stellung nehmen - Kestnergesellschaft

JOSEPH BEUYS | MARLENE DUMAS
CHRISTIAN FALSNAES | MARTIN KIPPENBERGER
CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER | AHMET ÖGÜT
BRITTA THIE | FRANZ ERHARD WALTHER
STELLUNG NEHMEN
28. mai bis 21. august 2016
INHALT
STELLUNG NEHMEN – 4
Saalpläne – 6
JOSEPH BEUYS – 8
MARLENE DUMAS – 10
CHRISTIAN FALSNAES – 12
MARTIN KIPPENBERGER – 14
CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER – 16
AHMET ÖGÜT – 18
Cover: Zebra aus dem Werk »It’s not just a matter of black or white« (2016) von Christian Philipp Müller
BRITTA THIE – 20
FRANZ ERHARD WALTHER – 22
Impressum – 26
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STELLUNG NEHMEN
In diesem Jahr feiert die kestnergesellschaft ihr 100-jähriges Jubiläum. Die Ausstellung
STELLUNG NEHMEN knüpft inhaltlich an die Geschichte der kestnergesellschaft an, die
während der Zeit des Nationalsozialismus eindeutig Stellung bezogen hat, indem sie
­weder die Moderne Kunst noch ihren jüdischen Direktor Justus Bier verraten hat. Die Ausstellung richtet den Blick jedoch auf die Gegenwart. Nicht nur aktuelle gesellschaftliche
und politische Verhältnisse und Ereignisse verlangen uns eine Stellungnahme ab, sondern
auch technologische und kulturelle Entwicklungen. Stellung nehmen impliziert nicht nur
Meinungsbildung, aktives Handeln oder bewusstes Entscheiden, sondern auch eine Verortung innerhalb der visuellen und virtuellen Lebenswelten, die uns im Alltag umgeben.
Die digitale Kultur verändert nicht nur unsere Sehgewohnheiten sowie unseren Umgang
mit Wissen und Informationen, sondern sie beeinflusst auch unsere sozialen Beziehungen
und stellt neue Formen der Beteiligung und Teilnahme zur Disposition.
Präsentiert werden acht ausgewählte künstlerische Positionen unterschiedlicher Genera­
tionen, die mit diversen Medien wie Performance, Video, Malerei, Installation und orts­
spezifischen Interventionen arbeiten.
Mit Werken von Joseph Beuys (*1921, Krefeld; †1986, Düsseldorf), Marlene Dumas
(*1953, Kapstadt), Christian Falsnaes (*1981, Kopenhagen), Martin ­Kippenberger (*1953,
Dortmund; †1997, Wien), Christian Philipp Müller (*1957, Biel, Schweiz), ­Ahmet Ögüt
(*1981, Silvan, Türkei), Britta Thie (*1987, Minden) und Franz Erhard Walther (*1939,
Fulda). Einige der Werke wurden eigens für die Ausstellung entwickelt.
In der Gegenwartskunst lässt sich spätestens seit den sechziger Jahren eine zunehmende
Aktivierung des Rezipienten beobachten. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom finalen Werk auf den Produktionsprozess führte auch zu einer Neujustierung der Rolle des Betrachters. Im Zuge des social turn etablieren sich mit der Partizipationskunst verschiedene
Strategien, die aus dem passiven Betrachter einen Mitspieler, Ko-Autor oder Mitwirkenden
machen. Die Verschiebung der Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Kunst
und Leben sowie eine Entgrenzung des Werkbegriffs sind eng mit der Entwicklung performativer und partizipatorischer künstlerischer Strategien verknüpft.
Im Fokus der Ausstellung STELLUNG NEHMEN stehen Werke, die in besonderem Maße
darauf angelegt sind, die Betrachter zu aktivieren und diese in eine Situation zu versetzen, in der sie sich bewusst entscheiden oder verorten müssen, in der sie eine bestimmte
Haltung gegenüber dem Künstler oder dem Kunstwerk einnehmen müssen. Ausgehend
von Franz Erhard Walther, der mit seinen »Werksätzen« in den sechziger Jahre ein Werkverständnis entwickelte, in dem erst die Handlung des Betrachters das Werk vollendet,
zeichnet die Ausstellung nach, wie die Aktivität des Betrachters in die Produktion und
Rezeption eines Kunstwerks gezielt integriert wird. Es geht dabei nicht um einen chronologischen Abriss der Geschichte handlungsbezogener Kunst, sondern um die Frage,
unter welchen Vorzeichen Kunst ihren Rezipienten und die Rezipienten der Kunst heute
begegnen. Daher ist es ein Anliegen, unterschiedliche Modi der Besucheraktivierung –
über die klassischen partizipativen Modelle hinaus – vorzustellen. Die Ausstellung zeigt
auch, dass nicht nur faktische Handlungen, sondern selbstverständlich auch Bildlichkeit
und Imagination zentraler Bestandteil des aktiven ästhetischen Erfahrungsprozesses sind.
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obergeschoss
erdgeschoss
claussen-halle
halle IV
CHRISTIAN
FALSNAES
MARLENE
DUMAS
eingang
foyer
foyer
AHMET
ÖGUT
AHMET ÖGUT
BRITTA THIE
halle II
halle III
FRANZ ERHARD
WALTHER
BRITTA THIE
CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER
JOSEPH
BEUYS
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MARTIN
KIPPENBERGER
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JOSEPH BEUYS
Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee, 64:53, 1968
Digitale Kopie des Master-Bandes von 1968
*1921 in Krefeld, †1986 in Düsseldorf
Am 14. Dezember 1968 kommen ein Künstler, drei KunststudentInnen und ein ­Komponist
in einem Tonstudio in der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf zusammen, um gemeinsam ein unkonventionelles Musikstück aufzunehmen. Joseph Beuys und sein Assistent
Johannes Stüttgen sind die beiden Interpreten, Katharina Sieverding und Karin ­Kulleschitz
steuern einige Hintergrundbeats bei und der dänische Komponist Henning Christiansen
leitet die Aufnahme. Das Ergebnis dieses Treffens liegt später in Form einer über einstündigen Tonbandaufnahme vor, dessen Textkomposition im Wesentlichen aus dem anta­
gonistischen Wortpaar »Ja« und »Nein« (»Nee«) besteht und sich im ständig wieder­
holenden Ausspruch »Ja Ja Ja Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee« manifestiert.
