LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 Workshop Kinder und Jugendliche, die Probleme machen, haben selbst Probleme Gerhard Rademacher, SR Oberbergschule Deggingen Zusammenfassung Ich möchte Ihnen in meinem Beitrag am Beispiel von Sascha, einem 14jährigen Jungen, der eigentlich die Klasse 7 der Hauptschule besucht, dies aber seit einem halben Jahr nicht mehr tut, in 5 Abschnitten zeigen, was wir getan haben und warum wir dies getan haben. Denn wir hatten das Ziel, Sascha wieder regelmäßig als einen Jungen zu erleben, der täglich in die Schule geht und Freude, Spaß und auch Erfolg dort erleben kann, damit Sascha für sich eine Lebensperspektive in unserer Gesellschaft und nicht außerhalb unserer Gesellschaft aufbauen kann. 1. 2. 3. 4. 5. Abschnitt: Situationsbeschreibung Abschnitt: Zur Lebenssituation und Lebensgeschichte von Sascha Ziele Maßnahmen Ergebnisse Situationsbeschreibung und Problemanalyse Ausgewählte Aussagen zur Situationsbeschreibung: -Sascha geht seit einem halben Jahr nicht mehr in die Schule. -Er geht morgens aus dem Haus und kommt nachmittags oder spät abends nach Hause. -Alle Versuche seiner Schule, an ihn heranzukommen sind gescheitert. -Die alleinerziehende Mutter,die selbst große Probleme hat, ihr Leben zu meistern, ist hilflos. In diese Folie habe ich die vier Aussagen zur Situationsbeschreibung eingetragen und möchte mit den leeren Feldern aufzeigen, dass wir eine solche Situationsbeschreibung und Problemanalyse ausführlich und fachlich gut leisten müssen. Vor allem dürfen wir uns nicht auf die Schule als Lebens- und Handlungsfeld von Sascha beschränken, sondern wir müssen einen ganzheitlichen Ansatz im Sinne der Darstellung der Lebenssituation und Lebensgeschichte von Sascha leisten . Erst dann können wir Ziele und Maßnahmen angehen. Dabei erfahren wir (in Ausschnitten): Sascha hatte eigentlich nie richtig Erfolg in der Schule. Schon im Kindergarten hatte er Probleme mit anderen Kindern.(Schlagen, Beißen, Sachen wegnehmen) Die Mutter lebt seit vielen Jahren getrennt vom Vater, der Alkoholiker ist. Sascha kennt seinen Vater, sieht ihn auch ab und zu auf der Straße, spricht aber nicht mit ihm. Auch bei der Erfassung der Lebenssituation und der Lebensgeschichte von Sascha, bei der die Schulsituation und die Schulgeschichte nur ein Teil darstellt ist eine fachlich gute und umfassende Erfassung notwendig, da nur so die subjektive Logik und der subjektive Sinn von Saschas Verhalten verstanden werden kann. Denn im Sinne der Überschrift: Schüler, die Probleme machen, haben welche, hat das Verhalten von Sascha einen Grund und es ist aus seiner subjektiven Sicht her betrachtet ein Lösungsversuch, auch wenn wir diesen nicht akzeptieren können und auch nicht wollen. LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 Wir müssen versuchen, das Leben von Sascha wenigstens begreifen.(Ausschnitte): -Mit der Wiederholung der Klasse 7 ging es ganz bergab. -Sascha bekam einen neuen Lehrer. -Er verweigerte die Mitarbeit und machte nie Hausaufgaben. -Er schloß sich einer Szene an, kifft ab und zu, begeht Diebstähle. ansatzweise zu Dies wären zum Beispiel weitere Beschreibungen seiner Lebenssituation. Nun ging es darum Ziele zu formulieren: 1.Es muss wieder Kontakt zu Sascha hergestellt werden. 2. Sascha soll wieder an schulisches Lernen herangeführt werden. 3.Sascha soll wieder regelmäßig ein schulisches Angebot wahrnehmen. 4. Sascha soll für sich eine Lebensperspektive entwickeln können und dafür Begleiter haben können. Wie haben wir nun versucht diese Ziele zu erreichen. Ich möchte Ihnen nun darstellen, wie wir das getan haben: Zuerst haben wir mit Hilfe eines anderen Jugendlichen aus der Szene Kontakt zu Sascha hergestellt. So haben wir es geschafft, dass Sascha in unsere Außenstelle kam. Diese Außenstelle ist in einem Wohngebiet im Erdgeschoß eines Wohnblocks. Dort haben wir 2 nebeneinanderliegende jeweils 100 bzw.130 qm große Wohnungen. In einer Wohnung – territorial von der anderen getrennt ,aber direkt daneben, ist unsere Außenstelle der Schule