SWR2 Feature am Sonntag

SÜDWESTRUNDFUNK
ABTEILUNG
Literatur
Telefon: 23121
Fassung vom: 30.03.2014
AutorIn:
RedakteurIn:
Regie:
Isabella Arcucci
Walter Filz
Walter Filz
Hinter den Masken
Eine Reise in die Welt des japanischen Nô-Theaters
Nô Theaters
Studiobelegung: 17.-21.03.2014,
21.03.2014, BAD, Studio 7, 9.00-16.45
9.00
Uhr
Sendung am:
29.05.201
16 – WH v. 30.03.2014
Rollen/Sprecher: Sprecherin 1
Sprecher 1
Sprecherin 2
Sprecher 2
Sprecher 3
Kostenstellennummer:
Produktionsnummer:
Archivnummer(n):
422295
1002000
1
SWR2 Feature am Sonntag
Hinter den Masken – eine Reise in die Welt des japanischen Nô-Theaters
von Isabella Arcucci
Redaktion: Dr. Walter Filz
Autorin: Isabella Arcucci
Sprecher:
Sprecherin 1: Nô-Theater Begriffserklärungen
Sprecher 1: Nô-Theater Szenenbeschreibungen
Sprecherin 2: Übersetzungen (eher indirekte Wiedergabe als overvoice) weiblich
Sprecher 2: Übersetzungen (eher indirekte Wiedergabe als overvoice) männlich
Sprecher 3: Übersetzung und Zitate Okura Shonosuke
Anmerkung: O-Ton-Sprache ist Japanisch
2
Nô-Trommel-Musik
Sprecher 1:
Die Füße der Frau sind weiß. Mit langsamen Schritten gleitet sie über den Boden.
Lautlos. Wie ein Geist. Der schwere Stoff des Kimonos scheint ihren Körper zu
verschlucken. Ihr Gesicht….eine bleiche Maske.
Musik geht über in Atmo Flughafen-Express
Autorin:
Im Fenster des Flughafenexpress verschwimmt die Silhouette des nächtlichen
Tôkyôs.
Zusp. Nô-Trommel-Musik:
Sprecher 1:
Die Maskenaugen der Frau scheinen etwas zu suchen. Langsam hebt sie den Kopf.
Sie will sprechen. Doch der holzgeschnitzte Mund bleibt starr…
Musik hoch
Ansage:
Hinter den Masken – eine Reise in die Welt des japanischen Nô-Theaters
Ein Feature von Isabella Arcucci
O-T1 Kimura (über Musik, komplett frei stehend, ca. 23 Sek.)
Sprecherin 2 (Übersetzung):
In dieser Stille scheint die Essenz des Menschen zu fließen. Diese Essenz bringt das
Nô in seiner sehr, sehr ruhigen Weise zum Ausdruck. Beim Betrachten eines NôStückes fühlt es sich an, als würde sein Inhalt direkt in den eigenen Körper
übergehen.
Musik aus
Autorin:
3
Das Viertel Minamisenju im Nordosten Tôkyôs ist meine Endstation für heute. Für
viele andere ist es die Endstation des Lebens. Verwahrloste, alte Männer torkeln
betrunken über die dunklen Straßen. In Minamisenju gibt es winzige Spelunken mit
billigem Schnaps und billige Hotels mit Zimmern, die genauso breit sind, wie ich lang
bin: 1m und 70 cm. Ich renne noch einmal runter in die abgewetzte Lobby und
kontrolliere meine Mails. Immer noch keine Antwort von Ôkura Shônosuke!
Nô-Trommel-Musik
Sprecher 3:
Das Leben geschenkt zu bekommen. Was bedeutet das eigentlich? Angenommen es
gäbe wirklich so etwas wie Seelenwanderung und Wiedergeburt: wie würde es sich
dann entscheiden, in welches Land und in welche Familie man hineingeboren wird?
Ich habe am 15 Februar 1955 als ältester Sohn von Ôkura Chôjûrô, dem 15.
Oberhaupt der Nô-Musikerdynastie Ôkura, das Licht dieser Welt erblickt.
Die Dynastie der Ôkura pflegt seit über 600 Jahren in ungebrochener Linie die Kunst
der Ôtsuzumi (z als stimmhaftes s sprechen), der großen Trommel und der
Kôtsuzumi, der kleinen Trommel.
Da ich als ältester Sohn dieser Dynastie geboren wurde, hatte sich mein Schicksal
schon im Moment der Geburt entschieden: mein Leben gehörte dem Trommelspiel.
aus „Kodô“ von Ôkura Shônosuke
Atmo_Frühstücksgespräch: Autorin, Otôsan und Okâsan (Lachen etc.)
Autorin:
Zwei Tage später. Frühstück mit Okâsan und Otôsan in Fukuoka. Okâsan heißt auf
Japanisch Mutter, Otôsan bedeutet Vater.
Die 13 Millionen-Metropole Tôkyô habe ich hinter mir gelassen. Die südjapanische
Stadt Fukuoka ist mit ihren gerade mal anderthalb Millionen Einwohnern dagegen
richtig gemütlich.
Genauso wie die Wohnung von Okâsan und Otôsan: Porzellanharlekine aus Venedig,
englische Teetäschen mit Rosenmuster und Fotos der fünfjährigen Enkelin im
festlichen Kimono.
4
Okâsan und Otôsan sind nicht meine richtigen Eltern, aber meine japanischen. In
den zwei Semestern, die ich vor fünf Jahren in Japan studierte, haben sie sich
meiner angenommen. Und sie kümmern sich auch heute rührend um ihr großes,
deutsches Kuckuckskind, das immer gefüttert werden muss. Zum Frühstück gibt es
Reis, Misosuppe, köstlichen gebratenen Fisch, Erdbeerjoghurt, sauer eingelegte
Pflaumen, scharfen Fischrogen, Seetanggemüse und Omelette. Aber mich
interessiert mehr, was nach dem Frühstück passieren wird. Wie jeden Morgen.
Während Okâsan in der offenen Küche mit den Reisschälchen klappert, setzt sich
Otôsan auf den Boden und legt ein vergilbtes Heft mit handgeschriebenen
Schriftzeichen vor sich auf den Couchtisch. Neben der Vitrine mit den Nippespüppchen sieht mein 73jähriger japanischer Vater selbst aus, wie eine Porzellanfigur.
