Das Geheimnis des Überseekoffers

ELVEA VERLAG
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Veröffentlicht im Elvea Verlag
Chemnitz, 2016
Alle Rechte vorbehalten.
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Das Geheimnis
des Überseekoffers
von
Anastasia Braun
Bastian Calando
J. M. Holland
Alex P. Jandra
Silvia Klöpper
Sandra Monnier
Sara Puland
Ricco Sprengart
ELVEA VERLAG
Inhaltsverzeichnis
Gefährliche Erbschaft
7
Alex P. Jandra
Rasputins Erbe
22
J. M. Holland
Täuschung im Gepäck
53
Sandra Monnier
Teuflische Gedanken der Narren
78
Bastian Calando
Der Auftrag
86
Anastasia Braun
Jane, sonderbare Tagebücher und der Tod
94
Silvia Klöpper
Murphys Tod
121
J. M. Holland
Das Geheimnis in Löwenbergs Keller
152
Sara Puland
Der Jagdausflug
170
Alex P. Jandra
Mors ultima linea rerum est
185
Ricco Sprengart
Dear Raven
Sandra Monnier
190
Sein Inneres so dunkel
So schwarz Dein Herz
Erfüllt Deine Wünsche
Wer fühlt den Schmerz?
Gefährliche Erbschaft
Alex P. Jandra
Richard war immer noch überzeugt davon, dass
es sich entweder um einen Irrtum oder einen
Streich handelte. Immerhin hatte er bis heute
nicht gewusst, dass er einen Onkel Peter hatte,
den es aber nicht mehr gab, weil er angeblich
spontan verstorben war.
Aber aus diesem Grund stand nun dieses Ungetüm von einem Koffer neben der Couchgarnitur
und erinnerte Richard an Zweiblums Koffer in dieser abgedrehten Geschichte von Terry Pratchett.
Und daran, dass er dieses Monstrum ohne die Hilfe
kräftiger Freunde nie an eine weniger auffällige
Position verbringen könnte.
Andererseits könnte sich wer weiß was in diesem Minisarkophag befinden. Aus dem Schreiben
des Testamentsvollstreckers ging hervor, dass
sein Onkel die ganze Welt bereist hatte. Vielleicht
fand er ein Gemälde eines alten Meisters oder
einen Beutel mit Perlen aus der Südsee. Hauptsache wertvoll.
Richard nahm den einzigen Schlüssel in die
Hand und betrachtete ihn ausgiebig. Ein Teil des
einzuführenden Endes dieses protzig wirkenden
Eisenschlüssels war hohl, hatte zwei Bärte und
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teilte sich am anderen Ende in zwei ineinander
verwobene chinesische Drachen.
Schließlich gab er sich einen Ruck, trank die
angefangene Flasche Bier in einem Zug leer und
erhob sich leicht schwankend. Es dauerte fast
zwanzig Minuten, bis er das gut getarnte Schlüsselloch entdeckte. Seine Hand zitterte leicht, dann
war auch diese Hürde genommen. Er drehte den
Schlüssel nach links, hörte ein schnappendes Geräusch und grinste, als hätte er gerade Kekse aus
Mutters Geheimvorrat geklaut.
Richard richtete sich auf, atmete tief durch und
hob den Deckel des Überseekoffers an, während
seine Fantasie Purzelbäume schlug bei der Vorstellung, was nun zum Vorschein kommen würde.
Die Wahrheit ließ ihn vor Enttäuschung aufstöhnen. In dem riesigen Koffer, der eher eine Truhe war, befand sich nur eine kleine rotbraune
Holzkiste. Richard klappte den Deckel nach hinten,
bis zwei stabile Ketten ihn hielten. Dann beugte er
sich hinunter, packte die Kiste und kehrte zur
Couch zurück. Er setzte sich, stellte die Kiste auf
den Tisch und las die verschnörkelten Buchstaben
auf dem seitlich angebrachten Messingschildchen,
welches unter einem roten Druckknopf angebracht
war und wie frisch poliert glänzte.
DRÜCK MICH!
'Sicher eine Art Kastenteufel', war Richards
erster Gedanke, trotzdem zögerte er. Jetzt hätte er
gern einen Freund an seiner Seite gehabt, doch seit
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ihn Mary-Jane vergeblich vor dem Altar warten
ließ, hatte er sich zurückgezogen in sein geistiges
Schneckenhaus. Die Enttäuschung stürzte ihn in
eine tiefe Depression. Die Schmach, vor seinen
Freunden so gedemütigt zu werden, hatte ihn
zudem den Glauben an das Gute im Menschen
verlieren lassen. Danach hatte er auch noch seinen
Job verloren, schließlich sein Auto. Seine Wohnung
würde wohl bald folgen. Und jetzt hatte sich der
Traum spontanen Reichtums durch Erbschaft
ebenfalls erledigt. Dann dachte er:
'Was habe ich noch zu verlieren?', und drückte
den roten Knopf. Nach Vollzug der Anweisung
vernahm Richard ein Summen aus der Kiste, welches sich mit mechanischen Geräuschen mischte,
was seine Vermutung nun in Richtung Spieluhr
gehen ließ. Doch statt des ganzen Deckels öffnete
sich ein schmaler Spalt im Deckel, aus welchem
sich kurz darauf eine Art Spielkarte schob. Dann
ertönte ein heller Glockenschlag und sofort stoppte jede Aktivität und erstarb jedes Geräusch.
Richard starrte auf die Karte, die im Sonnenlicht bläulich schimmerte. Ohne lange nachzudenken, griff er nach ihr und zog sie aus dem
Schlitz. Sie hatte etwa die Größe einer Ereigniskarte bei Monopoly und war mit einer zarten
Schrift in roter Farbe bedruckt.
Was wünscht Du Dir und wer soll dafür leiden?
Richard ließ die Worte auf sich wirken und
dachte nach, während er die Karte von allen Seiten
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betrachtete. War es so gemeint, wie er es verstand?
Wer leiden sollte, stand für ihn schon fest. Und sein
Wunsch musste wohl in diesen Koffer passen, so
das Ergebnis, zu dem sein Logiksektor gekommen
war.
»Tja, dann wollen wir mal testen, ob die Leiden
der Größe des Wunsches entsprechen«, murmelte
Richard. Er atmete zweimal tief durch, dann sagte
er laut:
»Ich wünsche mir 1000 Euro und Mary-Jane
Hopkins soll dafür leiden.«
Wie lange würde er warten müssen? Oder war
sein Geld schon da? Er stand auf und ging zum
Koffer. Nichts.
»Hm«, brummte er enttäuscht. 'Vielleicht muss
er geschlossen sein.' Dachte es und schloss den
Deckel. Er zählte in Gedanken bis zehn und öffnete
den Koffer. Und siehe da, der Boden war mit Geldscheinen bedeckt.
'Wie geil ist das denn?', dachte er, während er
die Scheine einsammelte. Zurück auf der Couch
zählte er zweimal nach, doch das Ergebnis blieb
dasselbe. 1000 Euro. Steuerfrei. Einziger Wermutstropfen für Richard: Er wusste nicht, womit
man sie leiden ließ und wie stark ihre Leiden
waren. Doch am Ende zählte nur das Ergebnis.
Denn nach seiner Überprüfung war er sicher,
dass die Geldscheine echt waren.
'Wie oft man dich wohl benutzen kann?', sinnierte er. Da kam ihm eine Idee. Er schloss das
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Monster von einem Koffer wieder.
»Ich wünsche mir eine Betriebsanleitung für
dich und leiden soll Mary-Jane Hopkins.« Doch
nichts passierte. Der Koffer blieb leer.
»Hm, war wohl schlecht formuliert.« Er setzte
gerade dazu an, seinen Wunsch neu zu formulieren, als ihn die Erkenntnis übermannte, dass er
vorher wohl eine neue Karte brauchte. Also drückte
er kurz entschlossen den Knopf. Die Karte erschien,
darauf der selbe Wortlaut.
»Ich wünsche mir eine Bedienungsanleitung
für den Koffer, der zu dir gehört. Leiden soll dafür
Mary-Jane Hopkins.«
Diesmal kam es umgehend zu einer Reaktion.
Die Kiste summte erneut, das Glöckchen läutete
und eine weitere Karte erschien. Sie war allerdings von schwarzer Farbe, darauf stand in weißer Schrift:
Wunsch nicht erfüllbar.
»Und warum nicht?«, fragte Richard die Kiste,
erhielt aber keine Antwort. Er lehnte sich zurück
und versuchte nachzudenken.
