoffer. Wie war er dort hin28 eingekommen? Ihm blieb keine Zeit, dieses Rätsel zu lösen. In der Dunkelheit näherte sich Jemand. Er hörte keine Schritte, nur platschende Geräusche. Watete dort ein Mann durch einen Bach? Borsche krabbelte aus dem Koffer heraus und landete in eiskaltem Wasser. Das konnte nur Löschwasser sein. Wie hatte man es im Bombenhagel vom Fluss hochgepumpt? Er gab es auf, darüber nachzugrübeln, denn das Patsch-Patsch der Stiefel arbeitete sich immer näher an ihn heran. Der Unsichtbare stoppte. Dann blitzte eine Taschenlampe auf. Die Lampe hielt ein hagerer Mann, der so groß war, dass er sich in dem niedrigen Gang bücken musste. Hinter ihm drängten sich diffuse Gestalten. Das fahle Grubenlicht drang kaum bis zu ihren Hälsen hoch. Immerhin enthüllte es, dass die Uniformen der Soldaten zerfetzt und ihre Hände schwarz vom Ruß waren. »Hier ist es noch sicher«, ließ sich die Stimme von Oberst Moltke, dem Leiter der Kunstschutzabteilung, vernehmen. »Das Bernsteinzimmer ist gerettet. Unser Auftrag besteht fort.« Obwohl das geflutete Gewölbe seine Stimme stumpf machte, klang er so lehrerhaft wie immer. Zwar trug er seit zehn Jahren eine SS-Uniform, doch seine Hochschulherkunft konnte er nicht verleugnen. Seine Schritte durchmaßen die schwarze Brühe so würdevoll, als ob er zu einem Pult spazierte. Oder zu einem wissenschaftlichen 29 Exponat, das man in einem Hörsaal zur Schau stellte. Das Exponat, vor dem er stehen blieb, war Major Borsche. Er fixierte ihn mit seiner Taschenlampe. Anschließend leuchtete er in den Koffer hinein. »Leer!« stellte er fest und kitzelte dann mit dem Lampenschein Borsches Nase. »Und das nennen Sie kunsthistorisch bedeutsam?«, höhnte er. »So bedeutsam, dass dafür deutsche Soldaten ihr Leben aufs Spiel setzen müssen?« Die Soldaten, die er in seinem Schlepptau mit sich führte, schienen das sehr persönlich zu nehmen. Ein tiefes, von Feindschaft erfülltes Schweigen trat ein. »Glauben Sie«, fuhr Moltke fort, »ich würde mir jemals einen Befehl erlauben, der nichts als … Verarschung ist? Meinen Sie, irgendein deutscher Offizier darf das tun?« So trocken sein Tonfall war, schwang darin doch eine uralte Aversion mit. Seit dem Tag, an dem ihm Borsche zugeteilt worden war, wartete er darauf, ihm eine schwere Verfehlung nachweisen zu können und ihn eines Tages vor das Kriegsgericht zu bringen. Dass sich mit dem alten Knacker nicht gut "Kirschen essen" ließen, wusste Borsche seit Langem, doch jetzt wurde ihm klar: Ich kann mein Ziel nur erreichen, wenn ich verschwinde. Der Zeitpunkt war gekommen, sich mitsamt dem Koffer abzuseilen. Wieso zögerte er noch, sein Trumpf-As auszuspielen? Er bewahrte 30 den Führerbefehl in seiner Brusttasche auf. Aber was zog er nun aus seiner pitschnassen Uniform hervor? Eine breiige Pampe, die sich unter seinen Fingern auflöste! Ein kleiner Dokumentzipfel (der wichtigste) war trocken geblieben, doch auch dort … Nur noch einzelne Buchstaben ließen sich entziffern. Der Rest war den Funken zum Opfer gefallen, die sich durch den Uniformstoff hindurch gefressen hatten. Er versuchte den Reichskanzleistempel unter dem Ruß hervorzukratzen. Vergeblich. Sei's drum! Hauptsache, er konnte die Unterschrift des Führers präsentieren. Er trat nah an Moltke heran, um sich dessen Lampenschein zunutze zu machen – und erlebte die bitterste aller Enttäuschungen. Wie bei einer Geheimtinte hatte sich die Unterschrift in Nichts aufgelöst. Warum musste Hitler auch einen wasserlöslichen Füller benutzen? »Was wollten Sie mir denn da eben vor die Nase halten?