Er lächelt. Ein Schelmenlächeln – und dann legt er los!
Atmo_Nô-Gesang von Otôsan
O-T2 Otôsan: 24 Sek. frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Schon sein Vater sang Nô-Stücke als Hobby. Er war Kaufmann und traf sich oft in
der Freizeit mit Geschäftskollegen zum Singen. Immer abwechselnd bei einem von
ihnen zu Hause. Er hörte die Lieder also von klein auf und fing irgendwann selbst an
Nô zu lernen.
Akzent
Sprecherin 1:
Nô: traditionelles japanisches Musiktheater. Entwickelte sich im 14. Jahrhundert und
enthält sowohl chinesische Einflüsse als auch Einflüsse aus der japanischen
Naturreligion Shintô und dem Zen-Buddhismus.
Autorin:
Ich will mehr über Nô-Theater erfahren, als ich in 10 Semestern Japanologiestudium
lernen konnte. Als ich das erste Mal eine Nô-Aufführung sah verstand ich gar nichts.
Akzent
5
Sprecherin 1:
Ursprünglich wurden im Nô alle Rollen von Männern gespielt. Der Hauptdarsteller,
genannt Shite, trägt eine Maske, die den männlichen oder weiblichen Charakter
seiner Rolle repräsentiert.
Autorin:
Ich wusste, dass die Schauspieler im Nô-Theater die Gefühle ihrer Figuren nur durch
symbolische Gesten ausdrücken. Dass kein Nô Schauspieler versucht
„echtes“ Lachen oder „echtes“ Weinen darzustellen. Ich wusste, dass es im Nô in
erster Linie darauf ankommt „Yûgen“ auszudrücken.
Akzent
Sprecherin 1:
Yûgen: bestehend aus dem Schriftzeichen „Yû“: dunkel, tief, still. Und dem
Schriftzeichen „Gen“: subtil, unterschwellig.
Yûgen ist Eleganz, subtile Schönheit. Im Nô-Theater soll jede Figur Yûgen
ausstrahlen: egal ob junge Frau, Krieger, Wahnsinnige, Dämon oder Bettler.
Autorin:
All das hatte ich studiert. Und trotzdem: als ich das erste Mal ein Nô-Stück sah,
verstand ich gar nichts. Weder die düsteren Gesänge, noch das scheinbar
emotionslose Spiel. Weder die prächtigen Kostüme noch das meist völlig kahle
Bühnenbild. Und auch nicht die, für westliche Ohren sehr gewöhnungsbedürftigen,
Instrumente.
Akzent
Sprecherin 1:
Das Nô-Orchester besteht aus: Nô-Kan, der Bambusflöte, Kôtsuzumi, der kleinen
Handtrommel, Ôtsuzumi, der großen Handtrommel und der Taiko-Trommel.
Autorin:
Ich verstand nichts. Aber ich spürte, dass hinter den bleichen Masken ein Geheimnis
verborgen sein muss. Ein Geheimnis, dass sich nicht aus Büchern erfahren lässt.
6
Sprecher 2 (Übersetzung)
Zunächst einmal muss man beim Nô sehr laut singen. Das erreicht man nur durch
Bauchatmung. Die ist gut für die Gesundheit und baut Stress ab. Nô, das ist auch
Geselligkeit. Zusammen singen, Freundschaften knüpfen, seinen Kreis erweitern
O-T3 Otôsan: komplett frei stehend, ca.30 Sek.
Akzent
Sprecherin 1:
Ôkina: die Nô-Maske des Glück- und Segen spendenden Alten. Schneeweiß, von
Runzeln bedeckt mit langem weißem Bart. Ein Ausdruck heiterer Gemütsruhe.
O-T4 Otôsan
Autorin
Otosan sagt, er werde alt und fange langsam an zu verkalken.
O-T4 Otôsan: ab 00:07 (Kichern) ca. 20 Sek. frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Beim Nô-Gesang muss man sich sehr konzentrieren, weil die Melodien so kompliziert
sind. Deshalb ist der Nô-Gesang für ihn eine Art Antikalk-Mittel. Unter den Leuten,
die Nô-Lieder singen, gibt es kaum welche, die senil sind.
Atmo_Otôsan singt und erklärt Nô-Stück: Gespräch zwischen Otôsan und
Autorin, dann singt Otôsan Nô-Stück „Kurozuka“
Autorin (über Atmo):
Während ich meinen Tee schlürfe, verwandelt sich mein japanischer Vater in den
weiblichen Dämon aus dem Nô-Stück „Kurozuka“, „Schwarzer Hügel“. Der Dämon
hat die Gestalt einer alten Frau angenommen und bewirtet in seiner schäbigen
Berghütte eine Gruppe ahnungsloser Wandermönche.
Sprecher 2 (Übersetzung über Atmo-Gesang legen):
Die Alte spricht zu den Mönchen, „es ist ein bisschen kalt, ich geh mal schnell
Bambus sammeln zum Feuer machen!“ Doch da zeigt sich langsam ihr wahrer
Teufelscharakter.
7
Atmo: Otôsan erklärt - singt weiter
Sprecher 2 (Übersetzung über Atmo-Gesang legen):
Die Alte droht: „Wehe ihr schaut in das hintere Zimmer! Das ist strengstens
verboten!“ und verschwindet in die Berge.
Atmo: Otôsan erklärt - singt weiter
Autorin (über Nô-Gesang legen):
(flüsternd) Die Mönche gucken jetzt natürlich doch in das verbotene Zimmer. Darin
liegt ein riesiger Haufen menschlicher Leichen.
Sprecherin 1 (über Atmo):
Hannya: die Nô-Maske des weiblichen Dämons. Gelblich-braune Gesichtsfärbung,
verzerrter Mund, weit aufgerissene Augen und schwarze Hörner auf der Stirn. Ein
Ausdruck von Hass, Blutdurst, Verzweiflung und rasender Eifersucht.
Atmo: Otôsan erklärt – singt weiter (kurzes Klingeln an der Haustür im
Hintergrund)
Autorin (flüsternd über Atmo):
Wer gerade an der Tür geklingelt hat, ist zum Glück kein Dämon, sondern der mobile
Tôfû-Verkäufer.
