PD Dr. Frank Almai Epochenschwellen im Vergleich

Institut für Germanistik – Professur für Neuere deutsche Literatur und Kulturgeschichte
PD Dr. Frank Almai
Epochenschwellen im Vergleich:
1550, 1720, 1800, 1900
6. Vorlesung:
Block ll: 1720: Vom Spätbarock
zur Frühaufklärung III
Gliederung:
1. Das Zeitalter der Vernunft
2. Öffentlichkeit und Formen literarisch-kultureller
Kommunikation an der Epochenschwelle
3. Literarische Produktion und Autorschaft: Vom
‚ständischen’ Dichter zum ‚freien’ Schriftsteller
4. Die Ordnung der Literatur – Poetik und Ästhetik
der Frühaufklärung
5. Gattungen und literarische Diskurse: Texte und
Interpretationen
5.1. Das Lehrgedicht
5.2. Die Fabel
5.3. Die Tragödie
5.4. Die Komödie
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Johann Christoph Gottsched
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Gottsched: Zur Fabel
„Die Handlung, die darinnen steckt, hat die
folgenden vier Eigenschaften:
a) ist sie allgemein,
b) nachgeahmt,
c) erdichtet,
d) allegorisch, weil eine moralische Wahrheit
darinn verborgen liegt.“
J. C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen.
In: Ders.: Schriften zur Literatur. Stuttgart: Reclam 1982, S. 97.
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Lessing:
„Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf
einen besonderen Fall zurückführen, diesem
besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen und eine
Geschichte daraus dichten, in welcher man den
allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt
diese Erdichtung eine Fabel.“
Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Abhandlungen über die
Fabel. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 1992, S.
104.
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Gellert: Der Tanzbär
Ein Bär, der lange Zeit sein Brot ertanzen müssen,
Entrann, und wählte sich den ersten Aufenthalt.
Die Bären grüßten ihn mit brüderlichen Küssen,
Und brummten freudig durch den Wald.
Und wo ein Bär den andern sah:
So hieß es: Petz ist wieder da!
Der Bär erzählte drauf, was er in fremden Landen
Für Abenteuer ausgestanden,
Was er gesehn, gehört, getan!
Und fing, da er vom Tanzen redte,
Als ging er noch an seiner Kette,
Auf polnisch schön zu tanzen an.
Die Brüder, die ihn tanzen sahn,
Bewunderten die Wendung seiner Glieder,
Und gleich versuchten es die Brüder;
Allein anstatt, wie er, zu gehn:
So konnten sie kaum aufrecht stehn,
Und mancher fiel die Länge lang danieder.
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Um desto mehr ließ sich der Tänzer sehn;
Doch seine Kunst verdroß den ganzen Haufen.
Fort, schrien alle, fort mit dir!
Du Narr willst klüger sein, als wir?
Man zwang den Petz, davonzulaufen.
Sei nicht geschickt, man wird dich wenig hassen,
Weil dir dann jeder ähnlich ist;
Doch je geschickter du vor vielen andern bist;
Je mehr nimm dich in acht, dich prahlend sehn zu lassen.
Wahr ists, man wird auf kurze Zeit
Von deinen Künsten rühmlich sprechen;
Doch traue nicht, bald folgt der Neid,
Und macht aus der Geschicklichkeit
Ein unvergebliches Verbrechen.
Christian Fürchtegott Gellert: Werke. Band 1. Hrsg. von Gottfried
Honnefelder. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1979, S. 31-32.
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Lohenstein: Cleopatra (Auszug)
Sosius. Wo man für diese Glutt
Nicht beßre Kühlung weiß / so ist der Rath nicht
gutt
Hat Alexander nicht das wüste Meer getämmet 1) /
Thürm' in di Flutt gelegt / der Wellen Zorn
gehemmet
Di See zu Schiffbruch bracht / als sie das Heer
verdrang
Und dieser Blitz der Welt das stoltze Tyrus zwang?
Hat Caesar nicht besigt den Ocean der Britten /
Den tiefen Rhein bepfält / oft schwimmende
gestritten /
Di Veneter gezähmt / di kein gewafnet Fuß
Kein Pferd kein Mast betrat; deß Ibers strengen
Fluß
In frembdes Ufer bracht / dem Nilus Gräntzen
funden;
Ja diese grosse Stadt selbst sieghaft überwunden?