«, erkundigte sich der Oberst süffisant. »Vielleicht einen … Führerbefehl?« »Führerbefehl?!«, lachte die Mannschaft so laut, dass das Gewölbe endgültig einzustürzen drohte. Damit war Borsches Schmach vollkommen. 'Du wirst es noch bereuen', dachte er, 'mich lächerlich zu machen, Moltke.' Solange er über den Koffer verfügte, besaß er die Macht, sich zu rächen, aber … Verdammt, das Wunschkartenkästchen! Wo steckte es? Er hatte es, bevor er das Bewusstsein verlor, fest an sich gedrückt. War es unter dem 31 einstürzenden Gemäuer begraben worden? Ohne die Karten war der Koffer so nutzlos wie ein Gewehr, für das man keine Munition besaß. Seine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Er wäre einer schweren Depression anheimgefallen, wenn nicht … Moltkes Taschenlampe schwenkte herum und was kam auf dem Löschwasser herangeschwommen? Ein kleines Kästchen – Rasputins Vermächtnis! Dummerweise trudelte es geradewegs auf die Stiefel des Obersts zu. »Rausfischen!«, befahl Moltke und ließ sich dann das magische Instrument überreichen. Borsche juckte die Faust, aber einen ranghöheren Offizier niederzustrecken, wäre der nackte Wahnsinn gewesen. So musste er hilflos zusehen, wie Moltke das Kästchen untersuchte. Während er es zu öffnen versuchte, knurrte der Oberst: »Dann wollen wir uns doch mal die Liebesbriefe Ihrer Frau zu Gemüte führen. Ich habe hinsichtlich Ihrer Familienverhältnisse nachgefragt – und was glauben Sie, welche Auskunft ich erhielt? Dass Sie gar keine Frau haben. Hätte mich auch gewundert, wenn jemand mit Ihren amorphen Gesichtszügen ... Ein missgestalteter Zwerg wie Sie … Sie sind doch hässlich wie eine Kröte, Borsche!« Die Soldaten schnappten das Stichwort gierig auf. »Kröte! Kröte!« feixten sie. »Warum zittern Sie denn so?« setzte Moltke 32 nach. »Fürchten Sie, dass ich auf eine ganz andere Korrespondenz stoße?« Stille. Dann kam der Frontalangriff: »Noch sehe ich keinen Anlass, Sie der Spionage zu bezichtigen, aber das kann sich schnell ändern. Sie sind immerhin unter den Roten aufgewachsen, also fast ein Russe.« Moltke reichte seine Lampe an einen Gefreiten weiter, damit er die Hände freihatte. Jetzt war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis er den Druckknopf betätigte – und damit Rasputins Geheimnis entdeckte. Sein Zeigefinger näherte sich dem Knopf, doch plötzlich ließ ihn eine Meldung herumfahren: »Ein dringender Anruf aus Berlin, Herr Oberst!« Die Telefonleitung funktionierte also noch. Moltke stakste durch das Wasser davon. Er warf das Kästchen achtlos beiseite. Ein Griff und Borsche hielt es wieder in den Händen. Der Anruf verschaffte ihm Luft, um das Kästchen zu verstecken – aber wohin damit? Ihm half der Trubel, der unter den Soldaten ausbrach. »Jetzt werden sie uns rausholen!« – diese fieberhafte, von Kehle zu Kehle wandernde, Erwartung sorgte dafür, dass keiner mehr auf Borsche achtete. »Raus!« – »Raus!« überschlugen sich die Stimmen. »Das Bernsteinzimmer kann nicht länger hier bleiben.