In seinem unverwechselbar rheinischen Tonfall leitet Joseph Beuys die repetitive
Rezitation ein. Mit ruhiger und klarer Stimme beginnt er den Sprechakt, muss aber bereits beim ersten »Nee« ein Lachen unterdrücken. Sein vorgegebener Sprechrhythmus
und die heiter humorvolle Stimmung ziehen sich in der Folge durch das gesamte Klangbild des Stückes. Nach fünfmaliger Wiederholung setzt auf ein Zeichen Beuys’ Johannes
Stüttgen ein, dessen Stimmklang und Intonation sich noch deutlich von seinem Lehrer
unterscheiden. Abwechselnd führen nun Beuys und Stüttgen den Sprechgesang in ein
meditatives Mantra über, das sich durch die semantische Sättigung in scheinbarer Sinnlosigkeit verliert. Obwohl Beuys den rhythmischen Takt des Stückes vorgibt und sich das
Klangmuster der beiden Sprecher in der zeitlichen Ausdehnung immer mehr ähnelt, wirkt
die Aufnahme an keiner Stelle monoton. Intonation, Geschwindigkeit und Lautstärke des
Gesprochenen variieren, unterschiedlich lange Pausen trennen die einzelnen Intervalle
und zuweilen überschneiden sich die Einsätze der beiden Interpreten. Im Hintergrund
sind ­
beständig Störgeräusche wie Schritte, Husten, Plätschern und unverständliches
Gemurmel zu vernehmen. Gegen Mitte der Aufnahme beziehen sich Katharina Sieverding
und Karin ­Kulleschitz mit Interjektionen und dem Satz »So geht das nicht« auf das Wortpaar »Ja – Nee«. Mehrmals bricht die gesamte Gruppe in spontanes Lachen aus.
Handlungsaufforderung widersprochen oder zugestimmt wird, stellt das Wortpaar die
lingu­istisch kleinste Entität dar, um als Sprecher Stellung beziehen zu können. Durch
die fortwährende Wiederholung von »Ja« und »Nee« und das gleichzeitige Fehlen ­einer
vorhergehenden Entscheidungsfrage verliert sich im Beuys’schen Sprechakt jedoch
jeg­licher Bezugspunkt und eine eindeutige Stellungnahme wird obsolet. Erst vor dem
Hintergrund zweier, der Aufnahme vorausgehender Ereignisse ist die kritische Dimension
des ­Werkes zu verstehen. Am 22. November 1968 sprachen neun Professorenkollegen ein
erstes Misstrauensvotum gegen Joseph Beuys aus, weil sie seine politischen Aktivitäten
als ­Störung des Lehrbetriebs an der Kunstakademie Düsseldorf empfanden. In diese Zeit fällt
auch die Teilnahme Beuys’ an einem Begräbnis im Kreise seiner Verwandtschaft in Kleve.
Beim anschließenden Traueressen wurde er Zeuge der ihm heimatlich-vertrauten nieder­
rhei­nischen Dialektik, bei der die anwesenden älteren Damen einen sich den ­gesamten
Abend wiederholenden Klagegesang anstimmten: »Ja ja ja ja ja, nee nee nee nee nee.«
­D­ieser floskelhafte und an sich sinnleere Ausdruck einer emotionalen Befindlichkeit schien
geradezu prädestiniert dazu, einen ironisch-kritischen Kommentar zu den Entwicklungen
in der Kunstakademie zu geben.
Das ungewöhnliche Musikstück entstand im Rahmen einer Fluxus-Aktion und war unter
Ausschluss der Öffentlichkeit von Anfang an als Tonbandaufnahme konzipiert. Gleichzeitig
verortete Beuys die an sich autonom gedachte Aufnahme in einen werkübergreifenden
Kontext, indem er sie später in Ausstellungen, Konzerte und Aktionen integrierte und
in verschiedenen Versionen als Edition herausgab. Tragendes Element des Musikstückes
ist die Sprache, der im Œuvre Beuys’ eine besondere Bedeutung zugesprochen wird.
Sie hat den Stellenwert eines nicht haptischen Materials. Indem Beuys die Sprache als
­einen form­baren Werkstoff versteht, nimmt der Sprechakt eine plastische Qualität ein.
Das ­gesprochene Stück ist somit genauso eine Plastik wie die durch Hand geschaffene.
ES
Die Partikel »Ja« und »Nein« suggerieren dem Rezipienten zunächst ein Entscheidungsmoment, als sei für oder gegen etwas zu entscheiden. Indem einer Aussage oder
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MARLENE DUMAS
Liberation (1945), 1990
Öl auf Leinwand
keit beraubt haben, dem Glück der Befreiung Ausdruck zu verleihen. Der Blick, der einem
bei der Betrachtung des Werks begegnet, ist ähnlich unfassbar wie die Gräuel, die die
Person tatsächlich erfahren haben dürfte. Das Augenpaar, das auf dem dunklen Malgrund
erscheint, vermittelt größtmögliche Ambivalenz, indem offen bleibt, ob der Blick anklagend, konfrontierend, leer oder in sich gekehrt ist. Allein in der vermittelten, beherrschten
Ruhe konstituiert sich eine Form der Selbstbehauptung.
Great Men, seit 2014
Tusche, Graphit und Acryl auf Papier
Indifference, 1993 – 1994
Öl auf Leinwand
*1953 in Kapstadt, lebt und arbeitet in Amsterdam
Marlene Dumas, eine der einflussreichsten Malerinnen der Gegenwart, hat für ihre groß
angelegte Ausstellungstournee (Stedelijk Museum, Amsterdam/Tate Modern, London/
Beyeler Foundation, Basel, 2014/15) einen ihrer Werktitel zum Ausstellungstitel erhoben:
»The Image as Burden“. Damit ist ein Bildverständnis angesprochen, das Künstler wie
Betrachter gleichermaßen fordert und verpflichtet. »I am both the maker and the viewer.
First I make, then I view. Or rather, I am always aware that I am one of the viewers that
are confronted with the image in the end. I try to look at the work after it is finished
almost as if I see it for the first time and I wonder what it is doing to me. I wonder what
it is that I have done. The title always acknowledges that a painting wants to be seen.«
Dumas’ Werk kreist um Fragen der menschlichen Existenz, wobei sie meist von Individuen und ihren spezifischen gesellschaftspolitischen Situationen ausgeht. So favorisiert
die Künstlerin die Bildgattung des Porträts, bei dem sich ihr Augenmerk auf die Rezep­
tion allein schon in der Tatsache manifestiert, dass die aus der Bildfläche auftauchenden
Antlitze immer eine besondere Ansprache an den Betrachter machen. Mit Vorliebe lässt
sie die Bildfiguren nach außen, direkt zum Betrachter hin gerichtet, erscheinen oder aber
sie verkehrt die Situation in das Gegenteil, in dem eine vollständige Abwendung den
kompromisslosen Ausschluss und somit eine Zurückweisung des Rezipienten suggeriert.
In beiden Fällen werden die Betrachter gefordert, sich ihrer eigenen Rolle als direkt Angesprochene oder Zurückgewiesene bewusst zu werden.