Sprecher 2 (Übersetzung, über Atmo-Gesang legen):
Die Mönche begreifen, dass die Alte ein Dämon ist. Sie wollen nur noch eines: nichts
wie weg von hier!
Atmo: Otôsan erklärt
Autorin:
Otôsan macht sich jetzt fertig fürs Tischtennistraining und ich sehe noch schnell in
meine Emails.
Wieder keine Nachricht von Ôkura Shônosuke.
8
Atmo geht über in Nô-Trommel-Musik:
Sprecher 1:
Die Frau mit dem bleichen Maskengesicht nähert sich langsam dem Sumida-Fluss.
Der Fährmann weicht zurück. Er erkennt den Wahnsinn in den Augen der Frau. Ein
Wahnsinn, der nur aus namenlosem Schmerz entsteht. Die hölzerne Maske der Frau
ist wie eine zum Zerreißen gespannte Haut, unter der Angst und Verzweiflung gären.
Nô-Trommelmusik geht über in Atmo „Nô-Tanz-Unterricht“
Autorin
Emiko ist Nô-Theater-Schülerin
O-T5 Emiko: komplett frei stehend, ca. 24 Sek.:
Sprecherin 2 (Übersetzung):
In alten Häusern findet man häufig Nô-Masken als Dekoration an der Wand. Wenn
sie früher bei ihren Großeltern war, hat sie sich nachts vor diesen Masken gegruselt.
Aber seit sie selber Nô-Theater lernt, haben die Nô- Masken ihre Unheimlichkeit für
sie verloren. Jetzt weiß sie ihre Schönheit zu würdigen.
Atmo_Nô-Unterricht bei Morimoto
Autorin (über Atmo):
Der Probenraum ist quadratisch, ohne Fenster, mit weißen, schalldichten Wänden.
Keine Möbel. Wie die Gummizelle einer Nervenheilanstalt. Vermutlich halten uns die
meisten Leute auch für verrückt. Acht junge Menschen unter 30 haben sich hier im
Kellergeschoss des städtischen Kulturzentrums zusammengefunden, um die Kunst
des Nô-Theaters zu erlernen. Einer von ihnen ist Kigasa. Er studiert
Landwirtschaftstechnik.
Sprecher 2 (Übersetzung):
Landwirtschaft heißt auf Japanisch auch Nô, nur mit anderen Schriftzeichen. Deshalb
haben viele Freunde blöde Witze gerissen.
O-T6 Kigasa
9
Sprecher 2 (overvoice, halb in kurze Sprechpause von O-T6 legen)
Sie sagen: voll komisch, was du da machst.
Autorin
Die Erfahrung hat auch Schülerin Iwata gemacht.
Sprecherin 2 (Übersetzung, über Anfangsfrage der Autorin in O-T. 7 legen):
Die Freunde haben sich total gewundert! „Wieso denn Nô-Theater?“ Die
interessieren sich gar nicht dafür.
O-T 7 Iwata: 00:09 – 00:15 frei stehend
Sprecherin 1 (Übersetzung über Zwischenfrage von Autorin legen)
Als sie gesagt hat: ich mache jetzt Nô-Theater, haben alle gefragt: was? Das passt
gar nicht zu dir!
O-T 7 Iwata: ca. 00:20 – O-T-Ende frei stehend
Atmo_Nô-Unterricht bei Morimoto
Autorin
Auch Hiroaki lernt Nô-Theater.
O-T8 Hiroaki
Sprecher 2 (overvoice):
Wenn ihn Ausländer etwas über japanische Kultur gefragt haben, wusste er nie eine
Antwort. Deshalb hat er mit Nô angefangen, um mehr über seine Kultur zu lernen.
Atmo_Nô-Unterricht bei Morimoto hoch und stehen lassen
Autorin:
Schülerin Emiko dagegen ging es beim Nô-Theater darum, traditionelle, japanische
Höflichkeitsformen zu erlernen, die in der heutigen Zeit mehr und mehr verloren
gehen.
O-T9 Emiko: komplett frei stehend, 19 Sek.
10
Akzent
Sprecherin 1:
Waka-onna: die Nô-Maske der jungen Frau. Schneeweißer Teint, runde Wangen,
hohe Augenbrauen und sanft geschwungene rote Lippen. Ein Ausdruck anmutiger
Schönheit.
Sprecherin 2 (Übersetzung)
Seit sie Nô-Theater lernt, hört sie oft „Du hast aber ein gutes Benehmen!“. Zum
Beispiel wenn sie in einem traditionellen japanischen Zimmer, das mit Tatami-Matten
ausgelegt ist eine Person begrüßt, die älter ist als sie selbst, dann verbeugt sie sich
nicht einfach im Stehen, sondern setzt sich auf die Knie, legt ihre Hände ordentlich
vor sich hin und neigt meinen Kopf zum Boden. Die Leute loben sie dann oft: „so
jung und trotzdem so gute Manieren!“ Und da denkt sie sich dann schon: gut, dass
ich Nô-Unterricht genommen habe!
O-T 10 Emiko: komplett frei stehend, ca. 28 Sek.
Autorin:
Emiko hat schneeweiße Haut und lackschwarze Haare. Beinahe eine Seltenheit in
Japan. Hier färben sich fast alle jungen Frauen nussbraun. Um „anders“ zu sein.
Emiko ist anders. Emiko ist kein Tôkyô-Girlie.
Als ich Emiko das erste Mal sah, glaubte ich, sie wäre direkt aus einem der
Prachtbände der Münchner Japanologie-Bibliothek entstiegen. Aus Tanizakis Roman
„die Schwestern Makioka“ oder aus einem kaiserlichen Gedichtband des 10.
Jahrhunderts.
Von allen jungen Japanerinnen, die ich kenne, ist Emiko die einzige, die einen
Kimono mit Würde trägt. Ohne pinke Riesenblume im Haar und ohne Hello-KittyZubehör. Emiko hat Klasse. Und Emiko war mein Sempai. Vor fünf Jahren. Als ich
während meines Studiums in Fukuoka der Studenten- Nô-Gruppe von MorimotoSensei beizutreten.