« 33 Niemand sah, wie er das Kästchen im Koffer verstaute. Anschließend schloss er die riesige Truhe ab. Da er den Schlüssel mit einem Bindfaden an seinem Gürtel festgebunden hatte, war dieser während des Angriffs nicht verloren gegangen. Als der Oberst zurückkehrte, zerstob die Hoffnung, die der Anruf ausgelöst hatte. Er war so erregt, dass er keinen Gedanken mehr an den Koffer verschwendete. »Die haben ja keine Ahnung«, schäumte er, »was hier los ist! Ich habe mir den Mund fusselig geredet, aber sie verweigern die Evakuierung. 'Standhalten!' – die haben gut reden. Sie sitzen im Trockenen, während wir …« Dieses "Wir" umfasste noch etwa zwanzig Mann, die sich in den wenigen unzerstörten Katakomben den Platz mit einer Unzahl von Holzkisten teilten. Deren Inhalt war so wertvoll, dass man sich unter gar keinen Umständen auf ihnen niederlassen durfte. Der Oberst verbot sogar, sie als Esstische zu benutzen. Die einzige Sitzgelegenheit, die für die eingeschlossenen Soldaten blieb, war der Überseekoffer. Da es keinen Moment gab, in dem nicht wenigstens drei oder vier Gestalten darauf hockten, fand Borsche keine Gelegenheit mehr, an seinen Schatz heranzukommen. Zur Untätigkeit verdammt, sehnte er den Tag herbei, an dem nur noch eine Devise gelten würde: Augen zu und durch! In der Stunde der Eva34 kuierung, wenn alles drunter und drüber ging, hatte er freie Bahn. Nur: Wann holte man dieses verdammte Bernsteinzimmer aus dem Inferno heraus? Das war der Moment, auf den er wartete. Dann erst konnte er seine Karten ausspielen. Seine Wunsch-Karten. Und seine Todes-Karten. Der Winter kam, aber der erlösende Befehl wollte nicht kommen. Er verbrachte den ganzen Dezember in der eisigen Gruft, den ganzen Januar, den Feb… Mitten im Februar war es so weit. Jetzt gab man Königsberg verloren. Für die Eingeschlossenen war es buchstäblich fünf nach zwölf, denn die Russen drangen bereits in die Stadt ein. Als Borsche den Befehl hörte: »Abtransport in einen thüringischen Schacht«, dachte er: 'Kann das noch gut gehen?' Doch dann durchströmte ihn ein erhebendes Gefühl: Endlich schlug die Stunde des Nahkampfs – und damit die Stunde des Koffers. Die Stunde seiner Geheimwaffe. Die alles entscheidende Stunde begann mit Wehrmachtslastwagen, die auf die Ruine zu rumpelten. Sie setzte sich mit den im Schneematsch versinkenden LKW fort. Die Männer der Kunstschutzabteilung verfolgten, wie ihre Evakuierungsfahrzeuge von Stalinorgeln durchsiebt wurden. Sie sahen, wie die Panzerfäuste sie trafen. Wie sie explodierten. Und wie sie ausbrannten. 35 Nachdem der Ausbruchsplan gescheitert war, blieb nur noch eine Möglichkeit: Die Kisten von der Schlossruine zum Fluss hinab zu schleppen. Im Hafen lag ein Frachtkahn, auf dem man sie zum Haff hinaus befördern konnte. Durch das Tauwetter der letzten Tage bestand die Chance, dass dieses Schiff das Eis durchbrach. Oberst Moltke erteilte den entsprechenden Befehl. Der vermutlich sein letzter war. – Nein, sein vorletzter, denn jetzt erinnerte er sich wieder an den Überseekoffer. »Das Ungetüm bleibt hier!«, befahl er grimmig. »Dass nur ja keiner auf Major Kröte hört! Wenn einer wagt, seine Schatzkiste anzurühren, lasse ich ihn standrechtlich erschießen.