In »Liberation (1945)« taucht ein teilweise verschattetes Gesicht aus dunklen erdigen
Malschichten hervor. Es handelt sich um eine der monströsen Vernichtungspolitik der
­Nationalsozialisten entkommene Person, deren traumatische Erfahrungen sie der Fähig10
Auch bei der Reihe der aquarellierten Zeichnungen »Great Men«, die Marlene Dumas
als Beitrag für die Manifesta in St. Petersburg begann und seither kontinuierlich erweitert, handelt es sich um Porträts. Jene von Michel Foucault und Roland Barthes werden
hier erstmals gezeigt. Die Künstlerin kommentiert jedes Porträt mit wenigen Eckdaten,
von einem russischen Vietnam-Veteranen (Leonard Matlovich), über den Begründer der
Computertechnologie (Alan Turing) bis hin zu einem Maler (Francis Bacon). Was die Dargestellten eint, ist die Tatsache, dass ihre Homosexualität sie in ihrem jeweils mehr oder
weniger homophoben Umfeld gesellschaftlichen Ausschluss oder Widerstand erleben
ließ. Die von der Künstlerin gewählte Darstellungsform, die an Tagebucheintragungen
erinnert, mag auf die innere Zerrissenheit anspielen, die mit Verheimlichung und Doppel­
leben einherging. Gesellschaftlich Unausgesprochenes formt mindestens so stark wie
das Ausgesprochene: Die Individuen, als Gruppe gefasst, formulieren gewichtige Teile
unserer (Kultur-)Geschichte, zugleich fügen sie sich als eine der zahlreichen Geschichten
der Ausgrenzung zum gesellschaftlichen Negativraum, in dem die Mechanik von Macht
und Intoleranz sichtbar wird.
Als Ausschluss und mögliche Selbstbehauptung dagegen kann »Indifference« ­gesehen
werden. Porträtiert ist eine Frauengruppe, die den Betrachtern mit größtmöglicher
Gleichgültigkeit offensiv begegnet. Eine Rückenansicht einer schwarzen Frau in der Bild­
mitte verwehrt dem Rezipienten die Einsicht in das Bildgeschehen. Die Figur sticht unter
den ansonsten weißen Frauen hervor: Gleichgültigkeit bezieht sich nicht nur auf den
Rezipienten, sondern auch auf die Differenz zwischen Hautfarbe und Herkunft. Als Gruppe
entwickeln sie ein enigmatisches Kräftefeld, das sich aus ihrer gemeinschaftlichen Verweigerung speist. Im Gegensatz zu zahlreichen historischen Haremsdarstellungen, die im
19. Jahrhundert ihre Blütezeit erfuhren, bieten die Frauen sich dem Blick des Betrachters
weder feil, noch konfrontieren sie ihn in der Erwiderung des Blicks. In der Darstellung
als Bürde, die als eine von Dumas eingeschriebene Doppelhelix in die Malerei aufgefasst
werden kann, spielt die Künstlerin den Ball immer an die Betrachter zurück. So ­erweist
sich an dieser Stelle Gleichgültigkeit als Quelle von Selbstbehauptung und ihrer
Einforderung.
CV
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CHRISTIAN FALSNAES
First, 2016
Videoperformance
*1981 in Kopenhagen, lebt und arbeitet in Berlin
Die Partizipation des Betrachters ist zentraler Bestandteil im Werk des dänischen Künstlers
Christian Falsnaes. In seinen Performances animiert er die sonst meist passiven ­Zuschauer
zu einer aktiven Stellungnahme und untersucht ihre Bereitschaft, sich der Autorität des
Künstlers zu unterwerfen. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Künstler und
seinem Publikum sowie mit Strukturen der Macht sind immer wiederkehrende Themen in
Falsnaes’ Œuvre. Seine Arbeiten haben durch ihr kritisches Potenzial stets eine politische
Dimension, ohne aber selbst politische Statements abzugeben.
Seine für die kestnergesellschaft entwickelte Performance »First« (2016) geht in Weiterentwicklung der Betrachter-Partizipation in früheren Werken des Künstlers noch einen
Schritt weiter: Falsnaes selbst ist nicht anwesend. Das von ihm geschulte Empfangspersonal der kestnergesellschaft fordert den ersten Besucher jedes Tages auf, ein kurzes Video
von sich drehen zu lassen. In der Claussen-Halle stehen zu diesem Zweck zwei Scheinwerfer und eine Kamera auf einem Stativ bereit. Eine Markierung am Boden verweist den
Besucher auf den idealen Standpunkt. Das Einschalten der Filmkamera erfolgt durch das
Personal der kestnergesellschaft. Jede Aufnahme unterliegt wie bei einer Versuchsanordnung den gleichen Einstellungen. Nachdem sich der Besucher vor der Kamera positioniert
hat, erhält er Instruktionen, Fragestellungen und Handlungsanweisungen, die Falsnaes im
Vorfeld in einem Skript verfasst hat. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Reaktionen des
Besuchers. Auf diese Weise wird der Betrachter nicht nur unmittelbar Teil, sondern auch
Protagonist der Performance. Diese wird anschließend in Form eines uneditierten Videos
großformatig an die Wand projiziert. Die Projektion befindet sich im selben Ausstellungsraum wie das Filmequipment, das als installatives Element für die Betrachter des Videos
sichtbar bleibt. Auf diese Weise entsteht jeden Tag ein neues, ortsspezifisches Video, das
am Abend wieder gelöscht wird. Sollte der erste Besucher der Ausstellung die Partizipation an der Performance verweigern, so wird im Ausstellungsraum kein Video, sondern eine
projizierte Bekanntmachung darüber für die Besucher zu lesen sein. Die Stellungnahme
erfolgt in diesem Fall bereits durch die Enthaltung. Der Besucher entscheidet sich für ein
klares Dafür oder Dagegen.
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Christian Falsnaes analysiert in seinen Performances immer wieder experimentell das Verhältnis vom Künstler zu seinem Publikum oder Betrachter und umgekehrt. Dabei lotet er
die Grenzen des Gehorsams aus. Macht und Autorität des Künstlers stehen im Fokus ­dieser
Untersuchungen. Falsnaes überträgt soziologische Handlungstheorien und Strategien
der Verführung in seine Kunstpraxis. Er versucht, die Distanz zwischen zeitgenössischer
Kunst und Betrachter aufzubrechen, indem er die Betrachter ins Zentrum seiner Werke
rückt. Diese werden erst durch die Partizipation des Kunstpublikums vollendet. Auf diese
Weise hinterfragt Falsnaes nicht nur die traditionellen Parameter eines Kunstwerks, wie
Autorschaft oder Abgeschlossenheit, sondern auch Hierarchien und ­Rollenverteilungen im
gegenwärtigen Ausstellungsbetrieb. Der Besucher emanzipiert sich von seiner Rezipienten­
rolle und entscheidet selbst darüber, was er sehen möchte. In den hier entstehenden
Videos äußern sich die Besucher zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und Ereignissen
und nehmen Stellung zu persönlichen und ästhetischen Fragestellungen. Es entstehen
vielschichtige Porträts der unterschiedlichen Ausstellungsbesucher.