untergebracht mit 3 Räumen und einem Büro für die Lehrer. Die Räume sehen (schon) aus wie ein kleines Klassenzimmer: Schultische, eine Tafel, Schülerarbeiten und auch eine Tageslichtprojektor. Diese Symbole, die zu Schule gehören sind für die Schüler und Schülerinnen wichtig, denn sie wollen ja in eine richtige Schule gehen. Und auch Sascha will eigentlich in die Schule und einen Schulabschluß erreichen. Ein Lehrer nimmt sich vorsichtig Zeit für Sascha und arbeitet mit ihm zunächst allein drei Mal eine Stunde in der Woche. Dabei achtet er darauf, dass er Sascha in dieser 1:1 Situation nicht durch seine Person übefordert. Nach 6 Wochen kommt Sascha in eine Kleingruppe mit 2 anderen Schülern. Diese hat der Lehrer sorgfältig ausgewählt, da die subjektiven Faktoren eine große Rolle spielen und nicht selten diese subjektiven Faktoren zum Gelingen oder Mißlingen beitragen. Und wir sind durchaus bereit einen Preis dafür zu bezahlen, dass unser Versuch gelingt. Diese subjektiven Faktoren können zum Beispiel sein: Keine Akzeptanz einzelner Schüler untereinander. Aggressive Auseinandersetzungen. Bedrohungen. Arbeiten völlig verlernt haben. LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 Mangelnde physische Belastbarkeit. Zunächst völlig verschobene Tagesabläufe(spätes Aufstehen) Psychosomatische Probleme. und so weiter. Gleichzeitig versuchen die Sozialpädagogen, die in der anderen Wohnung eine Tagesgruppe und Einzelbetreuungen anbieten, ebenfalls Kontakt zu Sascha aufzubauen und ihm Alternativen für sein Verhalten aufzuzeigen. Dies sind jedoch Einzelfallhilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, sie sind nicht Bestandteil des schulischen Angebotes und werden über das Kreisjugendamt finanziert. Bereits nach 1-2 Monaten hat sich Sascha auf ein mit der sonderpädagogischen Arbeit eng verzahntes sozialpädagogisches Angebot eingelassen. Er wird im Rahmen einer Kleingruppe mit stark individuellem Ansatz betreut. Diese Maßnahmen sind eigentlich auch schon Ergebnisse, denn sie sind im Sinne eines gestuften Vorgehens immer kleine Fortschritte und Erfolge. Mit der Mutter laufen 14-tägige Gespräche. Diese werden von einer dritten Person geführt. Die Mutter soll in ihren doch vorhandenen Erziehungsressourcen gestärkt werden. Nach 3 Monaten kommt Sascha 90% der Tage in die Schule und in die Kleingruppe. Es ist davon auszugehen, dass Sascha aufgrund eines guten Grundpotentials und seiner inzwischen entwickelten Motivation und tatsächlichen Leistungen einen Hauptschulabschluss schaffen wird. Nun gilt es noch weitere Schritte in die Richtung einer Berufsvorbereitung und Lebensvorbereitung zusammen mit Sascha zu machen. Die Sozialpädagogen können auch nach dem Abschluß der Schule Begleiter in diesem Lebensabschnitt bleiben. Zusammenfassung und Abschlußinterpretation Am Beispiel von Sascha habe ich versucht ihnen aufzuzeigen, wie wichtig ein individueller Ansatz bei einem massiven Schulproblem ist, das die Regelschule auch mit Unterstützung nicht mehr lösen kann. Wir müssen auch Lernorte finden, die nicht durch große Schulgebäude und viele Schüler Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung von Schülern in einen schulischen Lernprozess behindern. Und wir müssen lernen Lehrerressourcen verstärkter schülerorientiert und jenseits üblicher Schulalltagsstrukturen einzusetzen. Weniger Unterichtsstunden mit weniger Schülern, besonders, wenn diese mit sich und Gott und der Welt große Probleme haben, bedeuten oft mehr Lernerfolg als eine größere Zahl von Schülern in einer Klasse, die aufgrund ihrer erlernten negativen Verhaltensstrategien sich selbst und die Lehrkraft überfordern und durchaus einen Zustand erzeugen können, wo man sagen könnte: Hier wird so getan, als ob Unterricht stattfinde. Schüler, die Problem machen, haben welche! – Aber welche? Interessieren wir uns mit unserer menschlichen Professionalität dafür und lassen Sie uns jenseits üblicher Erwartungen und Strukturen neue Wege gehen. Gerhard Rademacher
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