« Trotz dieser unmissverständlichen Anordnung hatte Borsche nun keine Wahl mehr. Er musste seine Karten ausspielen. Das Durcheinander half ihm. Er kam an den Koffer heran. Er schloss ihn auf. Er nahm das Kästchen heraus. Er drückte den Knopf. Er zog die Wunsch-Karte. Und was wünschte er sich? Er wusste es selbst nicht, bis er sich den Wunsch aussprechen hörte: Ein pornografisches Bild, das den verhassten Oberst beim Geschlechtsverkehr zeigte. In flagranti von einer Kamera bei einer Rassenschande ertappt. Als er sagen wollte: »Und Oberst Moltke soll dafür leiden«, versagte plötzlich seine Stimme. Kein Wunder! Der Winter in einer eisigen Gruft forderte seinen Tribut. Er krächzte den Satz mit 36 einer so großen Anstrengung aus sich heraus, dass er sich dabei erbrach. Dann klappte er den Überseekoffer zu und sackte, von Schüttelfrost gepeinigt, in sich zusammen. Er brachte kaum noch die Kraft auf, um den Koffer wieder zu öffnen. Das Fieber hatte ihn in der Gewalt – ausgerechnet jetzt, da er sich keine Grippe leisten konnte. Eine Lungenentzündung schon gar nicht. Seine Hände zitterten zu sehr, als dass er die Fotografie hätte festhalten können. Aber ein Blick genügte. Es war ein wundervoller Schnappschuss – mehr noch, ein genialer, weil er den Oberst beim Analverkehr mit einem Rabbi zeigte. Während er noch über die Perspektive staunte, die den Judenpimmel zu einer gigantischen Größe aufblies, vernahm er aus dem Nebenraum bereits die Schmerzensschreie seines Vorgesetzten. Es war so weit! Das Verrecken beraubte den Oberst jeder Kultiviertheit. Er hörte sich genauso an wie jeder andere Soldat, der vor Schmerzen den Verstand verlor. In der akustischen Deckung dieser Schreie pirschten sich Schritte an Borsche heran. Sie gehörten zu Leutnant Meier, den alle nur "Großes M, kleine Eier" nannten. »Was machen Sie da, Herr Major?«, kreischte der Leutnant. (Auch er war nur noch ein von der Krankheit gezeichnetes Nervenbündel.) »Der Befehl des Obersts ist immer noch in Kraft. Niemand rührt den Koffer an!« 37 »Ich habe nicht die Absicht, mich diesem Befehl zu widersetzen«, versuchte Borsche zu sagen, musste sich aber damit begnügen, seine Unterwürfigkeit mit Gesten zu demonstrieren. Er benötigte den Koffer jetzt nicht. Fürs Erste genügte das Wunschkästchen, mit dem er sich in eine dunkle Ecke verzog. Dort gab er seine nächste Bestellung auf: Ein Grippemittel, das ihn von Fieber und Heiserkeit befreite. Wer würde dafür leiden müssen? Natürlich Großes-M-kleine-Eier. Seine Mission durfte jetzt nicht an so einem Nichts scheitern, das sich ihm in den Weg stellte. Bei dem Namen Meier streikten seine Stimmbänder wieder, aber irgendwie presste er alle für ein Todesurteil erforderlichen Phoneme aus sich heraus. Dann wankte er zum Überseekoffer zurück. Wurde sein Schatz immer noch bewacht? Nein, die Luft war rein. Nach dem Ausfall des Obersts hatte sich der Leutnant um den Abtransport der Millionenwerte zu kümmern. Im Koffer fand Borsche ein Fläschchen. Als er es aufschraubte, wurde seine verstopfte Nase von einem Geruch frei gesprengt, der so stechendscharf war, wie es sich für ein gutes Medikament gehörte. Er schluckte nicht nur ein paar Tropfen, sondern goss den gesamten Inhalt in sich hinein. Womöglich nahm er eine tödliche Dosis zu sich, aber in seiner Lage gab es keine Zurückhaltung mehr. Er konnte nicht auf eine tagelange Gene38 sung warten. Jetzt oder nie – alles oder nichts! Er spürte die Wirkung augenblicklich. Sie warf ihn zu Boden. Sie lähmte ihn. Sie sandte Schauer durch seinen Körper und dann … Der Leutnant krachte herein und stürzte direkt neben ihm zu Boden. Unter furchtbaren Schreien, aus denen ein noch viel furchtbareres Wimmern wurde. Meier erwartete ein langsamer Tod. Als Folge eines Treffers in den Unterleib – beigefügt durch eine unsachgemäße Handhabung der eigenen Waffe, wobei Unterleib ein Euphemismus war: Der Leutnant hatte sich die Eier weggeschossen. Während sich seine Leiden steigerten, ließen Borsches Qualen nach. Er fühlte sich nahezu fieberfrei, als er sich erhob und dabei sagte … Ja, er sagte es tatsächlich, er hustete es nicht! Seiner Stimme ließ sich kaum noch eine Heiserkeit anmerken, während er den zuckenden Fleischklumpen zu seinen Füßen in die politische Philosophie einweihte: »Ein Mensch – ein Problem. Kein Mensch – kein Problem.