»Hm, verstehe«, brummte er schließlich, »das
gehört zum Spiel, wenn man es so bezeichnen will.
Und MJ erleidet wohl nur auf ihrem Konto Verluste. Probieren wir also was anderes.« Er drückte
den Knopf und nahm die Karte.
»Ich wünsche mir den rechten Daumen von
Mary-Jane Hopkins und leiden soll dafür MaryJane Hopkins.«
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Als er den blutigen Daumen, welcher offensichtlich nicht mit einem Laserskalpell abgetrennt
wurde, in der Hand hielt, überkam Richard ein
überwältigendes Gefühl, welches eine Mischung
aus Macht, Schadenfreude und Gier war. Mit einem Lächeln auf den Lippen brachte er das blutige
Stück Fleisch in die Küche und entsorgte es im
Mülleimer.
Zurück im Wohnzimmer öffnete er die mitgebrachte Bierflasche und zündete sich danach eine
Zigarette an. Da er sich sicher war, dass MaryJane derzeit mächtig zu leiden hatte, wollte er sich
in der 3. Runde ihrem finanziellen Untergang
widmen. Er malte sich ihr Entsetzen aus, wenn sie
erfuhr, dass ihr Konto ein hohes siebenstelliges
Saldo aufwies. Er kicherte schadenfroh, drückte
erst die Zigarette aus und dann den Knopf.
Die Karte erschien, es bimmelte.
»Ich wünsche mir eine Million Euro und leiden
soll Mary-Jane Hopkins.«
Er sparte sich das Zählen, dankte seinem Onkel
beim Ausräumen des Koffers überschwänglich, da
es mit dem reich werden durch Erbschaft doch
noch geklappt hatte. Die beiden Umzugskartons
verfrachtete er anschließend neben den Kleiderschrank im Schlafzimmer.
Wegen der Menge des Geldes würde er sich
auch noch was einfallen lassen müssen, überlegte
er. Aber nicht heute. Heute wollte er feiern. Natürlich allein, denn er wusste um die Gefahr, dass er
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sich leicht verplapperte. Er brauchte niemanden.
Nicht mal einen Dealer. Schon drückte er den
Knopf. Karte. Gebimmel.
»Ich wünsche mir zehn Gramm vom besten
Marihuana und leiden soll dafür Mary-Jane
Hopkins.«
Nach der Hälfte des ersten Joints war er nicht
mehr in der Lage sich zu bewegen. Aber dieser
Umstand blieb zunächst unbemerkt, denn Richard
war glücklich. Zum ersten Mal. Rundum. Und er
hatte noch viele Ideen, auch was die Opfer betraf.
Mit einem Lächeln schlief er ein.
Als Richard gegen Zehn frühstückte, fragte er sich,
ob man sich auch eine Verjüngung wünschen
könnte und dafür in den Koffer steigen muss. Wäre von Vorteil beim Verprassen des Reichtums.
Und nicht nur da. Würde Schönheitsoperationen
überflüssig machen. Er könnte auf diese Weise
praktisch unsterblich werden.
Gesättigt und gut gelaunt wechselte er ins
Wohnzimmer und sah die Überreste des Joints.
Genüsslich rauchte er ihn und schaltete den
Fernseher dabei ein. Er wählte einen Nachrichtensender und geriet in eine Liveschaltung. Zu
Bildern aus einem Hubschrauber, die in der letzten Nacht aufgenommen wurden (Polizeifahrzeuge mit Blaulicht vor Villa), schilderte (laut
Einblendung) Jessy Carter, was der Familie Hopkins zugestoßen war.
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»…drangen gegen 23:40 Uhr mehrere Unbekannte in das Haus ein und raubten seine Bewohner aus. Um vom Vater (Bildeinblendung) die
Kombination für den Safe zu erpressen, schnitten
sie der Tochter (Bildeinblendung) einen Finger ab.
Letztendlich entkamen sie mit einer größeren
Menge Bargeld und Schmuck. Es wurde eine
Be…«
Richard starrte betroffen auf den dunklen Bildschirm, denn er hatte den Fernseher ausgeschaltet, aber noch nicht verdaut, was er in den letzten
Sekunden erfahren hatte. So hatte er sich das
nicht vorgestellt. Er mochte Mary-Janes Vater,
hatte sich gut mit ihm verstanden.
Da klingelte es an der Tür.
'Wer kann das sein?', dachte er misstrauisch,
da er nichts und niemanden erwartete. Leise
erhob er sich und schlich zur Wohnungstür. Ein
Blick durch den Spion brachte kein Ergebnis. Der
Flur war leer. Richard zuckte mit den Schultern
und kehrte zur Couch zurück.
»Sicher nur ein Paketbote«, versuchte er sich
zu beruhigen, da klingelte es erneut. Plötzlich
schlug ihm sein Herz bis zum Hals und sein
Bauchgefühl befürchtete Ärger. Wieder klingelte
es, diesmal mehrfach, sodass es drängend wirkte.
Erneut bewegte er sich leise zur Tür und blickte
durch den Türspion. Doch der war dunkel, als
hätte jemand einen Kaugummi draufgeklebt oder
würde seinen Daumen auf den Spion drücken.
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Richard wagte kaum zu atmen, lauschte angestrengt, als jemand recht nachdrücklich gegen die
Tür klopfte. Der Schreck ließ ihn zusammenzucken, erneut pochte sein Herz hart in seiner
Brust. Er begann zu schwitzen und versuchte sich
zusammenzureißen. Was war nur los mit ihm? Er
war doch sonst nicht so ängstlich. In seine Konzentration hinein klopfte es, dann fragte eine
kräftige Männerstimme:
»Herr Davids?«
Richard überwand sich und fragte etwas zögerlich durch die geschlossene Tür:
»Ja? Wer ist da?«
»Ich bin von der Lieferfirma. Es hat da eine
Verwechslung gegeben, wodurch Sie die falsche
Lieferung erhielten. Dies möchten wir gern
schnell und unbürokratisch korrigieren.«
»Das kann nicht sein. Ich bekam, was ich bekommen sollte.«
»Ach ja? Trotzdem müsste ich den Lieferschein kontrollieren.«
»Was denn genau?« Richard war überzeugt,
dass dieser Mann und sein(e) Helfershelfer (alleine hätte er den Koffer sicher nicht transportieren können) Betrüger waren. Er versuchte erneut
durch den Spion etwas zu erkennen, während der
Mann antwortete:
»Die Transportnummer.«
»Geben Sie den Spion frei. Ansonsten ist es
wohl besser, ich rufe die Polizei an.«
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»Wofür die Polizei rufen? Wir gehen ja schon.«
Richard vernahm noch einen unterdrückten
Fluch, und als er durch den Spion sah, konnte er
den Abzug von drei Männern verfolgen. Rasch
eilte er zum Fenster. Auf der anderen Straßenseite
parkte ein Kleintransporter, den die drei Männer
nach Verlassen des Hauses ansteuerten.
'Schau an', dachte Richard und lächelte. Dass
das Fahrzeug ohne jegliche Beschriftung war,
bestätigte seinen Verdacht, dass diese Männer
Betrüger sein mussten. Doch woher wussten sie
von seinem Koffer? Die Annahme lag nahe, dass
sie oder ihr Auftraggeber auch über weitergehende Informationen verfügten. Und da er mit dem
Koffer nicht einfach flüchten konnte, hatten sie
alle Zeit der Welt, um ihre nächsten Schritte zu
planen.
'Außer ich könnte per Wunsch umziehen. Aber
wohin?', waren Richards nächste Gedanken. Wo
wären er und sein Koffer sicher? Eigentlich nirgends. Blieb nur, die eigene Wohnung sicherer zu
machen. Da kam ihm eine Idee. Er beendete sein
nervöses Umherwandern und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz. Kurz entschlossen drückte er
den Knopf, nahm die Karte und sagte:
»Ich wünsche mir, dass die drei Männer, die
gerade vor meiner Wohnungstür standen, in einer
Minute einen tödlichen Unfall haben. Leiden soll
dafür ihr Auftraggeber.«
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Die Karte mit den Worten Wunsch nicht erfüllbar ernüchterte Richard.
»Fuck!«, fluchte er enttäuscht und seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Wie
konnte er sich und seinen neuen Reichtum sichern? Wer wusste noch vom Koffer? Um sich zu
beruhigen, drehte sich Richard einen Joint, doch
gerade, als er den Klebestreifen des Zigarettenpapiers mit der Zunge anfeuchtete, klingelte sein
Telefon. Er zuckte zusammen und zerriss dabei
das Blättchen, wodurch der Inhalt auf Couch und
Teppich landete.