Während Christian Falsnaes bei seinen früheren Performances mit Besuchergruppen
agierte, wird in »First« (2016) nur ein Besucher direkt in die Performance involviert. Zeitgleich anwesende Betrachter werden Zeugen der Performance, während später am Tag
eintreffende Gäste der kestnergesellschaft in ihrer Rezipientenrolle verbleiben, indem sie
das jeweilige Video oder dessen Verweigerung betrachten. Die Konzentration auf einen
partizipativen Besucher schärft allerdings auch die Betrachterwahrnehmung und macht
das Verhalten des Einzelnen besonders deutlich sichtbar.
HW
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MARTIN KIPPENBERGER
»Ja Ja Ja Ne Ne Ne« 2:00, 1995
»Ja Ja Ja Ne Ne Ne (für Erwachsene)« 4:27, 1995
»Ja Ja Ja Ne Ne Ne (für die Jugend)« 3:59, 1995
Digitale Kopie der CD »Beuys Best«, 1995
*1953 in Dortmund, †1997 in Wien
Martin Kippenbergers Œuvre zeugt von einem ironisch-distanzierten Blick auf die Verfahren der Kunstwelt und die Strukturen der Gesellschaft. Durch Wiederholung von Motiven,
Zeichen und Phrasen eignet er sich sowohl Werke der Kunstgeschichte als auch Bilder der
Alltagskultur an, um sie im Kontext seiner Zeit zu persiflieren und umzudeuten. Innerhalb
eines Werkes überlagern sich Anspielungen und Verweise vielfach, wodurch sich neue
Bedeutungszusammenhänge ergeben. In seinen Arbeiten überwiegt keine einheitliche
Formsprache. Vielmehr bezieht er durch die vorherrschende Arbeitsweise der Persiflage
und der Dekonstruktion kritisch Stellung zu den Geschehnissen seiner Zeit.
Guten und ­Perfekten, die mit der technischen Meisterschaft einer Kunstform einhergehen.
Das vermeintlich Unharmonische, Hässliche und Dysfunktionale, das dem unvermittelten
Zugriff auf ein Material entspringt, wird zum leitendenden Prinzip des Widerstands gegen
Normen und Regeln in Kunst und Gesellschaft. Durch die Appropriation des Werkes Beuys’
wird die Autorschaft eines Künstlers in Zweifel gezogen und ein rückwärtsgewandtes
Kunstverständnis grundsätzlich hinterfragt, das die Erhabenheit eines Kunstwerks und die
Genialität eines Künstlers behauptet. Andererseits erweist sich Kippenbergers amateurhafte Inszenierung als Musiker auch als selbstironische Geste, die signifikant für seine
Arbeiten ist. Dass er als Künstler von vornherein in eine Kunstszene und einen Kunstmarkt
involviert ist, thematisiert Kippenberger in seinen Arbeiten und bedient sich gleichzeitig
offen der geltenden Mechanismen und Strukturen. Durch Kippenbergers serielles Arbeiten
werden Begriffe wie Regel, Norm und Original hinterfragt. Die drei Versionen des Werkes
»Ja Ja Ja Ne Ne Ne« entwickelte Kippenberger durch eine leichte Variation des gleichen
Motivs. Unvermeidlich versucht man diese in Zusammenhang zu setzen, die Sinnhaftigkeit
dieser Altersvorgabe zu ergründen und stellt die Frage nach dem Original. Dabei werden
eigene Denk- und Verhaltensmuster offenbart.
Martin Kippenbergers Werk umfasst hauptsächlich Objekte und Malerei. Darüber hinaus
schrieb er Gedichte, kuratierte seine Ausstellungen und brachte, begleitend zu diesen,
Plakate, Postkarten, Kataloge und Schallplatten heraus.
LS
Die kestnergesellschaft präsentiert sowohl Joseph Beuys’ Sprechperformance »Ja Ja Ja
Ja Ja, Nee Nee Nee Nee Nee« (1968), als auch Martin Kippenbergers Antwort »Ja Ja
Ja Ne Ne Ne« aus dem Jahr 1995. Von dieser existieren zwei weitere Versionen, die
jeweils die Untertitel »für Erwachsene« und »für die Jugend« tragen. Das Werk Beuys’,
das bereits ein kritisches Moment enthält, erfährt bei Kippenberger weitere ironische
­Brechungen, die sich auch als Wertschätzung gegenüber dem Vorbild Beuys lesen lassen.
Zu hören ist ­Kippenberger, der Beuys’ Worte zu Synthesizer-Techno nachahmt. Aus diesem Sound spricht das Lebensgefühl einer bestimmten Zeit – einer Generation, in der sich
die ­Techno- und Punkbewegungen als Widerstand gegen bestehende Werte, Normen und
Traditionen formierten und in deren Szenemittelpunkt sich Kippenberger als Mitbesitzer
des Kreuzberger Clubs SO36 Ende der siebziger Jahre bewegte.
Die Worte »Ja« und »Nein« – semantisch Ausdruck der Entscheidung, Zustimmung
und Ablehnung – werden hier als Songtext einer dilettantischen Musikaufnahme bana­
lisiert und dekonstruiert. Einerseits entspricht dieser Dilettantismus – Kippenberger
hat nie ein Instrument spielen gelernt und war nach eigenen Aussagen musikalisch
nicht ­talentiert – einer bewussten Distanzierung von Vorstellungen wie dem Richtigen,
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CHRISTIAN PHILIPP MÜLLER
It’s not just a matter of black or white, 2016
Wandmalerei, Installation, Mixed Media
*1957 in Biel, lebt und arbeitet in Berlin
Christian Philipp Müllers künstlerische Praxis umfasst Fotografie, Skulptur, Installation,
Video und Performance und ist in der Konzeptkunst und Institutionskritik verankert. Im
Unterschied zu Künstlerinnen wie etwa Andrea Fraser oder Louise Lawler spannt Müller
weiter gefasste kulturhistorische Bögen, legt seine Werke prozessualer an und räumt
dem Betrachter eine zentrale Rolle ein. Seine Installationen zeichnen sich durch präzise
Setzungen aus, die gesellschaftspolitische Wertigkeiten aufgreifen und vor Ort verankerte
Konventionen, Traditionen oder Rituale, oft unter Einbezug der Betrachter, spielerisch in
den Kunstraum überführen. Performative Elemente sind konstituierend, machen jedoch
niemals allein das Werk aus. Auch durch seine Lehrtätigkeit (Professor und Rektor, Kunsthochschule Kassel 2011-2015, Akademie der Bildenden Künste, Nürnberg seit 2016) ist
sein Werk für eine jüngere Künstlergeneration einflussreich.