« Es war das erste Mal, dass er nicht seinen eigenen Führer zitierte, sondern den der Gegenseite: Josef Stalin. Ein Problem war beseitigt, aber ein anderes bestand weiter: Wer sollte den Koffer von hier forttragen? Dazu brauchte es zwei kräftige Männer. Wer würde wohl dazu bereit sein? Die Lösung lieferte wieder einmal der Überseekoffer: ein paar 39 Tausend Reichsmark – gerade so viel, wie sich Soldaten unter die Jacke stopfen konnten. Vor die Wahl gestellt, zentnerschwere Kisten oder einen leeren Koffer zu tragen, entschieden sich zwei Feldwebel für die leichtere Aufgabe – und für das fürstlichste Gehalt, das jemals Möbelpacker erhalten hatten. Die Person, die für das Geld leiden musste, fand Borsche auf einer Liste, die er während der Wintermonate erstellt hatte. Alle, die ihm irgendwann einmal zu nahe traten, wurden darin aufgeführt. Weiß Gott, er hatte Grund, die Leute zu hassen, mit denen er hier unten eingesperrt gewesen war! Es dauerte eine Ewigkeit, bis er und die Kofferträger den Ausgang erreichten. Sie verließen die Höhlenwelt um keine Sekunde zu früh. In ihrem Rücken ertönte ein mächtiges Grollen und dann stürzte alles hinter ihnen ein. Eine Stunde später war Borsche am Hafen. Seine Helfer verstauten den Koffer in einem Ruderboot und machten sich mit dem letzten Motorboot, das sie noch auftreiben konnten, aus dem Staub. Sie schrappten durch die schmale Fahrrinne, die sich in der Eisdecke wie eine graue Narbe abzeichnete. Ihr Ziel war das Haff. – Und seines? Sollte er etwa aufs Meer hinausrudern? Dazu war er bei seiner schwächlichen Konstitution gar nicht in der Lage, schon gar nicht, wenn er sich immer wieder den Weg durchs Eis frei hacken musste! Half es ihm, wenn er sich 40 einen Außenbordmotor herbeiwünschte? Ach, das war lachhaft! Er hätte jetzt eine fliegende Kiste gebraucht, einen Einsitzer wie Quax, der Bruchpilot, doch egal, wie klein so ein Flugzeug war, es passte in den Koffer nicht hinein und fiel somit in die Kategorie »Wunsch nicht erfüllbar.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie war aberwitzig, aber widersprach nicht das Geheimnis des Überseekoffers sowieso den physikalischen Gesetzen? War es nicht gleichermaßen absurd, wenn sich darin eine Kalaschnikow materialisierte oder ein … fliegender Teppich? Gesagt, getan. Er bekam einen Perser geliefert. Als er ihn ausrollte, stellte er fest, dass der Teppich ein ganzes Wohnzimmer ausfüllen konnte. So fand er mitsamt Koffer darauf mühelos Platz. Aber war der Koffer nicht zu schwer? Und selbst wenn das Ding startete, was sollte er machen, wenn der Koffer herunterflog? Er breitete die Arme aus, um sich an beiden Koffergriffen festzuhalten und hatte die vage Hoffnung, dass sich das Fluggerät auf diese Weise steuern ließ. Oder sollte er für jedes »zwei Grad nach rechts / nach links« erst eine Wunschkarte ziehen? Er rief »Hüh!