»Fuck!«, fluchte er erneut und starrte das
Kommunikationsgerät an, als könne er es dadurch
dazu bringen, ihm den Anrufer und dessen Anliegen zu verraten.
Es klingelte noch mehrfach, aber Richard starrte weiterhin den Apparat an und verharrte in seiner Position. Minuten nach dem letzten Klingeln
kam wieder Bewegung in seinen Körper, denn er
hatte unbewusst den Atem angehalten und versuchte nun durch heftiges Atmen den Sauerstoffmangel auszugleichen.
Nachdem sich seine Atmung wieder beruhigt
hatte, kam er zu der Überlegung, sich mit seiner
Million abzusetzen und den Koffer einfach zurückzulassen. Einer Eingebung folgend stand er
auf und ging zum Fenster.
»Verdammt!« Der Transporter stand immer
noch da. Richard sah keine Möglichkeit, beladen
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wie ein Packesel, das Haus unbemerkt zu verlassen. Er könnte natürlich auch den Typen einfach
den Koffer überlassen. Doch was, wenn sie ihn
trotzdem umbrachten? Oder per Koffer leiden
ließen?
Erneut begann er durch das Zimmer zu wandern, denn er glaubte, dass es ihm half, seine Gedanken zu sortieren. Es waren einige, die wie ein
aufgescheuchter Hühnerhaufen umherflatterten.
Er überlegte, ob er sich eine Waffe wünschen sollte. Er war zwar in solchen Dingen gänzlich unerfahren, aber das wussten die Ganoven ja nicht.
Richard bog zur Küche ab und entnahm dem
Kühlschrank eine Bierflasche. Kurz rollte er das
kühle Glas über seine Stirn, dann öffnete er die
Flasche und trank sie mit dem ersten Zug halb
leer. Er kehrte zur Couch zurück und ließ sich
mehr fallen, als dass er sich setzte. Eine Woge
von Leichtigkeit und Wohlgefühl schwappte über
ihn hinweg, ließ ihn kurzzeitig sein Problem vergessen. Bis das Telefon klingelte.
Ohne nachzudenken, hob Richard den Hörer
vom Apparat und fragte:
»Ja?«
»Herr Davids?« Die Frauenstimme mit einem
leichten osteuropäischen Akzent klang angenehm,
flößte Vertrauen ein.
»Wer will das wissen?«
»Mein Name tut nichts zur Sache, Herr
Davids«, antwortete die unbekannte Anruferin,
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deren Stimme von weich auf eine härtere Tonart
umgeschaltet hatte. »Sie können sich denken,
weshalb ich anrufe.«
Richard, bei dem die Mischung der Drogen einige Sicherungen in seinem mentalen Sicherungskasten rausgeschraubt hatte, antwortet fast schon
naiv:
»Im Moment nicht. Wo drückt denn der
Schuh?«
Kurzes Schweigen, wahrscheinlich aus Überraschung.
»Nein, es geht um den Koffer. Ich hätte ihn
gern.«
»Kann ich mir denken.« Nach beenden des
Satzes fiel Richard auf, dass es wohl ein Fehler
war, so unbedacht zu antworten. Nun wusste sie,
dass er den Koffer hatte. Im Rahmen dieser Verzweiflung setzte er hinzu:
»Ich will nicht umgebracht werden!«
»Aber Herr Davids, niemand wird hier umgebracht. Übergeben Sie einfach meinen Mitarbeitern den Koffer und Sie hören nie wieder von
mir. Oder haben Sie ihn schon geöffnet?«
»Äh, nein. Da ist kein Schloss.« 'Ja, das war clever!', lobte er sich selbst. Vielleicht konnte er doch
noch verhindern, dass man ihn später leiden ließ.
»Das ist gut, denn der Koffer ist nicht ungefährlich. Meine Mitarbeiter haben Geld dabei.
Wären zehntausend Euro ein akzeptabler Preis in
ihren Augen?«
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»Da sage ich nicht Nein.«
»Hervorragend. Meine Leute sind in wenigen
Minuten bei ihnen.«
Damit war das Gespräch beendet und Richard
entspannte ein wenig. Aus einem undefinierbaren Gefühl heraus überlegte er, ob er die kleine
Kiste unterschlagen sollte. Schließlich wusste
doch niemand, was im Koffer war. Oder eventuell
… Er verwarf den Gedanken wieder. Lieber auf
Nummer sicher gehen. Er erhob sich, schwankte
dabei leicht, ergriff die Kiste, stellte sie in den
Koffer und vergaß tatsächlich nicht, diesen auch
abzuschließen. Dann wartete er.
Als es endlich klingelte, hatte er aufgehört sich
zu wundern, warum die drei Typen so lange zum
Überqueren der Straße gebraucht hatten. Er betätigte den Öffner für die Haustür und beobachtete
dann den Flur durch den Spion, bis sich vier
Männer vor seiner Wohnungstür aufbauten. Die
Anzahl irritierte ihn kurz, dann öffnete er die Tür.
»Herr Davids?«
»Ja. Kommen sie rein.«
Dies taten die Männer. Einer drückte ihm ein
Bündel Geldscheine in die Hand, im Gegenzug
gab ihm Richard den Schlüssel. Anschließend
verließen sie mit dem Koffer seine Wohnung.
Richard konnte es kaum fassen. Alles wie abgemacht. Bisher. Blieb nur die Angst vor dem Koffer und dem Leiden. Aber warum sollte die nette
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Frau ihn nachträglich umbringen? Er warf das
Geldbündel auf den Tisch und ging zum Fenster.
Der Lieferwagen, welcher direkt vor dem Haus
stand, fiel Richard zwar auf, doch er beachtete ihn
nicht weiter. Bis die Männer mit dem Monstrum
aus dem Haus kamen und den Koffer in eben diesem Lieferwagen verstauen wollten.
Da stiegen aus dem Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite die drei Männer aus, riefen
wohl etwas, die Kofferträger reagierten darauf.
Sieben Männer zogen ihre Waffen und lieferten
sich auf offener Straße ein Feuergefecht. Innerhalb weniger Sekunden waren alle tot oder wirkten zumindest so.
Als der erste Streifenwagen am Tatort eintraf,
trank Richard den Rest seines Bieres und beobachtete das bunte Treiben auf der Straße. Er überlegte
kurz, ob er bei der Polizei seine Besitzansprüche
geltend machen sollte. Doch dann schüttelte er
leicht den Kopf. Zuviel Behördenstress und zusätzliches Risiko. Er war aus der Geschichte raus. Wer
wohl sein Nachfolger werden würde?
21
Rasputins Erbe
J. M. Holland
Nicht nur die sagenhafte Pracht des Bernsteinzimmers hatten die Deutschen aus dem Katharinenpalast von Zarskoje Zelo entwendet und nach
Königsberg gebracht, sondern auch einen nicht
ganz so prächtigen Überseekoffer. Diesen hatte
sich der Kunstschutzoffizier Borsche unter den
Nagel gerissen.
Normalerweise entdeckte man solche alten
Überseekoffer auf Dachböden oder in den Kellern
bürgerlicher Häuser. Was hatte so etwas in einem
Zarenpalais zu suchen? Hauptmann Borsche
wurde stutzig. Trotzdem hätte er den in einem
Nebengemach stehenden Koffer sicherlich sofort
wieder vergessen, wenn ihm nicht bei der Demontage des Bernsteinzimmers ein Büchlein in
die Hände gefallen wäre.
Da er seine Kindheit als Sohn des deutschen
Botschafters in Moskau verbracht hatte, sprach
er sehr gut russisch. Einer einzigen kyrillischen
Zeile wegen erklärte er den verschrammten und
verbeulten Koffer zu einem kunsthistorischen
Meisterwerk und ließ ihn zusammen mit den
Kisten voller Millionenwerte abtransportieren.
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Tatsächlich enthielt das seltsame Gepäckstück
nichts. Gar nichts – nur ein Geheimnis. Borsche
war der Einzige, der von nun an das Geheimnis
kannte. Er besaß den Schlüssel zu dem Koffer
und außerdem das, was sich ursprünglich darin
befunden hatte – ein unscheinbares, kleines
Holzkästchen, in dem jeder die Liebesbriefe seiner Frau vermutete.