»It´s not just a matter of black or white«, von Christian Philipp Müller eigens für die Ausstellung »STELLUNG NEHMEN« entwickelt, entfaltet im Kontext der Ausstellung wie auch
in Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen einen besonderen Resonanz­
raum. Müller hat zahlreiche Persönlichkeiten aus dem Umfeld der kestnergesellschaft
­befragt: nach ihren Gründen, sich für den Ort zu engagieren, nach ihren Zielsetzungen
und Erwartungen. Begriffe aus den Gesprächen sind auf einer großflächig aufgemalten
Spirale in schwarz-weiß platziert, die im Zentrum in einer Jagdtrophäe kulminieren. Es
handelt sich um eine ausgestopften Zebrabüste, die aus einem der Haushalte der Befragten stammt und von Müller mit einer Augenbinde ausgestattet zu einer veritablen
Justitia-Figur erhoben wird.
die Unabhängigkeit der Institution stehen zur Disposition. Im Rahmen des 100-jährigen
Jubiläums und der außergewöhnlichen Geschichte des Hauses, die während des National­
sozialismus eine Zwangsschließung in Kauf nahm, um an dem damaligen jüdischen
­Direktor Justus Bier und der Kunst der Moderne möglichst lang festzuhalten, muss diese
Frage mehr als andernorts als Mahnung und Forderung im Raum stehen.
Was aber bedeutet Freiheit der Kunst und Unabhängigkeit einer Institution heute? In
welchem Netz der Abhängigkeit, Forderung und Erwartung steht die kestnergesellschaft
zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Wer sind die »Stakeholder« und welche Ansprüche werden gestellt? Die der kestnergesellschaft zugrundeliegende Vereinsstruktur stattet sie mit
unterschiedlichsten Engagierten aus der Zivilgesellschaft aus. Darüber hinaus erheben
weitere Kreise richtigerweise – nicht zuletzt das Publikum – ihre Ansprüche und Forderungen. Einmal am Tag erscheint eine Dame mit Hochsteckfrisur im Pelzmantel vor der
Installation. Wie in Alfred Hitchcocks »Vertigo« scheint sie hypnotisiert von der Spirale der
Begehrlichkeiten. Welche Glaubenssätze werden wirksam, wenn man mit der Realpolitik
einer Institution im 21. Jahrhundert konfrontiert ist?
Müller verfechtet ein prozessuales Werkverständnis, das heißt, erst Zeitlichkeit und die
sich darin abspielenden Handlungen komplettieren das Werk. In zahlreichen Projekten
involviert er Pflanzen, aufgefasst als Kulturgut mit gesellschaftspolitischen Implikationen
wie Biodiversität (Mangoldfähre, 2012, dOCUMENTA 13), Kolonialgeschichte (Die neue
Welt, 2006, Kloster Melk) oder Emigration (Observatory, 2015, Bundeskunsthalle Bonn).
Auch »It´s not just a matter of black or white« ist als Katalysator angelegt, bei dem die
Besucher aufgefordert werden, ihre Meinung mittels unterschiedlicher Klebepunkte in das
Werk einzubringen. Während der Laufzeit verändert sich die Wandarbeit kontinuierlich.
Es entsteht eine raumgreifende, kartographische Installation, in der die Gemengelage unterschiedlicher Akteure sichtbar wird, die in einer Institution wie der kestnergesellschaft
aufeinandertreffen. Wer unterliegt welchen Glaubenssätzen und Wertigkeiten – seinem
eigenen privaten Vertigo? In einer Zeit, in der Polarisierungstendenzen das Denken in
schwarz und weiß begünstigen, geht es darum, die Grautöne sichtbar zu machen.
CV
Wie in vielen anderen Werken von Christian Philipp Müller geht der Installation eine ­lange
Recherche voraus. »Alte Möbel, Neue Kunst« (1952), eine Ausstellung mit edukativem
wie geschäftsbringendem Impetus, bei der Möbel aus dem Besitz der Mitglieder der
kestnergesellschaft gemeinsam mit neueren Kunstwerken ausgestellt wurden, diente ihm
als Ausgangspunkt. Nach Kriegsende ging es darum, Gegenwart und Tradition, aktuelle
Kunst und den bürgerlichen Haushalt nicht als Gegensatz erfahrbar zu machen. Worum
geht es heute? Nichts Geringeres als die Freiheit des künstlerischen Programms und
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AHMET ÖGÜT
Punch This Painting, 2010
Öl auf Leinwand
Anti-Debt Monolith, 2014
Skulptur
In Honour Of, 2016
Goldkacheln
*1981 in Silvan, Türkei, lebt und arbeitet in Amsterdam und Berlin
Das künstlerische Schaffen von Ahmet Ögüt zeichnet sich durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Strukturen unseres täglichen Lebens und einer aktiven Partizipation
an gesellschaftlichen Prozessen aus. Indem er die Betrachter seiner Werke zu einer direkten Interaktion einlädt, bezieht er sie in die gesellschaftskritischen Dimensionen seines
Werkes mit ein.
Die Arbeit »Punch This Painting« ist ein veristisches Selbstporträt des Künstlers. ­Frontal
und selbstbewusst blickt er den Betrachter an. Auf seinem Shirt visualisiert sich in ­einem
Schriftzug eine Handlungsaufforderung an den Rezipienten: »punch this painting« –
»schlag dieses Gemälde«. Ahmet Ögüt ließ die Arbeit am 21. August 2010 durch das
­Auktionshaus Christie’s im Stedelijk Museum Bureau Amsterdam versteigern. Der Verkauf
war mit einer Voraussetzung verbunden: Der Käufer erklärt sich damit einverstanden,
dass es Betrachtern erlaubt ist, auf das Gemälde einzuschlagen, wann immer es aus­
gestellt ist. Holt eine Person zum Schlag aus, wird sie weder juristisch noch finanziell für
den entstandenen Schaden belangt. Der Rezipient der Arbeit wird mit einer Entscheidung konfrontiert, in der grundsätzliche Fragen nach ideellem und monetärem Wert eines
Kunstwerkes verhandelt werden und eine durch die Zeitgenossenschaft an die Folgegenerationen vorab projizierte Historizität hinterfragt wird. Ögüt überführt das klassische
Genre der Porträtmalerei in den Aktionsradius einer performativen Arbeit, über deren
Ausgang er selbst keine Kontrolle mehr hat. In dem konzeptuellen Beziehungsgeflecht
zwischen Künstler, Besitzer und Rezipient entwickelt sich eine narrative Eigendynamik, in
der sich Ögüt von der alleinigen Autorschaft emanzipiert.