« Keine Reaktion. Doch mit einem Mal ging es los. Der Teppich ließ sich lenken wie eine Seifenkiste. Aber er gewann nicht schnell genug an Höhe. Zwar gelang es ihm, jedem Schornstein auszuweichen, mit dem er zu kollidieren drohte, aber die verdammten Flakgeschütze! Aus 41 dem MG-Feuer war er längst heraus, aber was passierte, wenn ihn eine Granate erwischte? Die Lage wurde noch ungemütlicher, denn jetzt merkte er, dass sie ihn direkt ins Visier nahmen. Als in seiner unmittelbaren Nähe ein Öltank explodierte, den er als Deckung zu nehmen versuchte, wusste er, dass es so nicht weiter ging. Er entkam der Flammenhölle nur durch eine rasante Drehung, bei der er mitsamt Koffer beinahe von seinem Fluggerät herabstürzte. Er musste unsichtbar werden – für jedes menschliche Auge und sogar für das Radar. Wenn er einen fliegenden Teppich bestellen konnte – warum nicht auch eine Tarnkappe? Er versuchte es (und wünschte sich dabei, dass der General leiden möge, der einst seine Fähigkeiten übersehen hatte, als er Oberst Moltke zum Leiter der Kunstschutzabteilung machte.) Koffer zu, Koffer auf … Das Wunder war geschehen. Die Kappe sah allerdings eher wie ein Pilotenhelm aus. 'Ich fliege einen Tarnkappenbomber', dachte er, als er den Helm aufsetzte, und hatte damit das Gefühl, dass er seiner Zeit weit voraus war. Die Tarnkappe schien zu funktionieren, denn die Russen nahmen jetzt buchstäblich alles unter Beschuss – nur nicht ihn. Allerdings war der Teppich so langsam, als würde er auf einem Kamel über den Himmel dahin reiten. Das mochte ja die richtige Reisegeschwindigkeit zur Zeit Harun al Raschids gewesen sein, doch in der Epoche der Kampfflieger war es ein Witz. 42 Nach einiger Zeit begann ihn die Kälte zu plagen. Er schlotterte erbärmlich, aber er wagte es nicht, sich einen Ofen zu wünschen. Wahrscheinlich wäre die Tragfähigkeit seines Fluggeräts mit dessen Gewicht überfordert. Ganz abgesehen von der Gefahr des Funkenflugs. Nicht auszudenken, wenn der Teppich in Brand geriet! Dann kam der Hunger. Wie viel Ballast vertrug der Teppich? Ein Brathähnchen, eine Käseplatte und eine Flasche Rotwein – ging das noch oder riskierte er damit den Absturz? So oder so – der Komfort entsprach nicht gerade dem eines Zeppelins. Er beugte sich vorsichtig vor, um über den Teppichrand einen Blick in die Tiefe zu werfen. In welche Gegend hatte es ihn verschlagen? Eine endlose weiße Fläche breitete sich unter ihm aus, in die man eine kleine Ortschaft hineingetüpfelt hatte. Sie war restlos zerstört. Nur an einem schmucken Gebäude schien der Krieg spurlos vorübergegangen zu sein. Offensichtlich handelte es sich um das Herrenhaus eines Gutshofes. Am Schornstein war eine rote Fahne befestigt, die stolz im Wind flatterte. Zwar sah er nirgendwo Armeefahrzeuge, die auf die Anwesenheit von Rotarmisten hindeuteten, doch in jedem Fall befand er sich im Feindesland. Nun, was machte das? Der Überseekoffer würde ihm ja alles liefern, was er brauchte, um die Sowjets zu entzücken. Sollten sie ruhig das Bernsteinzimmer zurück verlangen. Kein Problem! Zehn Kofferfüllungen 43 und sie konnten es von neuem zusammenbasteln. Eine einzelne Füllung dagegen reichte für … Jetzt erinnerte er sich wieder an die genialste seiner Ideen. – Drei Monate? Vier? Wie lange brauchten die Amis noch? Wie auch immer es in Los Alamos voranging, der Tag rückte näher, an dem er im Rahmen einer feierlichen Zeremonie im Kreml