Infolge der verschlammten russischen Wege
war die Fahrt nach Königsberg schier endlos, aber
Borsche nahm weder von Stürmen noch Schneegestöbern Notiz, so sehr fesselte ihn seine Lektüre
– Rasputins Vermächtnis.
Dieser geheimnisumwitterte Mönch, der buchstäblich aus dem Nichts auftauchte, um sich im
Zentrum der Politik einzunisten, hatte ihn schon
als Student fasziniert: Wie hatte sich Rasputin die
Zarin gefügig gemacht? Nur durch die Macht des
Aberglaubens und seine fanatisch glühenden Augen? Nein, den Hieroglyphen der Mönchsklaue
entnahm Borsche, dass der Geistliche seinen Aufstieg noch einem anderen Faktor verdankte: dem
Koffer.
Dass die Lesbarkeit zu wünschen übrig ließ,
stellte für ihn einen Glücksumstand dar. Andernfalls hätte sich wohl schon vorher jemand die
Mühe gemacht, das Tagebuch zu entziffern und
sich Rasputins Tricks zu bedienen.
Borsche blätterte immer wieder zu der Stelle
zurück, die ihm als Erstes ins Auge gefallen war.
23
Dort stand, wie der Koffer funktionierte.
Als die Fahrt wegen eines Achsenbruchs stundenlang unterbrochen wurde, fand er Gelegenheit, die Probe aufs Exempel zu machen. Er trug
das unscheinbare Holzkästchen in ein ausgebranntes Gehöft. Hier gab es niemanden, der ihn
beobachten konnte – abgesehen von einem Erhängten, dem die Vögel die Augen ausgepickt
hatten, sodass sich von ihm mit Sicherheit Diskretion erwarten ließ. Würde die Mechanik nach
all den Jahren noch funktionieren?
Durch die leeren Fensterhöhlen fauchte der
Wind und die Lastwagen röhrten so laut, dass er
den Glockenton kaum vernahm, mit dem das
Kästchen, nachdem er den Druckknopf betätigt
hatte, seine Dienstbereitschaft verkündete. Dann
erschien ein zuvor unsichtbarer Spalt im Deckel.
Er wartete gebannt, ob sich tatsächlich eine Spielkarte herausschieben würde. Die Karte kam. Zu
seiner Überraschung war die Beschriftung auf
Deutsch – ganz so, als ob der Apparat erkennen
konnte, dass er jetzt nicht mehr einem slawischen
Mönch, sondern einem nordischen Herrenmenschen diente.
»Was wünschst Du Dir und wer soll dafür
leiden?«
Er wünschte sich, bescheiden wie er war, etwas
sehr Kleines. Nur ein Stück Papier. Und wer sollte
dafür leiden? Nun, für einen ehrgeizigen Offizier,
dem der Rang eines Hauptmanns nicht genügte,
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gab es immer jemanden, der ihm im Wege stand.
Von diesem Moment an konnte es Borsche nicht
erwarten, den Koffer zu öffnen.
Ein ganzer Tag verging, bevor er ihn endlich in
den Händen hielt: den Führerbefehl, die Ermächtigung, durch die er die Vollmacht besaß, alles zu
unternehmen, was er zum Schutze des Koffers für
notwendig erachtete. Brauchte er einen Wagen
für den Transport und eine bewaffnete Eskorte –
hier war der dazu nötige Wisch.
Er faltete den Führerbefehl gerade sorgfältig
zusammen, als ihn eine Eilmeldung erreichte:
Sein schärfster Konkurrent war in Polen einem
Partisanenüberfall zum Opfer gefallen. Einem
unerwarteten, denn das Gelände wies fast keine
Möglichkeit für einen Hinterhalt auf. Es gab dort
kein Haus, keinen Baum und keine Mauer, nur
einen Graben, aus dem urplötzlich ein Schütze
heraussprang, der (das war das Seltsamste) alle
Deutschen vor seiner Flinte verschonte – bis auf
den einen, dem er das Hirn wegblies. Die Meldung und die sich daraus ergebende Beförderung
war Borsche ein paar Schnäpse wert. Er hatte das
Zarenpalais als Hauptmann verlassen – und kam
als Major in Königsberg an.
Als er sich mit seinen neuen Rangabzeichen
im Spiegel betrachtete, dachte er: 'So sieht er aus,
der Herrenmensch!' Dabei hatte sich die Natur
nicht viel Mühe gegeben, ihn eindrucksvoll er25
scheinen zu lassen. Er maß kaum einen Meter
sechzig und war so schwächlich, dass er nur mit
Mühe ein Gewehr halten konnte. Trotzdem beherrschte ihn die Überzeugung, dass er in dem
Volk der Auserwählten am auserwähltesten war
– abgesehen vom Führer natürlich.
Die Frage war, wie er den Überseekoffer am
besten für seine Mission einsetzte. Und für die
Mission des Führers. In den mit einem Lederüberzug beschlagenen Holzkasten passte zwar
immens viel hinein, doch obwohl er alle normalen Gepäckdimensionen sprengte, ließ sich darin
keine Kanone verstauen. Der Koffer konnte nicht
einmal eine Haubitze aufnehmen; er wäre militärisch also völlig wertlos gewesen, wenn nicht …
Ja, wenn nicht etwas darin hätte Platz finden
können, das mehr ausrichtete als eine ganze Armee – die Atombombe.
Borsche fieberte dem Tag entgegen, an dem ihn
keine schwarze Karte zurückhielt: »Wunsch nicht
erfüllbar«. Dann würde es so weit sein. Dann war
er der Mann für den Endsieg. Vorausgesetzt, dass
dem Reich noch eine abschussbereite V-2 zur Verfügung stand. Vermutlich war er der einzige deutsche Offizier, der darauf setzte, dass die Feinde
mit ihrer Wunderwaffe möglichst schnell vorankamen. Und ganz gewiss der Einzige, der Einblick
in die Operationen der Gegenseite gewann.
Die Amerikaner hatten ihren Geheimdienst –
und er hatte den Koffer. Zwar wusste er, indem er
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der Rasputin-Methode folgte, niemals genau,
welche Dokumente er eigentlich erhalten wollte,
sodass er immer wieder die belanglosesten englischsprachigen Dossiers durchlas (die ihn zum
Beispiel über den täglichen Toilettenpapierverbrauch im Pentagon in Kenntnis setzten), doch
schlussendlich erfuhr er, was in Los Alamos vor
sich ging.
Während die Sonne dieses Wüstenkaff versengte, verbrannte Königsberg. Die alliierten Bomber
legten es in Schutt und Asche. Das Bernsteinzimmer, das man im Schloss ausgestellt hatte, musste
wieder einmal demontiert und in Kisten verpackt
werden. Es verschwand in den Kellergewölben, die
so tief in die Erde hineingebohrt waren, dass sie
jedem Luftangriff widerstanden. Zwischen diesen
unschätzbaren Werten stand der Überseekoffer.
Rasputins Koffer. Die Zukunft des Reiches.
Der Mann, von dem die Geschicke der Welt
abhingen, campierte direkt daneben auf einem
Feldbett. Er konnte sich von seinem Schatz nicht
trennen und verließ die Gruft nie. Wozu auch?
Im Unterschied zu den Anderen blieb ihm die
Angst erspart, im Untergrund zu verhungern.
Dank des Koffers verfügte er über ein veritables
Tischlein-deck-dich. Über ihm brannte das
Schloss bis auf die Grundmauern nieder, aber er
fühlte sich sicher. Es ging ihm in den Innereien
der Erde blendend, bis … Der x-te Bombenangriff
erwies sich als zu stark. Ein Kellergewölbe nach
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dem anderen stürzte ein. Wen das Gestein nicht
erschlug, der drohte in dem dichten Qualm zu
ersticken. Dann drangen die Flammen zu den
Eingeschlossenen hinab.
Borsche versuchte, sich zum Koffer vorzutasten. Mit dem letzten, in dieser Lage noch möglichen Plan: Ihn mittels der Wunsch-Karten mit
Löschwasser zu füllen. Aber schon nach den ersten Schritten taumelte er nur noch. Er versuchte,
sich an einer Wand festzuhalten. Die Wand zitterte noch stärker als er. Die Wand wurde schwarz.
Alles wurde schwarz. Die Welt war nur noch eine
schwarze, undurchdringliche Wand. Und dann
war die Welt weg.
Als er zu sich kam, umfing ihn immer noch eine
undurchdringliche Schwärze. Seine Hände ertasteten Holz. Es fühlte sich wie ein Deckel an. Es konnte sich nur um den Deckel eines Sargs handeln.