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Sprecherin 1:
Sensei: der Lehrer, der Meister. - Sempai: der Ältere, die Ältere. Respektvolle Anrede
für Personen, die innerhalb einer Gemeinschaft wie Schule, Universität, Verein oder
Firma schon länger Erfahrung gesammelt haben als der, der sie anspricht.
Autorin:
Ich verstand die Texte der Nô-Lieder nicht. Schließlich hatte ich genug mit dem
modernen Japanisch zu kämpfen. Nô-Texte aber sind auf Altjapanisch. EmikoSempai erklärte sie mir.
Ich begriff nicht, wie ich den Fächer beim Tanz rasch öffnen konnte, ohne ihn zu
zerreißen. Emiko-Sempai zeigte es mir.
Ich hatte keine Ahnung, wie tief ich mich zur Begrüßung vor Morimoto-Sensei
verneigen musste. Emiko-Sempai machte es mir vor.
Das ist die Aufgabe eines Sempai.
Emiko erfüllte sie mit sanftem Lächeln, unauffällig. So dass ich mir danach einbilden
konnte, ich hätte alles allein geschafft.
Sprecherin 1:
Das Schriftzeichen für Nô bedeutet „Talent“, „“Kunstfertigkeit“, „Können“.
Atmo_Nô-Tanzunterricht
Autorin:
Nach fünfjähriger Übungspause wird mir beim Tanzunterricht mit Morimoto-Sensei
klar: ich „kann“ gar nichts.
Sprecherin 1:
Mai: der Tanz. Konzentrierte, runde, geschlossene Bewegungen. Der Tanz im Nô ist
meist langsam. Er besteht aus Schrittfolgen, Drehungen, Armbewegungen und
Fächerspiel. Sobald der Punkt erreicht ist, da die Muskeln sich anspannen, wird die
Bewegung gestoppt und aufgelöst. Die Perfektion liegt in der Reduktion.
O-T11 Emiko: ca. 7 Sek. frei stehend,
12
Sprecherin 2 (Übersetzung)
Nô ist wirklich okufukai, tiefgründig.
Autorin
Emiko lernt jetzt seit sechs Jahren Nô-Theater, aber es gibt immer noch so vieles,
das sie nicht versteht.
Sprecherin 2 (Übersetzung)
Langsam fängt sie an, diese besondere Schönheit des Nô ein wenig zu begreifen.
Eine Schönheit, die keine andere Theaterkunst besitzt. Bei anderen Theaterformen
bringen die Darsteller die Gefühle der Figuren direkt zum Ausdruck. Aber beim Nô
werden die Gefühle nur in diesem eingeschränkten Rahmen der Kata angedeutet.
Akzent
Sprecherin 1:
Kata: die Form, die stilisierte Geste. Jeder Nô-Tanz ist eine Abfolge solcher auf das
Wesentliche reduzierter Gebärden und Bewegungen. Einige Kata drücken den
Gemütszustand der Figur aus, wie Freude oder Trauer.
O-T12 Emiko
Sprecherin 2 (Übersetzung):
Es gibt zum Beispiel eine bestimmte Geste mit der man Traurigkeit ausdrückt, die
„Naku-kata“ die „Kata des Weinens“. Die Form der Kata ist genau festgelegt und
trotzdem kann man bei den Nô-Darstellern Unterschiede erkennen. Bei dem einen
überträgt sich durch diese Geste ein Gefühl tiefer Verzweiflung, beim anderen sieht
es nur nach ein paar Tränchen aus. Obwohl es sich um die gleiche Geste handelt ist
der Eindruck beim Zuschauer ein völlig anderer.
Autorin
Das ist es, was Emiko begeistert.
Atmo_Gesangsübung mit Otôsan: Otôsan, Okâsan und Autorin singen Nô-Lied,
im Hintergrund läuft der Fernseher. Otôsan unterbricht immer wieder für
Erklärungen
13
Autorin:
Abends nach dem Essen: Nô-Gesangsübungsstunde bei meinen japanischen Eltern.
Wir haben uns in den Kopf gesetzt, bei der Familienfeier in ein paar Tagen
gemeinsam ein Nô-Stück vorzutragen. Okâsan verrät mir allerdings, dass sie viel
lieber „Blue Hawaii“ von Elvis singen würde.
Bei Morimoto-Sensei habe ich Nô-Gesang nach den Prinzipien der Kanze-Schule
gelernt. Otôsan dagegen singt nach den etwas komplizierteren Regeln der HôshôSchule. Ich rede mir ein, dass ich mich deshalb so schwertue.
Während wir üben, läuft der Fernseher. Japans junge Eiskunstlaufhoffnung springt im
Glitzeroutfit um ihr Leben und ein dicker nordkoreanischer Diktator droht, uns alle zu
vernichten. Doch Okâsan, Otôsan und ich singen tapfer unser Nô-Lied.
Und ich frage mich, ob ich je etwas von Ôkura Shônosuke hören werde.
Zusp. Nô-Trommelmusik
Sprecher 1:
Das Maskengesicht der Wahnsinnigen blickt starr auf die Wellen des SumidaFlusses. Ihre holzgeschnitzten Züge scheinen weich zu werden.
Sie senkt den Kopf. Wie in Trance führt sie in langsamer Geste die rechte Hand
behutsam an ihre Augen, lässt den Arm wieder sinken und hebt ihn erneut.
Die Frau weint.
Übergehen in Atmo_Ampelmusik und Atmo_Straßenverkehr
Autorin:
In Fukuokas Innenstadt können die Ampeln singen. Und die meisten Straßen haben
keinen Namen. Deshalb bin ich extra zwei Stunden früher aufgebrochen, um die
Adresse von Takao Yukinori zu finden. Dort bin ich um Punkt 13 Uhr mit Ayano-san
verabredet, die uns zusammenbringen soll. Mich und das leibhaftige japanische
Kulturgut.
14
Ich kenne Ayona-san nicht. Ich weiß nur, dass sie Anfang 30 ist und eine Bekannte
meiner Freundin Yumiko. Und das „Ôsaka-Gen“ besitzt. Was auch immer das
bedeutet.