den Kofferdeckel hochklappen würde, um einer ungläubig staunenden Nomenklatura die … Atombombe zu enthüllen. Dann war er der größte Magier aller Zeiten. Mit dieser grandiosen Zukunftsaussicht landete er vor dem Gutshof, keine fünfzig Meter von der Hofeinfahrt entfernt. Aus dem Schornstein des Herrenhauses stieg Rauch auf, der die daneben wehende Fahne immer mehr verschleierte. Er ging ein paar Schritte aufs Haus zu und blickte dann zurück – zu dem Vehikel, das ihn hierher gebracht hatte. Natürlich war es kein fliegender Teppich – diese Vorstellung hatte ihn lediglich davor bewahrt, einem Herzkasper zu erliegen. Ein Hoch auf die Fantasie! Nur indem er in die Märchenwelt von Tausend-und-eine-Nacht entfloh, konnte er die lebensgefährliche Flucht überstehen. Tatsächlich hatte er sich statt des Teppichs eine Sowjetuniform gewünscht und nicht irgendeine, sondern die eines Generals der Roten Armee. Jetzt, da er in Sicherheit war, spulte sich sein innerer Film zurück. Er stand wieder im Königsberger Hafen. Und er fasste wieder seinen unvermeidlichen Ent44 schluss: Ich werde auf die Seite der Sieger wechseln. Gesagt, getan. Der Koffer lieferte ihm eine maßgeschneiderte Uniform. Er streifte sie sich im letzten Moment über, denn die Russen kamen bereits in Sichtweite. Zugleich schlüpfte er viel zu früh in seine neue Haut, weil die Deutschen partout nicht aufgaben. Da stand er mitten auf dem Schlachtfeld als ein kommunistischer Kommandeur und stellte für jeden Nazi-Heckenschützen das lohnendste aller Ziele dar. Rattatatatatat – Wumm! Was für einen Husarenritt hatte er überstanden! Dank eines Höllenhunds von einem Fahrer, der nun über dem Lenkrad des russischen Militärjeeps hing. Es sah aus, als ob der Fahrer friedlich schlafe. Allerdings hatte ihm diesen Schlaf eine Maschinengewehrsalve verschafft. Pech gehabt, Iwan Danilowitsch, dass du misstrauisch wurdest, und es war nicht mein Unglück, sondern deines, dass ich mich verplapperte. Du hättest nicht zu meinem Mitwisser werden dürfen, denn so war es unvermeidlich, dass die Gesetze des Koffers griffen: Einer muss leiden. Immerhin gabst du dein Leben für ein wundervolles Dokument hin, das kein Geringerer als der Genosse Stalin verfertigte. Mit diesem Gedanken bewegte sich Borsche auf das ehemalige Rittergut zu. Es wurde gerade dunkel und im Herrenhaus blinkte ein Licht auf. Die Dämmerung verschluckte den Schornsteinrauch. Dafür ließ sich an den Eisblumen des erleuchteten 45 Fensters ablesen, wie stark im Gebäudeinneren geheizt wurde. Der Lampenschein wurde immer heller und weißer. Schließlich enthüllte das dabei entstehende Guckloch die Glühbirne. Sie verfügten hier tatsächlich noch über Strom – was für ein Luxus! Zu seiner Überraschung flackerte kein weiteres Licht mehr auf. War nur das eine Zimmer bewohnt? Wie viele Leute mochten sich darin befinden? In den Glühbirnenschein trat eine fast nackte Frau. Sie presste sich gegen einen Kachelofen. Sie war so jung und so hübsch, dass sich jeder Mann mit Sicherheit auf sie gestürzt hätte, wenn … ja, wenn sie allein gewesen wäre. Borsches Herz klopfte heftig. Früher hätte er gedacht: 'So eine kriegst du nie, sie wird dich auslachen, weil du so hässlich bist.' – Aber war Rasputin nicht genauso hässlich gewesen und hatte er sich nicht trotzdem die Zarin gefügig gemacht? Musste sich ihm diese Schöne nicht hingeben, weil ihn ein absoluter Machtwille