Hatten sie ihn für tot gehalten und verscharrt? In
panischer Angst warf er sich gegen die Holzplatte.
Endlich: Ein Lichtspalt! Er stemmte den Deckel
hoch und … Ihn umgab eine braungraue Suppe,
aber wenigstens keine völlige Finsternis mehr. Ein
flackerndes Licht kämpfte gegen das Erlöschen an.
Langsam begriff er: Er befand sich immer
noch im Keller. Weil der Stromgenerator laufend
ausfiel, benutzten sie in den Katakomben Grubenlampen. Der vermeintliche Sarg entpuppte
sich als der Überseekoffer. Wie war er dort hin28
eingekommen? Ihm blieb keine Zeit, dieses Rätsel zu lösen. In der Dunkelheit näherte sich Jemand. Er hörte keine Schritte, nur platschende
Geräusche. Watete dort ein Mann durch einen
Bach? Borsche krabbelte aus dem Koffer heraus
und landete in eiskaltem Wasser. Das konnte nur
Löschwasser sein. Wie hatte man es im Bombenhagel vom Fluss hochgepumpt?
Er gab es auf, darüber nachzugrübeln, denn das
Patsch-Patsch der Stiefel arbeitete sich immer
näher an ihn heran. Der Unsichtbare stoppte.
Dann blitzte eine Taschenlampe auf. Die Lampe
hielt ein hagerer Mann, der so groß war, dass er
sich in dem niedrigen Gang bücken musste. Hinter ihm drängten sich diffuse Gestalten. Das fahle
Grubenlicht drang kaum bis zu ihren Hälsen hoch.
Immerhin enthüllte es, dass die Uniformen der
Soldaten zerfetzt und ihre Hände schwarz vom
Ruß waren.
»Hier ist es noch sicher«, ließ sich die Stimme
von Oberst Moltke, dem Leiter der Kunstschutzabteilung, vernehmen. »Das Bernsteinzimmer ist
gerettet. Unser Auftrag besteht fort.«
Obwohl das geflutete Gewölbe seine Stimme
stumpf machte, klang er so lehrerhaft wie immer.
Zwar trug er seit zehn Jahren eine SS-Uniform,
doch seine Hochschulherkunft konnte er nicht
verleugnen. Seine Schritte durchmaßen die
schwarze Brühe so würdevoll, als ob er zu einem
Pult spazierte. Oder zu einem wissenschaftlichen
29
Exponat, das man in einem Hörsaal zur Schau
stellte. Das Exponat, vor dem er stehen blieb, war
Major Borsche. Er fixierte ihn mit seiner Taschenlampe. Anschließend leuchtete er in den Koffer
hinein.
»Leer!« stellte er fest und kitzelte dann mit dem
Lampenschein Borsches Nase. »Und das nennen
Sie kunsthistorisch bedeutsam?«, höhnte er. »So
bedeutsam, dass dafür deutsche Soldaten ihr Leben
aufs Spiel setzen müssen?«
Die Soldaten, die er in seinem Schlepptau mit
sich führte, schienen das sehr persönlich zu nehmen. Ein tiefes, von Feindschaft erfülltes Schweigen trat ein.
»Glauben Sie«, fuhr Moltke fort, »ich würde
mir jemals einen Befehl erlauben, der nichts als …
Verarschung ist? Meinen Sie, irgendein deutscher
Offizier darf das tun?«
So trocken sein Tonfall war, schwang darin
doch eine uralte Aversion mit. Seit dem Tag, an
dem ihm Borsche zugeteilt worden war, wartete
er darauf, ihm eine schwere Verfehlung nachweisen zu können und ihn eines Tages vor das
Kriegsgericht zu bringen. Dass sich mit dem alten
Knacker nicht gut "Kirschen essen" ließen, wusste Borsche seit Langem, doch jetzt wurde ihm
klar: Ich kann mein Ziel nur erreichen, wenn ich
verschwinde. Der Zeitpunkt war gekommen, sich
mitsamt dem Koffer abzuseilen. Wieso zögerte er
noch, sein Trumpf-As auszuspielen? Er bewahrte
30
den Führerbefehl in seiner Brusttasche auf. Aber
was zog er nun aus seiner pitschnassen Uniform
hervor? Eine breiige Pampe, die sich unter seinen
Fingern auflöste! Ein kleiner Dokumentzipfel
(der wichtigste) war trocken geblieben, doch
auch dort … Nur noch einzelne Buchstaben ließen sich entziffern. Der Rest war den Funken
zum Opfer gefallen, die sich durch den Uniformstoff hindurch gefressen hatten.
Er versuchte den Reichskanzleistempel unter
dem Ruß hervorzukratzen. Vergeblich. Sei's drum!
Hauptsache, er konnte die Unterschrift des Führers präsentieren. Er trat nah an Moltke heran,
um sich dessen Lampenschein zunutze zu machen
– und erlebte die bitterste aller Enttäuschungen.
Wie bei einer Geheimtinte hatte sich die Unterschrift in Nichts aufgelöst. Warum musste Hitler
auch einen wasserlöslichen Füller benutzen?
»Was wollten Sie mir denn da eben vor die
Nase halten?«, erkundigte sich der Oberst süffisant. »Vielleicht einen … Führerbefehl?«
»Führerbefehl?!«, lachte die Mannschaft so laut,
dass das Gewölbe endgültig einzustürzen drohte.
Damit war Borsches Schmach vollkommen. 'Du
wirst es noch bereuen', dachte er, 'mich lächerlich
zu machen, Moltke.' Solange er über den Koffer
verfügte, besaß er die Macht, sich zu rächen, aber
… Verdammt, das Wunschkartenkästchen! Wo
steckte es? Er hatte es, bevor er das Bewusstsein
verlor, fest an sich gedrückt. War es unter dem
31
einstürzenden Gemäuer begraben worden? Ohne
die Karten war der Koffer so nutzlos wie ein Gewehr, für das man keine Munition besaß. Seine
Stimmung sank auf den Nullpunkt. Er wäre einer
schweren Depression anheimgefallen, wenn nicht
… Moltkes Taschenlampe schwenkte herum und
was kam auf dem Löschwasser herangeschwommen? Ein kleines Kästchen – Rasputins Vermächtnis! Dummerweise trudelte es geradewegs
auf die Stiefel des Obersts zu.
»Rausfischen!«, befahl Moltke und ließ sich
dann das magische Instrument überreichen.
Borsche juckte die Faust, aber einen ranghöheren Offizier niederzustrecken, wäre der nackte
Wahnsinn gewesen. So musste er hilflos zusehen,
wie Moltke das Kästchen untersuchte. Während
er es zu öffnen versuchte, knurrte der Oberst:
»Dann wollen wir uns doch mal die Liebesbriefe Ihrer Frau zu Gemüte führen. Ich habe
hinsichtlich Ihrer Familienverhältnisse nachgefragt – und was glauben Sie, welche Auskunft ich
erhielt? Dass Sie gar keine Frau haben. Hätte
mich auch gewundert, wenn jemand mit Ihren
amorphen Gesichtszügen ... Ein missgestalteter
Zwerg wie Sie … Sie sind doch hässlich wie eine
Kröte, Borsche!«
Die Soldaten schnappten das Stichwort gierig
auf.
»Kröte! Kröte!« feixten sie.
»Warum zittern Sie denn so?« setzte Moltke
32
nach. »Fürchten Sie, dass ich auf eine ganz andere Korrespondenz stoße?« Stille. Dann kam der
Frontalangriff: »Noch sehe ich keinen Anlass, Sie
der Spionage zu bezichtigen, aber das kann sich
schnell ändern. Sie sind immerhin unter den
Roten aufgewachsen, also fast ein Russe.«
Moltke reichte seine Lampe an einen Gefreiten
weiter, damit er die Hände freihatte. Jetzt war es
nur noch eine Frage von Sekunden, bis er den
Druckknopf betätigte – und damit Rasputins Geheimnis entdeckte. Sein Zeigefinger näherte sich
dem Knopf, doch plötzlich ließ ihn eine Meldung
herumfahren:
»Ein dringender Anruf aus Berlin, Herr
Oberst!«
Die Telefonleitung funktionierte also noch.
Moltke stakste durch das Wasser davon. Er warf
das Kästchen achtlos beiseite. Ein Griff und Borsche hielt es wieder in den Händen. Der Anruf
verschaffte ihm Luft, um das Kästchen zu verstecken – aber wohin damit? Ihm half der Trubel,
der unter den Soldaten ausbrach.