Atmo hoch
Mithilfe des Internetstadtplans und freundlicher Passanten finde ich Takao Yukinoris
Haus schneller als erhofft. Inmitten moderner Wohnklötze und kreuz und quer
verlaufender Stromleitungen: ein wunderschönes, zweistöckiges Holzhaus im
traditionellen japanischen Stil. Langsam werde ich nervös.
Schon bei der ersten Begrüßung wird mir klar, was es mit dem Ôsaka-Gen auf sich
hat. Ayano-san ist herzlich und energisch – mit bestimmter Höflichkeit schiebt sie die
Haustür auf und führt mich in den oberen Stock. Dort öffnet sich der Blick - auf eine
Nô-Bühne.
Akzent
Sprecherin 1:
Die Nô-Bühne: ursprünglich als Freiluft-Bühne konzipiert. Der Hauptteil der Bühne
wird von einem hölzernen, geschwungenen Dach geschützt. Auf der Rückwand: das
Gemälde einer Kiefer. Die Hauptdarsteller betreten die Bühne über die hashigakari,
eine hölzerne Brücke. Nô-Bühnen werden traditionell aus dem Holz der japanischen
Zypresse gebaut.
Autorin:
Ich setze mich: in Seiza-Haltung, obwohl ich weiß, dass ich das kaum länger als
zehn Minuten aushalten werde.
Sprecherin 1:
Seiza: das „richtige Sitzen“, bestehend aus den Schriftzeichen „Sei“, „richtig“ und
„za“, „sitzen, Sitz“. In der Seiza-Haltung sitzt man kniend, mit dem Gesäß auf den
Fersen, den Fußspann flach auf dem Boden, den Rücken gerade aufgerichtet. Die
traditionelle japanische Sitzhaltung.
Autorin:
Schon nach zwei Minuten spüre ich, wie mir die Füße einschlafen.
15
Die Schiebetür am anderen Ende des Raumes öffnet sich. Und er tritt ein: Takao
Yukinori. Er ist 48 Jahre alt, hochgewachsen, trägt einen dunkelblauen Kimono und
darüber einen hellblauen Hakama, eine Art traditionellen japanischen Hosenrock.
2011 wurde Takao Yukinori vom japanischen Kultusministerium die Auszeichnung
„geistiges Kulturgut Japans“ verliehen. Ich verbeuge mich respektvoll.
Atmo_Takao singt
O-T 13 Takao: ca. 6 Sek. frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung halb über O-Ton-Dialog von Autorin und Takao
legen):
Mit dreieinhalb Jahren stand er das erste Mal auf einer Nô-Bühne vor Zuschauern,
also richtig im Kostüm. Das Stück dauerte 1 Stunde und 20 Minuten und er musste
fast die ganze Zeit ruhig auf der Bühne sitzen.
Autorin (über O-T 13 legen):
Zu viel für einen Dreijährigen. Takao-Senseis erster Bühnenauftritt wurde zum
künstlerischen Debakel. Er hat sich vor aller Augen in die Hose gepieselt.
O-T 13 Takao: ab ca. 00:34 frei stehend (Lacht laut) bis Ende
Atmo_Gespräch Takao, Ayano, Autorin
Autorin:
Takao-Sensei öffnet einen kleinen Koffer. Holt eine Nô-Maske hervor, hält sie sich
vor das Gesicht. Je nachdem, ob er den Kopf hebt oder senkt, scheint sich der
Ausdruck der Maske zu verändern. Aus dem stattlichen Mann Takao Yukinori wird
von einer Sekunde zur anderen eine vom Schicksal gebrochene Frau.
Akzent
Sprecherin1:
Fukai: die Maske der Mutter. Bleiche, hagere Wangen, die Augen eingesunken. Ein
Ausdruck von Sorge und Schmerz.
16
Autorin (zur Hälfte über Eingangsfrage von O-T14 Takao legen):
Mir fällt das Nô-Stück „Der Sumida-Fluss“ ein. Es handelt von einer Mutter, die durch
den Verlust ihres Kindes wahnsinnig geworden ist. Aber: kann ein Nô-Schauspieler
hinter dieser starren Maske überhaupt die Schmerzen der Figur nachfühlen?
Sprecher 2 (Übersetzung über Eingangsfrage von O-T14 legen)
Oh ja, er fühlt diese Schmerzen sehr wohl. Er weint sogar meistens. Hinter seiner
Nô-Maske. Er merkt es gar nicht und plötzlich laufen ihm die Tränen runter.
O-T 14 Takao: 00:10 – 00:19 frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Natürlich kann man nicht 100%ig zu diesem Menschen werden, dessen Rolle man
spielt. Dieser Mensch hat seine eigene Geschichte und man kann sich nicht völlig in
ihn hinein versetzen. Es ist auch nicht so, dass man sich mit aller Kraft hineindenkt
und dann zu weinen anfängt. Aber oft gibt es diesen Moment und dann rollen bei ihm
die Tränen und er weint hinter der Nô-Maske.
Autorin (über Zwischenfrage der Autorin in O-T 14 legen):
Aber warum versteckt man diese Tränen hinter der Maske, statt sie zu zeigen?
Sprecher 2 (Übersetzung):
Sie glauben man sieht die Tränen nicht? Aber man sieht sie eben doch!
O-T 14 Takao: 01:10 – 01:30 frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Mit der Zeit wird man sehend. Dann sieht man auf einmal, wie sich der Mund der
Maske bewegt, wie ihr Tränen aus den Augen kommen. Natürlich bewegt sie sich in
Wirklichkeit nicht. Aber das ist der Zauber des Nô. Man zeigt nicht extra dem
Publikum seine Tränen. Man weint hinter der Maske und das eigene verborgene
Gefühl drückt sich im Gesicht der Maske aus. „Die Gefühle im Inneren verschlossen
halten“ das ist das ästhetische Empfinden der Japaner. Das ist japanische Kultur.
Etwas nicht empfinden, aber so tun als ob und dies dann dem Publikum präsentieren
- das ist eher die westliche Art. Aber für Japaner besteht das Ideal darin, etwas zu
empfinden, es jedoch nicht offen zu zeigen - aber letztlich erkennt man es doch.