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In Reaktion auf die in den USA verbreitete Schuldenanhäufung von Hochschulstudenten
initiierte Ahmet Ögüt 2014 die langfristige Gruppenarbeit »The Day After Debt«. Die
prozesshafte Initiative ist darauf angelegt, in Kooperation mit der Organisation »Debt
Collective« einen Beitrag zur Begleichung von Studienkrediten zu leisten. Ögüt bat dazu
die Künstler Natascha Sadr Haghighian, Krzystof Wodiczko, Superflex, Martha Rosler und
Dan Perjovschi, Skulpturen zu entwerfen, die dem Sammeln von Spenden dienen ­sollen.
Begleitend dazu entwarf Ögüt mit dem New Yorker Anwalt Sérgio Muñoz Sarmiento eine
schriftliche Vereinbarung, in der die Verteilung der Spendeneinahmen und der Verleih
oder Verkauf der Skulpturen geregelt sind. Demnach dürfen die Skulpturen nur an öffentlich zugänglichen Orten und ausschließlich zum Zweck des ­Spendensammelns ausgestellt
werden. Ögüts eigener Beitrag »Anti-Debt Monolith« ist eine ­minimalistische Skulptur,
die er in Anlehnung an Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey« als münzbetriebenen
Monolith ausgeführt hat. Auf den Einwurf einer Münze durch den ­Betrachter reagiert die
Arbeit mit dem Abspielen einer Audiodatei zu Studienschulden. Mit seiner Spende trägt
der Betrachter zur Schuldenreduzierung bei und wird Teil einer globalen Solidarisierungsbewegung.
In der eigens für die kestnergesellschaft konzipierten Arbeit »In Honour of« greift
Ahmet Ögüt auf die Kachelwand im Erdgeschoss der kestnergesellschaft zurück. Die
­
kestner­
kacheln in Eisen, Kupfer, Silber und Gold sind eng mit der Geschichte des
­Hauses v­ erbunden. Sie dokumentieren das gesellschaftliche Engagement der Spender,
die den Umbau eines ehemaligen Jugendstilbades in ein modernes Ausstellungshaus
­mitfinanzierten. Die kestnerkacheln ahmen in ihren Dimensionen jene Kacheln nach, die
in den alten Schwimmbecken verlegt waren und als nicht sichtbare Relikte noch immer
­tragender Teil der neuen Architektur sind. So bilden die Kacheln das bauhistorische und
ideelle Fundament der heutigen kestnergsellschaft und sind gleichzeitig Verweis auf die
eigene institutionelle Vergangenheit. Einen unentbehrlichen Part in dieser institutionellen
Vergangenheit schreibt Ögüt der jahrelangen Kenntnis und Erfahrung von Ausstellungstechnikern zu. In ihnen sieht er nicht die rein technischen Ausführer der von Künstlern
und Kuratoren gesponnenen Ideen, sondern erkennt sie als gleichberechtigte und aktive
Mitwirkende der Ausstellungsgenese an. »In Honour of« widmet Ögüt den seit 1996 für
die kestnergesellschaft wirkenden Technikern Jörg-Maria Brügger und Rainer Walter und
fordert mit der Ausstellung von zwei Goldkacheln eine öffentliche Anerkennung der sonst
nur im Hintergrund wirkenden Akteure ein.
ES
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BRITTA THIE
Translantics (Episoden 1, 5 und 6), 2015
HD Video
Produziert von der Schirn Kunsthalle Frankfurt & ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE Creative
Sirens, 2016
Plexiglas-Drucke, Resonatoren, Verstärker
*1987 in Minden, lebt und arbeitet in Berlin
Die sechsteilige Videoserie »Translantics« verstrickt den Betrachter in ein ausgeklügeltes
Spiel aus Realität und Fiktion, Dokumentation und Inszenierung, bei dem er nie ganz sicher
sein kann, was echt und was gespielt ist. Die Serie erzählt die Geschichte von BB, einer
in Berlin lebenden Künstlerin, die von Britta Thie selbst verkörpert wird. Die unterschiedlichen Protagonisten werden von Thies Freunden, Bekannten und Familienangehörigen
gespielt, die sich selbst oder erfundene Charaktere darstellen. Die Serie spielt an verschiedenen Schauplätzen wie Galerien, Clubs und Lifestyleunternehmen in Berlin und
New York. BB`s rastloser Alltag ist geprägt von ihrem Versuch, sich in der Kunstszene
zu etablieren. Sie ist ständig unterwegs und bestens vernetzt, ihr emotionaler Zustand
­pendelt zwischen Überdrehtheit, Euphorie, Enttäuschung, Unsicherheit und dem Bedürfnis nach Rückzug und Sicherheit. Von ernüchternden Vernissagen und Parties erholt sie
sich im dumpfen Rauschen anonymer Shoppingmalls, im futuristischen Schlafraum eines
Start­ups oder im vertrauten Elternhaus in der provinziellen Heimatstadt. BB und ihre
Freundinnen gehören zu einer Generation, die zerrissen ist in Anbetracht der zahllosen
Möglichkeiten des Ichs in einer digital vernetzten Welt. Es ist die Generation ­derjenigen,
die noch eine analoge Kindheit erlebt haben und mit dem Umbruch ins Digitale auf­
gewachsen sind. Mit ihrer Videoserie erzählt Thie von diesem Zwischenzustand und
­thematisiert, wie die sozialen Medien und die digitale Kommunikation unsere Beziehungen
und Emotionen beeinflussen und verändern. »Translantics« ist Selbst- und Generationenporträt, ­digitales Kammerspiel und futuristisches Märchen zugleich. Thie verwebt darin
Elemente aus ­Soap-Opera, ­Reality TV und experimentellem Video zu einer eigentümlichen
Bilderwelt.
Von der verunsichernden Atmosphäre im Wartezimmer ihrer Therapeutin entspannt sich
BB in der überbordenden Shoppingwelt eines riesigen Elektrogroßmarktes. Befremdet
und fasziniert zugleich begutachtet sie Auslagen und berührt Gegenstände. Wie die unerschöpfliche Dingwelt Bedürfnisse suggeriert und Träume kreiert, wird deutlich, als sich
BB plötzlich in den verschiedenen Flachbildschirmen selbst in einem Werbespot sieht.
Beeindruckt betrachtet BB ihr eigenes Ich in einer völlig anderen Rolle. Tagtraum? Hirngespinst? Hyperrealität? Zwischen diesen Polen bewegt sich BB`s Alltagsleben. Für den
Betrachter bleibt oft unklar, wer die Personen in der Serie sind, ob sie einen bestimmten
Charakter aus einer anderen Serie mimen oder ob die Dialoge im jeweiligen Moment
entstanden sind. Der erste Teil endet auf einer Vernissage bei einer Galeristin, der BB
schon vor Monaten ihr Portfolio geschickt hatte, ohne je eine Antwort erhalten zu haben.