»Jetzt werden sie uns rausholen!« – diese fieberhafte, von Kehle zu Kehle wandernde, Erwartung sorgte dafür, dass keiner mehr auf Borsche
achtete.
»Raus!« – »Raus!« überschlugen sich die
Stimmen. »Das Bernsteinzimmer kann nicht
länger hier bleiben.«
33
Niemand sah, wie er das Kästchen im Koffer
verstaute. Anschließend schloss er die riesige Truhe ab. Da er den Schlüssel mit einem Bindfaden
an seinem Gürtel festgebunden hatte, war dieser
während des Angriffs nicht verloren gegangen.
Als der Oberst zurückkehrte, zerstob die Hoffnung, die der Anruf ausgelöst hatte. Er war so
erregt, dass er keinen Gedanken mehr an den
Koffer verschwendete.
»Die haben ja keine Ahnung«, schäumte er,
»was hier los ist! Ich habe mir den Mund fusselig
geredet, aber sie verweigern die Evakuierung.
'Standhalten!' – die haben gut reden. Sie sitzen
im Trockenen, während wir …«
Dieses "Wir" umfasste noch etwa zwanzig Mann,
die sich in den wenigen unzerstörten Katakomben den Platz mit einer Unzahl von Holzkisten
teilten. Deren Inhalt war so wertvoll, dass man
sich unter gar keinen Umständen auf ihnen niederlassen durfte. Der Oberst verbot sogar, sie als
Esstische zu benutzen. Die einzige Sitzgelegenheit, die für die eingeschlossenen Soldaten blieb,
war der Überseekoffer. Da es keinen Moment
gab, in dem nicht wenigstens drei oder vier Gestalten darauf hockten, fand Borsche keine Gelegenheit mehr, an seinen Schatz heranzukommen.
Zur Untätigkeit verdammt, sehnte er den Tag
herbei, an dem nur noch eine Devise gelten würde: Augen zu und durch! In der Stunde der Eva34
kuierung, wenn alles drunter und drüber ging,
hatte er freie Bahn. Nur: Wann holte man dieses
verdammte Bernsteinzimmer aus dem Inferno
heraus? Das war der Moment, auf den er wartete.
Dann erst konnte er seine Karten ausspielen.
Seine Wunsch-Karten. Und seine Todes-Karten.
Der Winter kam, aber der erlösende Befehl
wollte nicht kommen. Er verbrachte den ganzen
Dezember in der eisigen Gruft, den ganzen Januar, den Feb… Mitten im Februar war es so weit.
Jetzt gab man Königsberg verloren. Für die Eingeschlossenen war es buchstäblich fünf nach zwölf,
denn die Russen drangen bereits in die Stadt ein.
Als Borsche den Befehl hörte:
»Abtransport in einen thüringischen Schacht«,
dachte er: 'Kann das noch gut gehen?' Doch dann
durchströmte ihn ein erhebendes Gefühl: Endlich
schlug die Stunde des Nahkampfs – und damit die
Stunde des Koffers. Die Stunde seiner Geheimwaffe.
Die alles entscheidende Stunde begann mit Wehrmachtslastwagen, die auf die Ruine zu rumpelten.
Sie setzte sich mit den im Schneematsch versinkenden LKW fort. Die Männer der Kunstschutzabteilung verfolgten, wie ihre Evakuierungsfahrzeuge
von Stalinorgeln durchsiebt wurden. Sie sahen, wie
die Panzerfäuste sie trafen. Wie sie explodierten.
Und wie sie ausbrannten.
35
Nachdem der Ausbruchsplan gescheitert war,
blieb nur noch eine Möglichkeit: Die Kisten von
der Schlossruine zum Fluss hinab zu schleppen.
Im Hafen lag ein Frachtkahn, auf dem man sie
zum Haff hinaus befördern konnte. Durch das
Tauwetter der letzten Tage bestand die Chance,
dass dieses Schiff das Eis durchbrach. Oberst
Moltke erteilte den entsprechenden Befehl. Der
vermutlich sein letzter war. – Nein, sein vorletzter, denn jetzt erinnerte er sich wieder an den
Überseekoffer.
»Das Ungetüm bleibt hier!«, befahl er grimmig.
»Dass nur ja keiner auf Major Kröte hört! Wenn
einer wagt, seine Schatzkiste anzurühren, lasse ich
ihn standrechtlich erschießen.«
Trotz dieser unmissverständlichen Anordnung
hatte Borsche nun keine Wahl mehr. Er musste
seine Karten ausspielen. Das Durcheinander half
ihm. Er kam an den Koffer heran. Er schloss ihn
auf. Er nahm das Kästchen heraus. Er drückte
den Knopf. Er zog die Wunsch-Karte. Und was
wünschte er sich? Er wusste es selbst nicht, bis er
sich den Wunsch aussprechen hörte: Ein pornografisches Bild, das den verhassten Oberst beim
Geschlechtsverkehr zeigte. In flagranti von einer
Kamera bei einer Rassenschande ertappt. Als er
sagen wollte: »Und Oberst Moltke soll dafür leiden«, versagte plötzlich seine Stimme. Kein
Wunder! Der Winter in einer eisigen Gruft forderte seinen Tribut. Er krächzte den Satz mit
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einer so großen Anstrengung aus sich heraus,
dass er sich dabei erbrach. Dann klappte er den
Überseekoffer zu und sackte, von Schüttelfrost
gepeinigt, in sich zusammen. Er brachte kaum
noch die Kraft auf, um den Koffer wieder zu öffnen. Das Fieber hatte ihn in der Gewalt – ausgerechnet jetzt, da er sich keine Grippe leisten
konnte. Eine Lungenentzündung schon gar nicht.
Seine Hände zitterten zu sehr, als dass er die
Fotografie hätte festhalten können. Aber ein
Blick genügte. Es war ein wundervoller Schnappschuss – mehr noch, ein genialer, weil er den
Oberst beim Analverkehr mit einem Rabbi zeigte.
Während er noch über die Perspektive staunte,
die den Judenpimmel zu einer gigantischen Größe aufblies, vernahm er aus dem Nebenraum
bereits die Schmerzensschreie seines Vorgesetzten. Es war so weit! Das Verrecken beraubte den
Oberst jeder Kultiviertheit. Er hörte sich genauso
an wie jeder andere Soldat, der vor Schmerzen
den Verstand verlor.
In der akustischen Deckung dieser Schreie
pirschten sich Schritte an Borsche heran. Sie gehörten zu Leutnant Meier, den alle nur "Großes M,
kleine Eier" nannten.
»Was machen Sie da, Herr Major?«, kreischte
der Leutnant. (Auch er war nur noch ein von der
Krankheit gezeichnetes Nervenbündel.) »Der Befehl des Obersts ist immer noch in Kraft. Niemand
rührt den Koffer an!«
37
»Ich habe nicht die Absicht, mich diesem Befehl zu widersetzen«, versuchte Borsche zu sagen,
musste sich aber damit begnügen, seine Unterwürfigkeit mit Gesten zu demonstrieren. Er benötigte den Koffer jetzt nicht. Fürs Erste genügte
das Wunschkästchen, mit dem er sich in eine
dunkle Ecke verzog. Dort gab er seine nächste
Bestellung auf: Ein Grippemittel, das ihn von
Fieber und Heiserkeit befreite. Wer würde dafür
leiden müssen? Natürlich Großes-M-kleine-Eier.
Seine Mission durfte jetzt nicht an so einem
Nichts scheitern, das sich ihm in den Weg stellte.
Bei dem Namen Meier streikten seine Stimmbänder wieder, aber irgendwie presste er alle für
ein Todesurteil erforderlichen Phoneme aus sich
heraus. Dann wankte er zum Überseekoffer zurück. Wurde sein Schatz immer noch bewacht?
Nein, die Luft war rein. Nach dem Ausfall des
Obersts hatte sich der Leutnant um den Abtransport der Millionenwerte zu kümmern. Im Koffer
fand Borsche ein Fläschchen. Als er es aufschraubte, wurde seine verstopfte Nase von einem Geruch frei gesprengt, der so stechendscharf war, wie es sich für ein gutes Medikament
gehörte.
Er schluckte nicht nur ein paar Tropfen, sondern goss den gesamten Inhalt in sich hinein.