Hat der Agrippa nicht / der täglich seinen Witz
Auf unser Unheil schärfft / in Cumens Felsen
Ritz' 2) /
Und Hafen eingesenckt? Was lassen wir uns
träumen:
Augustus werde nicht deß Nilus Außtrit zäumen?
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1. Hat Alexander nicht das wüste Meer getämmet? Was für unglaubliche
Gebäue der grosse Alexander in Belägerung der Stadt Tyrus in das Meer
geleget; darvon meldet Curtius im 4. Buche: über welchen auch di darzu
schiffenden Tyrier gefragt: num major Neptuno esset Alexander. Welcher
gestalt auch Julius Caesar di Veneter / ein Volck in Niederland / welchen
wegen Epp und Flutt des Meeres weder mit Schiffen noch zu Fusse
beizukommen war / ruhmbar besigt / erzehlet Caesar lib. 3. de Bell.
Gallico p. m. 78. seqq. Wie auch welcher Gestalt er den grossen Fluß
Iberus in Spanien aus seinen Ufern geleitet / also daß er ohne Schiffe mit
seinem Heere dardurch kommen können / beschreibt er de bell. civil. c. 1.
p. m. 319. Worbey nicht zuvergessen: daß eben er mit seinem Heere
durch di Temse auf di am Rande stehende Britannier gesätzet / darvon er
de bell. Gallic. lib. 5. p. m. 133. meldet: Caesar praemisso Equitatu
confestim Legiones subsequi jussit. Sed ea Celeritate atque; eo Impetu
milites ierunt, cum Capite solo ex aqua extarent, ut hostes Impetum
Legionum atque; Equitum sustinere non possent, ripasque; dimitterent ac
se fugae mandarent. Welcher That Famianus Strada de bello Belgico
dec. 1. lib. 8. p. m. 403. seqq. vergleichet dieselbe / da 1750. Mann aus
der Spanischen Armee 4000. schritte durch di See auf di wolbewehrte
Insel Duveland zu Fusse durchgesetzt und sie erobert. Welches gleichfalls
5000. Schritte durchs Meer auf di Insel Zuitverland im 1571sten Jahr ein
Spanischer Oberster Mondragonius ausgerichtet. Vid. eund. Stradam lib. 7.
decad. 1. p. m. 376.
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2. Hat der Agrippa nicht in Cumens Felsen Ritz. Was daselbst Agrippa für
wunderliche und trefliche See-Hafen gebauet auch in di Lucriner und
Averner See das Meer eingeleitet beschreibet Sveton. in Vit. Aug. c. 16.
Xiphilin. in vit. Aug. p. m. 51.
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Christian Weise
(1642-1708)
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Titelblatt: Masaniello,
Christian Weise, 1683
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Nach Gottsched illustriert die
Tragödie zum einen durch die
Einführung mitleidswürdiger Helden
moralische Lehren, zum anderen
veranschaulicht sie vorbildhafte
Tugenden, die durch die
Bewunderung mit den Helden beim
Zuschauer zu erzeugen sind.
Gottsched:
„Ein widersprechender Charakter ist ein
Ungeheuer, das in der Natur nicht vorkömmt:
daher muß ein Geiziger geizig, ein Stolzer stolz, ein
Hitziger hitzig, ein Verzagter verzagt sein und
bleiben; es würde denn in der Fabel durch
besondere Umstände wahrscheinlich gemacht, daß
er sich ein wenig geändert hätte. Denn eine
gänzliche Änderung des Naturells oder Charakters
ist ohnedies in so kurzer Zeit unmöglich.“
J. C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen.
In: Ders.: Schriften zur Literatur. Stuttgart: Reclam 1982, S. 168.