beherrschte – und weil er den Koffer besaß? Borsche war jetzt am Fenster angekommen. Obwohl sich das zerschmolzene Eis in unzählige Tropfen verwandelte, die über die Scheibe herunterflossen, konnte er erkennen, dass die Frau tatsächlich allein war. Sie hatte sich inzwischen vollständig entkleidet. Offensichtlich rechnete sie nicht mit Besuch. Sie ging zu ihrem Nachttisch hinüber – oder zu dem der geflohenen Gutsher46 rin. Zwei helle Streifen auf der vergilbten Tapete bildeten ein Kreuz. An dieser Stelle hatte sicher viele Jahre lang ein Kruzifix gehangen – direkt neben dem Führerporträt, das durch ein Bild von Stalin ersetzt worden war. Es war ein handgezeichneter Generalissimus, dessen Darstellung bis in die Schnurrbartspitzen hinein von künstlerischem Talent kündete. Die nackte Frau (er schätzte sie auf Fünfundzwanzig) hatte nicht nur ausgesprochen liebreizende, sondern auch sehr intelligente Züge. Gut möglich, dass sie die Künstlerin war. Eine deutsche Widerstandskämpferin? Nein, entschied er als erfahrener Rassekundler, ihre Züge sind slawisch. Bevor sie sich ins Bett legte, schaltete sie ein Radio ein, das neben dem Nachtschränkchen stand. Er konnte durch die Scheiben hindurch hören, dass sie einem sowjetischen Armeesender lauschte, der die Einnahme von Königsberg meldete. Ihrer befriedigten Reaktion entnahm er, dass sie russisch verstand – was seine Herkunftsdiagnose bestätigte. Außerdem wies ihr Körper, so wohlgestaltet er war, einige Anzeichen von Entbehrungen auf. Das sah nicht nach den Essensrationen aus, die die Deutschen bei aller Not noch erhielten. Vermutlich war sie einmal deutlich vollbrüstiger gewesen. Nicht ganz so knabenhaft, aber gerade ihre Ausgezehrtheit stachelte seine Lust weiter an. 47 Sollte er jetzt ans Fenster klopfen wie ein Vagabund? Nein, nicht als General einer siegreichen Armee. Er schob die unverschlossene Haustür auf und bewegte sich dann mit einer so traumwandlerischen Sicherheit durch das Gutshaus, als ob er hier schon immer zuhause gewesen wäre. Es war, als ob ihn eine Schnur zog. Ohne zu zögern betrat er das Schlafzimmer. Die Frau reagierte erschreckt, ja geradezu panisch. Sie hatte erkennbar vor Uniformen Angst, doch als er näherkam und das Licht des Nachttischlämpchens seine Rangabzeichen erfasste, schlug ihre Angst in eine unbeschreibliche Freude um. Sie hatte die Russen zwar erwartet, aber mit ihrer Ankunft erst für den morgigen Tag gerechnet und jetzt … oh heiliger Sankt Marx! Jetzt kam sie bereits, die rettende Rote Armee! Sie kam in Gestalt von Major Borsche. Alias General Fjodor Wassiljewitsch Borisow, dessen Brust unzählige Orden schmückten. Er zog sich aus. Ohne die Uniform war seine Brust erheblich weniger eindrucksvoll und doch … Er konnte sein Glück kaum fassen: Diese Frau gab sich ihm tatsächlich hin – mit jeder Faser ihres so unglaublich schönen Körpers! Ihm, dem Befreier, dessen Erscheinen sie so lange ersehnt hatte. In den Armen der Befreiten erlebte Borsche sein erstes Liebesglück. Es war so vollkommen, dass er danach sofort einschlief. Er versank in einem Traum, der so wohlig, so warm, so weich 48 Ende der Leseprobe von: Das Geheimnis des Überseekoffers - Elf unheimliche Geschichten Autorengruppe "Das Geheimnis des Überseekoffers", Michael Bär (ELVEA VERLAG) Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1TZjsKd
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