Womöglich nahm er eine tödliche Dosis zu sich,
aber in seiner Lage gab es keine Zurückhaltung
mehr. Er konnte nicht auf eine tagelange Gene38
sung warten. Jetzt oder nie – alles oder nichts! Er
spürte die Wirkung augenblicklich. Sie warf ihn
zu Boden. Sie lähmte ihn. Sie sandte Schauer
durch seinen Körper und dann …
Der Leutnant krachte herein und stürzte direkt neben ihm zu Boden. Unter furchtbaren
Schreien, aus denen ein noch viel furchtbareres
Wimmern wurde. Meier erwartete ein langsamer
Tod. Als Folge eines Treffers in den Unterleib –
beigefügt durch eine unsachgemäße Handhabung
der eigenen Waffe, wobei Unterleib ein Euphemismus war: Der Leutnant hatte sich die Eier
weggeschossen. Während sich seine Leiden steigerten, ließen Borsches Qualen nach. Er fühlte
sich nahezu fieberfrei, als er sich erhob und dabei
sagte … Ja, er sagte es tatsächlich, er hustete es
nicht! Seiner Stimme ließ sich kaum noch eine
Heiserkeit anmerken, während er den zuckenden
Fleischklumpen zu seinen Füßen in die politische
Philosophie einweihte:
»Ein Mensch – ein Problem. Kein Mensch –
kein Problem.«
Es war das erste Mal, dass er nicht seinen eigenen Führer zitierte, sondern den der Gegenseite: Josef Stalin.
Ein Problem war beseitigt, aber ein anderes bestand weiter: Wer sollte den Koffer von hier forttragen? Dazu brauchte es zwei kräftige Männer.
Wer würde wohl dazu bereit sein? Die Lösung
lieferte wieder einmal der Überseekoffer: ein paar
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Tausend Reichsmark – gerade so viel, wie sich
Soldaten unter die Jacke stopfen konnten.
Vor die Wahl gestellt, zentnerschwere Kisten
oder einen leeren Koffer zu tragen, entschieden
sich zwei Feldwebel für die leichtere Aufgabe –
und für das fürstlichste Gehalt, das jemals Möbelpacker erhalten hatten. Die Person, die für das
Geld leiden musste, fand Borsche auf einer Liste,
die er während der Wintermonate erstellt hatte.
Alle, die ihm irgendwann einmal zu nahe traten,
wurden darin aufgeführt. Weiß Gott, er hatte
Grund, die Leute zu hassen, mit denen er hier
unten eingesperrt gewesen war!
Es dauerte eine Ewigkeit, bis er und die Kofferträger den Ausgang erreichten. Sie verließen die
Höhlenwelt um keine Sekunde zu früh. In ihrem
Rücken ertönte ein mächtiges Grollen und dann
stürzte alles hinter ihnen ein.
Eine Stunde später war Borsche am Hafen.
Seine Helfer verstauten den Koffer in einem
Ruderboot und machten sich mit dem letzten
Motorboot, das sie noch auftreiben konnten, aus
dem Staub. Sie schrappten durch die schmale
Fahrrinne, die sich in der Eisdecke wie eine graue
Narbe abzeichnete. Ihr Ziel war das Haff. – Und
seines? Sollte er etwa aufs Meer hinausrudern?
Dazu war er bei seiner schwächlichen Konstitution gar nicht in der Lage, schon gar nicht,
wenn er sich immer wieder den Weg durchs Eis
frei hacken musste! Half es ihm, wenn er sich
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einen Außenbordmotor herbeiwünschte? Ach,
das war lachhaft! Er hätte jetzt eine fliegende
Kiste gebraucht, einen Einsitzer wie Quax, der
Bruchpilot, doch egal, wie klein so ein Flugzeug
war, es passte in den Koffer nicht hinein und fiel
somit in die Kategorie »Wunsch nicht erfüllbar.«
Plötzlich kam ihm eine Idee.
Sie war aberwitzig, aber widersprach nicht das
Geheimnis des Überseekoffers sowieso den physikalischen Gesetzen? War es nicht gleichermaßen
absurd, wenn sich darin eine Kalaschnikow materialisierte oder ein … fliegender Teppich?
Gesagt, getan. Er bekam einen Perser geliefert.
Als er ihn ausrollte, stellte er fest, dass der Teppich ein ganzes Wohnzimmer ausfüllen konnte.
So fand er mitsamt Koffer darauf mühelos Platz.
Aber war der Koffer nicht zu schwer? Und selbst
wenn das Ding startete, was sollte er machen,
wenn der Koffer herunterflog? Er breitete die
Arme aus, um sich an beiden Koffergriffen festzuhalten und hatte die vage Hoffnung, dass sich
das Fluggerät auf diese Weise steuern ließ. Oder
sollte er für jedes »zwei Grad nach rechts / nach
links« erst eine Wunschkarte ziehen?
Er rief »Hüh!« Keine Reaktion. Doch mit einem
Mal ging es los. Der Teppich ließ sich lenken wie
eine Seifenkiste. Aber er gewann nicht schnell genug an Höhe. Zwar gelang es ihm, jedem Schornstein auszuweichen, mit dem er zu kollidieren
drohte, aber die verdammten Flakgeschütze! Aus
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dem MG-Feuer war er längst heraus, aber was passierte, wenn ihn eine Granate erwischte? Die Lage
wurde noch ungemütlicher, denn jetzt merkte er,
dass sie ihn direkt ins Visier nahmen. Als in seiner
unmittelbaren Nähe ein Öltank explodierte, den er
als Deckung zu nehmen versuchte, wusste er, dass
es so nicht weiter ging. Er entkam der Flammenhölle nur durch eine rasante Drehung, bei der er
mitsamt Koffer beinahe von seinem Fluggerät herabstürzte. Er musste unsichtbar werden – für jedes
menschliche Auge und sogar für das Radar. Wenn
er einen fliegenden Teppich bestellen konnte –
warum nicht auch eine Tarnkappe? Er versuchte es
(und wünschte sich dabei, dass der General leiden
möge, der einst seine Fähigkeiten übersehen hatte,
als er Oberst Moltke zum Leiter der Kunstschutzabteilung machte.)
Koffer zu, Koffer auf … Das Wunder war geschehen. Die Kappe sah allerdings eher wie ein
Pilotenhelm aus. 'Ich fliege einen Tarnkappenbomber', dachte er, als er den Helm aufsetzte, und
hatte damit das Gefühl, dass er seiner Zeit weit
voraus war. Die Tarnkappe schien zu funktionieren, denn die Russen nahmen jetzt buchstäblich
alles unter Beschuss – nur nicht ihn. Allerdings
war der Teppich so langsam, als würde er auf einem Kamel über den Himmel dahin reiten. Das
mochte ja die richtige Reisegeschwindigkeit zur
Zeit Harun al Raschids gewesen sein, doch in der
Epoche der Kampfflieger war es ein Witz.
42
Nach einiger Zeit begann ihn die Kälte zu plagen. Er schlotterte erbärmlich, aber er wagte es
nicht, sich einen Ofen zu wünschen. Wahrscheinlich wäre die Tragfähigkeit seines Fluggeräts mit
dessen Gewicht überfordert. Ganz abgesehen von
der Gefahr des Funkenflugs. Nicht auszudenken,
wenn der Teppich in Brand geriet! Dann kam der
Hunger. Wie viel Ballast vertrug der Teppich? Ein
Brathähnchen, eine Käseplatte und eine Flasche
Rotwein – ging das noch oder riskierte er damit
den Absturz? So oder so – der Komfort entsprach
nicht gerade dem eines Zeppelins. Er beugte sich
vorsichtig vor, um über den Teppichrand einen
Blick in die Tiefe zu werfen. In welche Gegend
hatte es ihn verschlagen? Eine endlose weiße Fläche breitete sich unter ihm aus, in die man eine
kleine Ortschaft hineingetüpfelt hatte. Sie war
restlos zerstört.
Nur an einem schmucken Gebäude schien der
Krieg spurlos vorübergegangen zu sein. Offensichtlich handelte es sich um das Herrenhaus eines
Gutshofes. Am Schornstein war eine rote Fahne
befestigt, die stolz im Wind flatterte. Zwar sah er
nirgendwo Armeefahrzeuge, die auf die Anwesenheit von Rotarmisten hindeuteten, doch in jedem
Fall befand er sich im Feindesland. Nun, was
machte das? Der Überseekoffer würde ihm ja alles
liefern, was er brauchte, um die Sowjets zu entzücken. Sollten sie ruhig das Bernsteinzimmer zurück
verlangen. Kein Problem! Zehn Kofferfüllungen
43
und sie konnten es von neuem zusammenbasteln.