17
Nô-Trommel-Musik
Sprecher 1:
Das Boot gleitet über die Wellen des Sumida-Flusses dem Ufer entgegen. Der
Fährmann blickt auf den gekrümmten Rücken der Frau. Eine leise Stimme dringt aus
dem Inneren ihrer Maske. Namu Amida-Buddha!
Musik geht über in Atmo_Shopping 1 und Atmo_Shopping 2
Autorin:
Meine Knie sind immer noch ganz steif von einer Stunde Knien in der Seiza-Haltung.
Ich will den Kopf frei kriegen.
In der unterirdischen, klimatisierten Shoppingmeile von Fukuoka kann man sich und
die Welt vergessen.
Irrasshaimassee! Herzlich Willkommen, schreien einem die Verkäufer der Geschäfte
zu.
Ich bleibe fasziniert vor einer Maske stehen. Kein No-Theaterrequisit. Sondern eine
Art Kompressionshöschen für den Kopf, mit dem man sich das Gesicht angeblich
dauerhaft kleiner pressen kann. Ein kleines Gesicht ist für japanische Frauen das
Schönheits-Must-Have schlechthin.
Ehe ich mich versehe, sitze ich auf einem rosa Stuhl und eine Kosmetikerin reibt mir
eine angenehm duftende grüne Masse auf die Backe. Sie lobt mein kleines,
europäisches Gesicht. Das es in dieser Fülle von Geschäften kein einziges
Kleidungsstück gibt, in das mein großer europäischer Körper reinpasst, übersieht sie
lächelnd.
Mir ist die Situation so peinlich, dass ich die Crème kaufe.
Es ist Frühling – Erkältungs- und Heuschnupfenzeit. Jeder dritte Japaner schützt sich
beim Shoppen mit einer Maske. Einer weißen Atemmaske. Ich bekomme Lust, auch
so eine Maske zu tragen. Unsichtbar sein!
18
Gefühle empfinden, diese aber hinter einer Maske verstecken und hoffen, dass sie
irgendwann doch jemand erkennt?
Atmo_Obdachloser singt
Autorin:
Draußen vor der Treppe zur unterirdischen Shoppingmeile singt ein Obdachloser
von einer Welt ohne Krieg, ohne Atomreaktorunglücke, ohne Tennô und ohne
Konkurrenzdruck….
Sprecher 2 (Übersetzung über Atmo legen):
Das sind die Sachen unter denen alle leiden. Dieser Konkurrenzdruck hat doch im
Grunde dazu geführt, dass so viele ihren Job verloren haben und auf der Straße
sitzen…
O-T15 Obdachloser: komplett frei stehend, ca. 19 Sek.
Atmo_Obdachloser singt hoch und aus
Sprecher 3:
Was für einen Sinn hat es in der heutigen Zeit noch, Nô-Theater zu machen? Was
bringt es überhaupt, dass ich die Trommel spiele?
Jeden Tag diese innere Verzweiflung, wie eine schwere Wolke, die stets qualvoll auf
meinem Herzen lag.
aus Kodô, von Ôkura Shônosuke
Musik „Enka / jap. Volksmusikschlager“ und Atmo_Yatai
Sprecher 2 (Übersetzung):
Yatai. Hier gibt’s ordentlichen japanischen Fisch. Japan ist schließlich eine
Fischkultur, keine Fleischkultur! Außerdem ist das hier ein Familienbetrieb. Da gibt’s
ab und zu auch mal Streit…
O-T16 Morimoto-Sensei: komplett frei stehend, ca. 20 Sek.
19
Autorin:
Ich bin zum Abendessen mit meinem früheren No-Lehrer, Morimoto-Sensei und
Emiko verabredet. In Fukuokas traditionellem Stadtteil Hakata, bei einem der
typischen „Yatai“, einem kleinen mobilen Essenstand. Es ist ein Familienbetrieb:
Vater, Mutter und Sohn. 1970 ist der Stand eröffnet worden. Im 44. Jahr der ShôwaÄra, der Regierungszeit des Kaisers Hirohito, erklärt die Mutter. Die Shôwa-Ära ist
lange vorbei. Aber viele Gäste von früher kommen noch heute. Die Mutter plaudert
mit ihnen über die alten Zeiten, als sie alle noch jung waren und hier in dem engen,
schummrigen Yatai so manche Liebesgeschichte ihren Anfang nahm…
O-T 17 Yatai-Mama: komplett frei, ca 30 Sek.
Autorin (über O-T17):
Ich bin mir sicher, dass die Yatai-Mutter in ihrer Jugend heiß umschwärmt war.
Sprecherin 2 (Übersetzung):
Ja es hat sich viel verändert! Die Gebäude sind mit der Zeit immer höher geworden.
Und hier gab´s auch keinen Asphalt sondern nur eine ganz holprige Straße. Und die
Frauen von Hakata sind alle so schön geworden! Durch die modernen Kosmetiktricks
sind sie alle hübsch, nicht wahr? Die männlichen Gäste freut das natürlich, da haben
sie was zu gucken.
O-T17 Yatai-Mama: 00:57 – 01:22 frei stehend
Musik hoch
Autorin:
Ich frage Morimoto-Sensei, weshalb heute viel mehr Frauen als Männer Nô-Theater
als Hobby betreiben Obwohl Nô-Theater Jahrhundertelang reine Männersache war.
Sprecher 2 (Übersetzung)
Die Frauen interessieren sich für Kultur. Die japanischen Männer haben nur Arbeit im
Kopf. Aber die Frauen, die interessieren sich immer für Kultur, auch wenn sie in der
Arbeit Vollgas geben. Bei den Männern gibt es das kaum. Ziemlich interessantes
Problem, nicht wahr?
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O-T 18 Morimoto: komplett frei, ca. 24 Sek.
Autorin:
Morimoto Sensei ist bester Stimmung. Hier im Yatai fallen die Hierarchieschranken
zwischen Sensei und Schüler. Er bestellt uns Shirauo: Winzige, halbdurchsichtige
Fische, die man in Soße wendet und verspeist.
Übrigens leben sie noch.
Um Emikos sonst so bescheiden lächelnden Mund zuckt ein lüsternes Grinsen, als
sie zwei zappelnde Fischlein auf einmal mit einem Happs verschlingt.