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Titelblatt: „Sterbender Cato“,
Johann Cristoph Gottsched,
dritte Auflage, Leipzig 1741
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„Durch seine Tugend erwirbt sich Cato unter den
Zuschauern Freunde. Man bewundert, man liebet
und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen
glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er
treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie
sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt
seine stoische Meinung von dem erlaubten
Selbstmorde. Und also begeht er einen Fehler, wird
unglücklich und stirbt: Wodurch er also das
Mitleiden seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken
und Erstaunen zuwege bringet.“
J. C. Gottsched: Vorrede zum Sterbenden Cato. In: Ders.: Schriften zur
Literatur. Stuttgart: Reclam 1982, S. 210.
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Gottsched: Zur Komödie der Italiener
So wie die Italiener, die fast durchgehend ein
wollüstiges und weichliches Volk sind, haben auch
ihre Poeten nichts als Roman-Streiche,
Betrügereien der Diener und unendlich viel
abgeschmackte Narrenpossen in ihre Komödien
gebracht. Harlekin und Skaramuz sind die ewigen
Hauptpersonen ihrer Schau-Bühne: und diese
ahmen nicht die Handlungen des gemeinen Lebens
nach, sondern machen Streiche, die einem nicht so
arg träumen könnten.
Siehe: J. C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die
Deutschen. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Stuttgart: Reclam 1982,
S. 181.
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Gottscheds Komödiendefinition:
„Die Komödie ist nichts anderes als eine
Nachahmung einer lasterhaften Handlung,
die durch ihr lächerliches Wesen den
Zuschauer belustigen, aber auch zugleich
erbauen kann.“
J. C. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die
Deutschen. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Stuttgart: Reclam
1982, S. 186.
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J.C. Gottsched mit seiner
Frau Luise Adelgunde
Victoria geb. Kulmus,
Ölgemälde um 1735-40
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L.A.V. Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (Auszug:
Vierte Handlung. Zweyter Auftritt):
Frau Glaubeleichtin. Die Wiedergeburth ist das süsse Qvell
Wasser des Hertzens sag ich, welches aus der Sophia urständet,
und das himmlische Weltwesen gebiehret.
Herr Scheinfromm, (nachdencklich.) Das süs - - se Quell - Was -ser des - - Her - - tzens - das ist ziemlich deutlich. Wel - - ches
- - aus - - der - - So - - phi - - a - - ur - - stän - - det, - - und - das - - himm - - li - - sche - - Welt - - wesen ge - - bieh - - ret.
Das ist sehr schön und deutlich erklärt. Und sie Madame?
Frau Zanckenheimin. Ich sage, es ist die Erbohrenwerdung
der himmlischen Wesenheit aus der Selbstheit der animalischen
Seele in dem Centro des irrdischen Menschen, und windet sich
einwärts wie ein Rad.
Herr Scheinfromm. Die - - Er - - boh - - ren - - wer - - dung - - der –
- himm - - li - - schen - - We - - sen - - heit - - In Wahrheit! das ist
sehr schön gesagt! Und sie Madame?
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Frau Seuffzerin. Es ist eine himmlische Tinctur, wodurch die neue
Seele das vegetabilische Leben der vier Elementen wegwirfft, und
die magische Seele, als die Gottheit in seiner Gleichheit, nach dem
Modell der Weisheit in alle Dinge einbildet.
Herr Scheinfromm. Potz tausend! das ist hoch! Eine himmlische
Tinctur, wodurch die vegetabilische Seele - - [...]
Frau Zanckenheimin. Nun Herr Magister! Wer hat recht von uns?
Herr Scheinfromm. Alle dreye! Glauben sie mir, bleiben sie nur eine
jede bey ihrer Erklärung.
Frau Seuffzerin. Das kan aber nicht seyn: Es soll ein GlaubensArtickel werden.
Herr Scheinfromm. Oh! ho! Ein Glaubens Artickel?
Frau Zanckenheimin. Ja!
Herr Scheinfromm. Ein Glaubens-Artickel! Wie? haben sie denn
unsere Herren darum befragt?
Frau Glaubeleichtin. Nein!
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Herr Scheinfromm. Wie? und wollen Glaubens-Artickel machen, ohne
die Einwilligung unserer Herrn zu haben. Ich bin ihr Diener: Damit
habe ich nichts zu thun.
In: L.A.V. Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie.
Stuttgart: Reclam 2000, S. 95-97.
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