Eine einzelne Füllung dagegen reichte für … Jetzt
erinnerte er sich wieder an die genialste seiner
Ideen. – Drei Monate? Vier? Wie lange brauchten
die Amis noch? Wie auch immer es in Los Alamos
voranging, der Tag rückte näher, an dem er im
Rahmen einer feierlichen Zeremonie im Kreml den
Kofferdeckel hochklappen würde, um einer ungläubig staunenden Nomenklatura die … Atombombe zu enthüllen. Dann war er der größte Magier aller Zeiten.
Mit dieser grandiosen Zukunftsaussicht landete
er vor dem Gutshof, keine fünfzig Meter von der
Hofeinfahrt entfernt. Aus dem Schornstein des
Herrenhauses stieg Rauch auf, der die daneben
wehende Fahne immer mehr verschleierte. Er ging
ein paar Schritte aufs Haus zu und blickte dann
zurück – zu dem Vehikel, das ihn hierher gebracht
hatte. Natürlich war es kein fliegender Teppich –
diese Vorstellung hatte ihn lediglich davor bewahrt, einem Herzkasper zu erliegen. Ein Hoch
auf die Fantasie! Nur indem er in die Märchenwelt
von Tausend-und-eine-Nacht entfloh, konnte er
die lebensgefährliche Flucht überstehen. Tatsächlich hatte er sich statt des Teppichs eine Sowjetuniform gewünscht und nicht irgendeine, sondern
die eines Generals der Roten Armee. Jetzt, da er in
Sicherheit war, spulte sich sein innerer Film zurück. Er stand wieder im Königsberger Hafen.
Und er fasste wieder seinen unvermeidlichen Ent44
schluss: Ich werde auf die Seite der Sieger wechseln. Gesagt, getan. Der Koffer lieferte ihm eine
maßgeschneiderte Uniform. Er streifte sie sich im
letzten Moment über, denn die Russen kamen
bereits in Sichtweite. Zugleich schlüpfte er viel zu
früh in seine neue Haut, weil die Deutschen partout nicht aufgaben. Da stand er mitten auf dem
Schlachtfeld als ein kommunistischer Kommandeur und stellte für jeden Nazi-Heckenschützen
das lohnendste aller Ziele dar. Rattatatatatat –
Wumm! Was für einen Husarenritt hatte er überstanden!
Dank eines Höllenhunds von einem Fahrer, der
nun über dem Lenkrad des russischen Militärjeeps hing. Es sah aus, als ob der Fahrer friedlich
schlafe. Allerdings hatte ihm diesen Schlaf eine
Maschinengewehrsalve verschafft. Pech gehabt,
Iwan Danilowitsch, dass du misstrauisch wurdest,
und es war nicht mein Unglück, sondern deines,
dass ich mich verplapperte. Du hättest nicht zu
meinem Mitwisser werden dürfen, denn so war es
unvermeidlich, dass die Gesetze des Koffers griffen: Einer muss leiden. Immerhin gabst du dein
Leben für ein wundervolles Dokument hin, das
kein Geringerer als der Genosse Stalin verfertigte.
Mit diesem Gedanken bewegte sich Borsche auf
das ehemalige Rittergut zu. Es wurde gerade dunkel und im Herrenhaus blinkte ein Licht auf. Die
Dämmerung verschluckte den Schornsteinrauch.
Dafür ließ sich an den Eisblumen des erleuchteten
45
Fensters ablesen, wie stark im Gebäudeinneren
geheizt wurde. Der Lampenschein wurde immer
heller und weißer. Schließlich enthüllte das dabei
entstehende Guckloch die Glühbirne. Sie verfügten hier tatsächlich noch über Strom – was für ein
Luxus! Zu seiner Überraschung flackerte kein
weiteres Licht mehr auf. War nur das eine Zimmer
bewohnt? Wie viele Leute mochten sich darin
befinden?
In den Glühbirnenschein trat eine fast nackte
Frau. Sie presste sich gegen einen Kachelofen. Sie
war so jung und so hübsch, dass sich jeder Mann
mit Sicherheit auf sie gestürzt hätte, wenn … ja,
wenn sie allein gewesen wäre.
Borsches Herz klopfte heftig. Früher hätte er
gedacht: 'So eine kriegst du nie, sie wird dich
auslachen, weil du so hässlich bist.' – Aber war
Rasputin nicht genauso hässlich gewesen und
hatte er sich nicht trotzdem die Zarin gefügig
gemacht? Musste sich ihm diese Schöne nicht
hingeben, weil ihn ein absoluter Machtwille beherrschte – und weil er den Koffer besaß?
Borsche war jetzt am Fenster angekommen.
Obwohl sich das zerschmolzene Eis in unzählige
Tropfen verwandelte, die über die Scheibe herunterflossen, konnte er erkennen, dass die Frau
tatsächlich allein war. Sie hatte sich inzwischen
vollständig entkleidet. Offensichtlich rechnete sie
nicht mit Besuch. Sie ging zu ihrem Nachttisch
hinüber – oder zu dem der geflohenen Gutsher46
rin. Zwei helle Streifen auf der vergilbten Tapete
bildeten ein Kreuz. An dieser Stelle hatte sicher
viele Jahre lang ein Kruzifix gehangen – direkt
neben dem Führerporträt, das durch ein Bild von
Stalin ersetzt worden war. Es war ein handgezeichneter Generalissimus, dessen Darstellung
bis in die Schnurrbartspitzen hinein von künstlerischem Talent kündete.
Die nackte Frau (er schätzte sie auf Fünfundzwanzig) hatte nicht nur ausgesprochen liebreizende, sondern auch sehr intelligente Züge. Gut
möglich, dass sie die Künstlerin war. Eine deutsche Widerstandskämpferin? Nein, entschied er
als erfahrener Rassekundler, ihre Züge sind slawisch. Bevor sie sich ins Bett legte, schaltete sie
ein Radio ein, das neben dem Nachtschränkchen
stand. Er konnte durch die Scheiben hindurch
hören, dass sie einem sowjetischen Armeesender
lauschte, der die Einnahme von Königsberg meldete. Ihrer befriedigten Reaktion entnahm er,
dass sie russisch verstand – was seine Herkunftsdiagnose bestätigte. Außerdem wies ihr
Körper, so wohlgestaltet er war, einige Anzeichen
von Entbehrungen auf. Das sah nicht nach den
Essensrationen aus, die die Deutschen bei aller
Not noch erhielten. Vermutlich war sie einmal
deutlich vollbrüstiger gewesen. Nicht ganz so
knabenhaft, aber gerade ihre Ausgezehrtheit stachelte seine Lust weiter an.
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Sollte er jetzt ans Fenster klopfen wie ein Vagabund? Nein, nicht als General einer siegreichen
Armee. Er schob die unverschlossene Haustür
auf und bewegte sich dann mit einer so traumwandlerischen Sicherheit durch das Gutshaus, als
ob er hier schon immer zuhause gewesen wäre.
Es war, als ob ihn eine Schnur zog. Ohne zu zögern betrat er das Schlafzimmer. Die Frau reagierte erschreckt, ja geradezu panisch. Sie hatte
erkennbar vor Uniformen Angst, doch als er näherkam und das Licht des Nachttischlämpchens
seine Rangabzeichen erfasste, schlug ihre Angst
in eine unbeschreibliche Freude um. Sie hatte die
Russen zwar erwartet, aber mit ihrer Ankunft
erst für den morgigen Tag gerechnet und jetzt …
oh heiliger Sankt Marx! Jetzt kam sie bereits, die
rettende Rote Armee! Sie kam in Gestalt von
Major Borsche. Alias General Fjodor Wassiljewitsch Borisow, dessen Brust unzählige Orden
schmückten. Er zog sich aus. Ohne die Uniform
war seine Brust erheblich weniger eindrucksvoll
und doch … Er konnte sein Glück kaum fassen:
Diese Frau gab sich ihm tatsächlich hin – mit
jeder Faser ihres so unglaublich schönen Körpers! Ihm, dem Befreier, dessen Erscheinen sie
so lange ersehnt hatte.
In den Armen der Befreiten erlebte Borsche
sein erstes Liebesglück. Es war so vollkommen,
dass er danach sofort einschlief. Er versank in
einem Traum, der so wohlig, so warm, so weich
48
Ende der Leseprobe von:
Das Geheimnis des Überseekoffers - Elf unheimliche Geschichten
Autorengruppe "Das Geheimnis des
Überseekoffers", Michael Bär (ELVEA VERLAG)
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