Mit der Szene liefert Thie nicht nur ein humorvoll-kritisches Porträt der Berliner Expat-­
Kunstszene, sondern inszeniert gekonnt die Widersprüche und Bedingungen des Künstlerseins heute. Ausgelaugt von den Erlebnissen in der Kunst- und Partyszene besucht BB
in der fünften Episode ihre Eltern in ihrer Heimatstadt Minden. Der temporäre Rückzug in
die Provinz ist zugleich eine Art Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Die Folge erzählt
von Nostalgie und von Erinnerungen an die Kindheit. Thie arbeitet hier mit alten Fotografien und Videobildern, die in die Serie integriert werden. Das alte Bildmaterial zeigt Thies
frühes Interesse an Rollenspielen und dem Agieren vor und hinter der Kamera. In Form
von Voice-Over erzählt BB von wichtigen Dingen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und
reflektiert über die Funktion von Bildern und Sprache in digitalen Netzwerken. Die Episode
endet mit einem Anruf, der BB von der Provinz nach New York bringt, wo sie an einem
Model-Casting teilnimmt und die Höhen und Tiefen des glamourösen wie oberflächlichen
Business durchlebt.
Mit den »Sirens« (2016) präsentiert Britta Thie im Obergeschoss eine Auswahl von
Fotografien, die nicht an der Wand, sondern frei im Raum hängend, gezeigt werden. Thie
kombiniert hier unbewegte Bilder mit Sound. Die auf der Rückseite mit Resonatoren ausgestatteten Prints »sprechen« den Betrachter förmlich an und binden ihn in die visuelle
und auditive Narration der Bilder mit ein.
LD
In der ersten Episode lernen wir die drei Hauptprotagonistinnen und beste Freundinnen
BB, Anni und Yuli kennen. Bereits in der ersten Szene werden Fragen nach Identität
und Selbstdefinition thematisiert, die sich wie ein roter Faden durch die Serie ziehen.
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FRANZ ERHARD WALTHER
Der Drehung entgegen, 1986
Baumwollstoff, Holz
Schreitsockel, 1975-77
4 Elemente, Stahl
Raum durch Handlung, 2012
Video der gleichnamigen Performance im ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
am 26.5.2012
*1939 in Fulda, lebt und arbeitet in Fulda
Franz Erhard Walther zählte bereits in den sechziger Jahren zu den innovativsten ­deutschen
Künstlern. Nicht allein aufgrund seiner 35-jährigen Lehrtätigkeit an der Hochschule für
bildende Künste in Hamburg darf man ihn zu den einflussreichsten Künstlern der Gegenwart zählen. Vor dem Hintergrund der in der Nachkriegszeit (erneut) einsetzenden Zweifel
an der inhaltlichen Reichweite klassischer Kunstgattungen und -formen, besonders der
Malerei, und einer verstärkten Tendenz zu konzeptuellen künstlerischen Ansätzen, öffnete
Walther seit den ausgehenden fünfziger Jahren den Horizont des »Kunst«-Begriffs r­ adikal,
indem er den Betrachter als ein leibliches Individuum erstmals umfassend wahrnahm. Die
damit einhergehende Verabschiedung eines passiven Rezipienten bedeutet zugleich die
Anerkennung von dessen physischer und psychischer Präsenz. Dabei sind Zeitlichkeit und
Erfahrung die für Walther entscheidenden Kategorien.
Franz Erhard Walthers Arbeiten sind Ausgangspunkte für Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung und Körpererfahrung. Dies geschieht in den sogenannten Werkhandlungen und
-vorführungen. Der Begriff des »Kunstwerks« wird hierbei transformiert, nicht aber vollkommen aufgehoben. Obgleich die Betonung der Prozessualität seines Ansatzes auf eine
immaterielle Dimension zu verweisen scheint, ist die tatsächliche Grundlage von Walthers
Arbeiten stets die Materialität eines Objekts. Sie ist das Ausgangsstück, um nicht zu
­sagen: der Katalysator für eine interaktive Handlung, deren Vollzug das neuartige »Werk«
Walthers ausmacht. Die klassische museale Distanz zum Kunst-Objekt - unterstrichen von
der allgegenwärtigen Warnung »Bitte nicht berühren!« – wird damit negiert. Walthers
Werkform realisiert sich stattdessen im handelnden Vollzug. Der Künstler ist dabei nicht
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der genialische Schöpfer, sondern Impulsgeber und Ermöglicher eines Prozesses, der sich
in der Handlung der Nutzer und der Dinge erst realisiert.
Die in den frühen siebziger Jahren entstandene Werkgruppe der Schreitsockel und
Standstellen schließt chronologisch und inhaltlich an den legendären »1. Werksatz«
(1963-69) an. Dieser besteht aus 58 Objekten aus Baumwollstoffen, Schaumstoff, Holz
und verschiedenen anderen Materialien, die auf- oder ausgefaltet, um- oder übergestülpt
oder andersartig benutzt werden können. Die formal noch einmal reduzierteren Schreit­
sockel und Standstellen sind aus Stahl für Außen- und Innenräume bzw. aus Holz und Stoff
allein für Innenräume. Sie mögen auf den ersten Blick an die minimalistischen Arbeiten
von Carl Andre erinnern, die nahezu zeitgleich in New York entstanden, wo auch Walther
zwischen 1967 und 1973 lebte. Die vermeintliche Verwandtschaft mit der amerikanischen
Minimal Art ist trügerisch. Denn Walther versteht seine Arbeiten weniger als Plastiken und
hat daher auch konsequent auf eine Nähe zur Haltung von Walter de Maria hingewiesen.
Im Unterschied zu Andre besitzen die Schreitsockel von Walther durch leistenartige Erhöhungen auch markierte Positionen, die Ausgangspunkte einer zu realisierenden Handlung
anzeigen. Erst durch das Abschreiten werden sie zu Sockeln, wobei sich die Rezipienten
als Skulptur verstehen können. Durch das seitliche Schreiten entsteht ein Bezug zur räumlichen Umgebung, wie auch das stehende Verweilen an einem Ort die Dimension der Zeit
in das Werk integriert.
In zahlreichen Arbeiten setzt Franz Erhard Walther seit 1963 genähte Stoffe ein. In diesem Zusammenhang kommt der Farbe, klassischerweise eine mehr oder weniger visuelle
Erscheinung der Malerei, eine wichtige Bedeutung zu. Das zeigt auch die Arbeit »Der Drehung entgegen« (1986) sehr deutlich. In dieser an der Wand befestigten, reduzierten und
damit für die Nutzung offenen Konstellation von Stoff und Holz eröffnet sich ein für seinen
Ansatz typisches Verhältnis von »Form« und »Inhalt«. Die erkennbaren »Leerstellen« sind
Angebote an den Rezipienten, in und mit dem Werk sowie untereinander zu agieren.