Atmo_Yatai: lachende Unterhaltung hoch (bei ca. 02:00)
O-T. 19 Morimoto: ca. 13 Sek. frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung)
Früher sind die Kinder von Nô-Schauspielern auch immer automatisch NôSchauspieler geworden. Aber heute wollen das nur noch die Wenigsten. Klar: wenn
man über Gehalt, Versicherung, Rente und solche Dinge nachdenkt, dann macht
man den Beruf lieber nicht.
Autorin (über O-T 19 Zwischenfrage der Autorin):
Was ist für Morimoto-Sensei der Zauber des Nô?
O-T. 19 Morimoto: 00:39 – 00:46 frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Das stolze Gefühl, gemeinsam in der Gruppe etwas erreicht zu haben. Diese
Kameradschaft untereinander. Auch ihre schwierigen Seiten. Es gibt ja schon auch
Streitereien und so etwas. In einer normalen Firma, da ist man angestellt und von
oben bekommt man sein Geld. Aber die Nô-Welt funktioniert so nicht. Die ist viel
komplizierter und genau das finde ich spannend.
Autorin:
Von klein auf Nô-Theater zu lernen: ist das nicht furchtbar langweilig für ein Kind?
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Sprecher 2 (Übersetzung):
Nein, als Kind war es toll. Da hat man immer Süßigkeiten und Spielzeug gekriegt.
Das war klasse!
O-T20 Morimoto: 00:11 – 00:26 frei stehend
Sprecher 2 (Übersetzung):
Es gibt in machen Nô-Stücken spezielle Kinderrollen, die „Ko-kata“. Und dafür wurde
er immer mit Süßigkeiten und Spielsachen geködert. Und außerdem war es lustig,
sich mit den Sempai anzufreunden. Und dann hat man Lust weiterzumachen. Die
Kinderrollen im Nô sind einerseits notwendig, andererseits ist es eine gute Methode,
um Kinder in der Nô-Kunst auszubilden.
Atmo_Yatai und Musik „Enka“ hoch
Autorin (über O-T 21 Yatai-Sohn ):
Es ist März, und noch recht kühl. Das Yatai ist durch eine Bretterwand mit Schiebetür
vor der Außenwelt geschützt. In der Mitte des Yatai ist die Kochstelle. Wir Gäste
sitzen auf Barhockern ringsherum. Maximal neun Personen haben hier Platz. An der
Wand hängen Plakate von Morimoto-Senseis Nô-Aufführungen und alle möglichen
Prominentenfotos: Schlagersänger und Sumo-Ringer. Ein Sumoringer passt hier
gerade so rein, sagt der Sohn der Yatai-Familie. Meistens bestellen die Ringer
Speisen die weiß und rund sind. Denn weiß und rund bringt Glück für den Wettkampf.
Schwarz dagegen steht für Niederlage.
O-T 22 Yatai-Sohn:
Sprecher 2 (Übersetzung)
Die eine Hälfte der Gäste sind Einheimische, die andere Hälfte Touristen.
Autorin (overvoice für Zwischenfrage):
Und Morimoto-Sensei kommt oft hierher?
Sprecher 2 (Übersetzung):
Morimoto Sensei ist ein echter Stammgast. Er hat schon viele verschiedene
Gesichter des Sensei kennenlernen dürfen…
22
O-T 22 Yatai-Sohn: 00:14 – O-T22 Ende frei stehend
Autorin:
Alle paar Wochen lädt Morimoto-Sensei Schüler nach dem Nô-Unterricht ins Yatai
ein. Abende, die sehr lustig werden können – und sehr lang.
Sprecher 2:
Bei Nô-Schauspielern ist das Bühnentraining streng, aber sie sind auch richtig gut im
Feiern! Er macht das ja jetzt schon, seit er drei ist… Und so ab 13, 14 haben ihn die
Sempai immer zum Feiern mitgenommen. Die waren alle schon so um die 20. Sie
haben zusammen gefeiert, Alkohol getrunken und so…Heute ist das ja ein bisschen
schwieriger mit dem Alkohol, aber früher war das so!
O-T 23 Morimoto: komplett frei stehend, ca. 44 Sek.
Atmo und Musik hoch
(O-T 24 gekürzt!)
O-T 25 Autorin
Sprecherin 2 (overvoice, Eingangsfrage von Emiko)
Isabella-san, was ist für dich eigentlich der Zauber des Nô?
Autorin (overvoice):
Nô hat für mich etwas Wunderliches. Es ist einfach eine völlig andere Kultur. Aber
obwohl ich überhaupt nichts kapiert habe, als ich das erste Mal ein Nô-Stück sah, hat
es mich sofort berührt. Irgendwie hat es aber auch was Unheimliches für mich…
Atmo und Musik ausblenden
Autorin:
Es ist schon sehr spät als wir aus dem kleinen Yatai wieder auf die nächtliche Straße
stolpern. Morimoto-Sensei zieht noch alleine weiter. Emiko bringt mich zur
Bushaltestelle, ganz die formvollendete Gastgeberin.
Musik „MIO/ ichiban boshi“ (langsamer Jazz)
Ich winke Emiko noch einmal vom Bus aus zu. Dann verschwindet ihre Gestalt in den
glitzernden Lichtern der Stadt.
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Musik geht über in Atmo_ Nô-Flötenkonzert
Autorin:
Meine japanischen Eltern haben für die Familienfeier ein kleines italienisches Lokal
gemietet. Es gibt zwar keine vor Charme sprühenden italienischen Kellner, dafür
aber viele italienische Fähnchen und hervorragendes italienisches Essen. Unser NôLied haben wir einigermaßen über die Bühne gebracht. Eine Freundin von Okâsan
spielt nun noch ein Stück auf der Nô-Flöte vor. Mein Kopf brummt. Morimoto-Sensei
hat mir gestern Abend sichtlich zu viel eingeschenkt. Später greift eine Bekannte zur
Gitarre.
Atmo_„Blue Hawaii“
Autorin:
Mir wird ein bisschen melancholisch. Morgen muss ich Abschied nehmen von
Fukuoka und meinen japanischen Eltern. Ich denke über Takao-Sensei nach, der
hinter einer starren Maske Tränen vergießt, über meinen weise schmunzelnden
japanischen Vater und seine tägliche Medizin, den Nô-Gesang, über Emikos
formvollendete Manieren und über Morimoto-Sensei, der von einer Sekunde zur
anderen vom strengen Lehrer zum Yatai-König wird. Und ich sehe meine japanische
Mutter, wie sie aus vollem Halse „Blue Hawaii“ singt!