Im Unterschied zum trivialisierten Beuys-Verständnis, dass jeder Mensch ein Künstler sei,
demzufolge die Grenzen von Kunst und Leben vollständig aufgehoben seien, hält Franz
Erhard Walther an der Existenz des Kunst-Systems als solchem fest, erweitert jedoch dessen Horizont. Anders auch als Joseph Beuys kann er auf ein symbolisches Zeichen-System
verzichten; seine Kunst bedeutet im klassischen Sinne nichts, verweist auf nichts anderes,
sondern realisiert sich im sozialen Gebrauch prozessual.
CV
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Autoren der Werktexte:
Lotte Dinse (LD)
Elmas Senol (ES)
Lea Steinkampf (LS)
Christina Végh (CV)
Helen Wobbe (HW)
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25
IMPRESSUM
STELLUNG NEHMEN
Joseph Beuys, Marlene Dumas, Christian Falsnaes,
Martin Kippenberger, Christian Philipp Müller,
Ahmet Ögüt, Britta Thie, Franz Erhard Walther
Kestner Gesellschaft, Hannover
28. Mai – 21. August 2016
© 2016 die KünstlerInnen, die Autorinnen,
Kestner Gesellschaft
Autoren
Lotte Dinse, Elmas Senol, Lea Steinkampf,
Christina Végh, Helen Wobbe
Gestaltung
Shantala Gajek
Druck
dieUmweltDruckerei GmbH
kestnergesellschaft
Goseriede 11
30159 Hannover
Germany
Fon +49 511 70120 0
Fax +49 511 70120 20
[email protected]
www.kestnergesellschaft.de
Vorstand
Uwe H. Reuter (1. Vorsitzender), Herbert K. Haas
(2. Vorsitzender), Dr. Michael Kunst (Schatzmeister),
Ulrich Schneider, Thomas Düffert, Eckhard Forst,
Dr. Immanuel Hermreck, Inga Samii,
Dr. Peter Thormann
Kuratorium
Herbert K. Haas (Vorsitzender), Dr. Carl Haenlein
(Ehrenmitglied), Dr. Max-Georg Büchner, Norbert H.
Essing, Dipl.-Ing. Michael G. Feist, Dietmar Götze,
26
Herbert Flecken, Dr. Friedhelm Haak, Holger
Hammer, Sepp D. Heckmann, Dr. Immanuel
Hermreck, Albrecht Hertz-Eichenrode, Michael Hocks,
Administration Förderkreise
Sinje Schwammbach
sing Kommunikation GmbH, NORD/LB, primetec
GmbH, PSD Bank Hannover eG, Dr. Yorck Schmidt,
Schneider-­Neureither & Partner AG, Gerhard
Dr. Hinrich Holm, Dr. Heinrich Jagau, Hermann
Kasten, Dr. Oliver Kiaman, Martin Kind, Dr. Hans
Künzle, Klaus Laminet, Dr. Peter Lütke-Bornefeld,
Sylvia von Metzler, Dr. Volker Müller, Günter
Papenburg, Prof. Dr. Hannes Rehm, Dirk Rossmann,
Alice Schardt-Rossmann, Dr. Yorck Schmidt,
Dr. Andreas Schneider-Neureither, Andreas Schober,
Stefan Schostok, Gerhard Schröder, Jörg Schubert,
Elke Strathmann, Dr. Peter Thormann, Dr. Oliver
Thum, Marc Ufer, Stephan Weil, Wilhelm Zeller
Unterstützung Förderkreise
Jacques Sauvaget
­ chröder Bundeskanzler a.D., Sparkasse Hannover,
S
Stadtwerke Hannover AG, Verlagsges. Madsack
GmbH & Co KG, VGH Versicherungen, VHV Gruppe,
Gerhard D. Wempe KG, Witte Projektmanagement
GmbH
Direktorin
Christina Végh
Ausstellung/ Exhibition
Christina Végh, Lotte Dinse, Elmas Senol
Geschäftsführerin
Mairi Kroll
Kommunikation
Gudrun Herz
Kuratorin/ Curator
Lotte Dinse
Kuratorische Assistenz/ Curatorial Assistance
Elmas Senol, Milan Ther
Vermittlung
Helen Wobbe
Rechnungswesen
Kirstin Herold, Dr. Brigitte Kirch, Petra Lücke
Ausstellungstechnik, Betriebstechnik
Jörg-Maria Brügger, Rainer Walter, Eddie Lange
Mitgliederverwaltung
Sabine Sauermilch
Empfang
Germaine Mogg, Angela Pohl
kestnerlabor
Aileen Bannach, Lilli Braun, Leandra Busch,
Clara Meissen, Vivien Scharwat, Lea Steinkampf
Erweitertes Team
Sigrid Didjurgis, Martin Grobecker, Jenny Heine,
Friederike Jäger, Robert Knoke, Katja Krause,
Marie-Christin Lieberum, Alice Man, Lucie Mercadal,
Thomas Neveling, Miriam Rausch, Caterina S
­ tibitzky,
Michael Stoeber, Rena Onat, Alex Teske,
Dörte Wiegand
Partner
Aserto, Blumen am Aegi, BREE in der Galerie Luise,
Finanz Informatik, klartxt, Neuwaerts, Sektkellerei
Duprès-Kollmeyer, 20steps
Das Land Niedersachsen fördert die kestner­
gesellschaft. Die Ausstellung wird gefördert von
der NORD/LB Kulturstiftung und der Schweizer
­Kulturstiftung Pro Helvetia, sowie unterstützt von
Förderkreis + Kunstkomm der kestnergesellschaft.
Ehrenamt
Matthias Forst, Empfang
Alice Man, Archiv
Sascha Gustiné, Führungen
Eberhard Meier, Führungen
Ulrich Prigge, Fotografien
Dorothee Schniewind, Recherche Editionen
und Geschichte
Michael Schöpf, Datenschutzbeauftragter
McKenzie Stupica, Führungen
kestnerfirmenpartner/ kestnerfirmenförderer
Architekten BKSP, ars mundi, Bahlsen GmbH & Co.
KG, Bankhaus Metzler seel. Sohn und Co., Bantleon
AG, Bertelsmann SE & Co. KG aA, Bethmann Bank
AG, Continental AG, Deloitte, Deutsche Messe AG,
Dirk Rossmann GmbH, Elvaston Capital Management GmbH, HANNOVER Finanz GmbH, HANNOVER
Rückversicherung AG, HAUS & GRUNDEIGENTUM
Service GmbH, Institut der Norddeutschen Wirtschaft
e.V., Investa Projektentwicklungs- und Verwaltungs­
gesellschaft mbH, KIND, KPMG AG, Nobert Es-
Das Land Niedersachsen fördert die kestnergesellschaft
Kulturpartner
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