Atmo hoch
Sprecherin 2 (Übersetzung, O-T 26 schon gegen Ende des Sprechertextes mit
Eingangsfrage der Autorin einsetzen lassen)
Wir befinden uns jetzt in der Provinz Nagasaki, im Konzerthaus der Stadt Sasebo.
Und ich habe Herzklopfen weil wir direkt vor der Gaderobe von Ôkura Shonosuke
sitzen.
O-T 26 Anno: ab ca. 00:05 komplett frei stehend
Autorin:
Anno Kimiko-san und ich haben uns während meiner Studienzeit in Japan bei einer
Aufführung von Morimoto-Sensei kennengelernt. Sie ist Mitte 50, klein und sehr
zierlich - und ein riesiger Fan von Ôkura Shônosuke. Anno-san scheint innerlich zu
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vibrieren wie ein Zitteraal. Sie ist ständig mit Emotionsstrom geladen. Genau das
mag ich so an ihr.
O-T.27 Anno: ca. 21 Sek. frei stehend
Sprecherin 2 (Übersetzung):
Früher bin ich öfter vor der Aufführung in die Garderobe, um Ôkura-san zu begrüßen,
wenn er ein Konzert in Fukuoka gab. Inzwischen besuche ich meistens Konzerte von
ihm in Tokyo. Dann gehe ich nach der Aufführung in seine Garderobe um Hallo zu
sagen. Man lernt in der Garderobe dann auch immer Leute kennen, die auch Fans
von Ôkura-san sind, und schließt neue Freundschaften fürs Leben.
Autorin:
Ôkura-sans Assistentin ist sehr freundlich. Sie verspricht, mich nach der Show
anzurufen falls noch Zeit für ein Interview sei. Die Emailadresse, die auf der
Homepage steht ist offenbar deaktiviert. Zu viele Fans….
Ich habe jetzt auch Herzklopfen vor Aufregung.
Sprecher 3:
Nô und Motorbikes sind wie die beiden Räder, auf denen mein Leben läuft.
Aufs Motorrad steigen bedeutet gewissermaßen, dazu bereit sein, dem Tod ins Auge
zu schauen. Gerade weil man sich des Todes bewusst ist, erscheint das Leben umso
strahlender.
aus Kodô von Ôkura Shônosuke
Autorin:
Ôkura Shônosuke hat der traditionellen Nô-Welt seiner Familie vor Jahren den
Rücken gekehrt. Er gibt Konzerte mit der Ôtsuzumi, der großen Trommel. Weltweit.
Auch im Vatikan vor dem Papst.
Wir sind nicht die einzigen, die sich in den Backstagebereich vorgewagt haben.
Kimura Junko gehört ebenfalls zum Kreis der eingefleischten Ôkura-Fans, die vor der
Show das persönliche Gespräch mit dem Nô-Künstler suchen. Kimura-san betreibt
eine Modeboutique. Eine schicke Frau in den 50ern mit langem, dauergewellten
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Haar, das ihr schwer über den raffiniert geschnittenen Daunenmantel fällt. Nicht der
Typ Japanerin, den man bei so einem Konzert vermutet.
Sprecherin 2 (Übersetzung):
Als sie das erste Mal den Klang der Ôtsuzumi live gehört habe, war das wie ein
Schock. Ihr ganzer Körper hat von dem Klang vibriert. Sie hatte vorher schon NôAufführungen gesehen, aber noch nie ein reines Ôtsuzumi-Konzert gehört. Ihre
Urgroßeltern haben angeblich Unterricht im Nô-Gesang genommen. Vielleicht hat sie
da etwas von ihnen.
O-T 28 Kimura: komplett frei stehend, ca. 51 Sek.
Autorin:
Was genau ist für sie der Zauber des Nô?
O-T 29 (O-T1) Kimura: ca. 7 Sek. frei stehend
Sprecherin (Übersetzung):
In dieser Stille scheint die Essenz des Menschen zu fließen. Diese Essenz bringt das
Nô in seiner sehr, sehr ruhigen Weise zum Ausdruck. Beim Betrachten eines NôStückes fühlt es sich an, als würde sein Inhalt direkt in den eigenen Körper
übergehen.
Trommel-Musik von Ôkura Shônosuke
Sprecher 1:
Die Frau breitet ihre Arme aus. Ihre weißen Füße gleiten über das Holz. Vor dem
Grab hält sie inne. Sie sinkt in sich zusammen.
O-T. 30 Anno (über Musik): 00:00 – 00:14 frei stehend
Sprecherin 2 (Übersetzung, über O-T30 und Musik)
Es gibt ein sehr berühmtes Nô-Stück: „der Fluss Sumida“. Es handelt von einer
Mutter, deren Kind von Menschenhändlern entführt wurde.
O-T. 30 Anno (über Musik): 00:30 – 00:45 frei stehend
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Sprecherin 2 (Übersetzung über O-T30 und Musik)
Die Mutter macht sich auf den Weg, ihr Kind zu suchen. Von ihrer Heimat in
Westjapan bis nach Edo, dem alten Tôkyô. Ständig ruft sie den Namen ihres Kindes.
Sie ist wahnsinnig vor Schmerz.
Damals gab es am Sumida Fluss noch kaum Brücken. Die Mutter besteigt ein
Fährboot, um auf das andere Ufer zu gelangen und der Fährmann erzählt ihr, dass
dort gerade eine Totenmesse stattfindet.
Vor einem Jahr sei ein Kind von Menschenhändlern in diese Gegend verschleppt
worden und gestorben. Die Einheimischen hatten Mitleid und begruben es. Die
Mutter erschrickt und fragt nach dem Namen des Kindes: es ist ihr eigenes.
Es ist mein Kind! Mein Kind ist tot! Den ganzen Weg bis nach Tôkyô ist sie auf
bloßen Füßen gelaufen – doch das Kind ist tot!
O-T. 30 Anno (über Musik): ca. 02:06 – ca. 02:33 frei stehend
Sprecherin 2 (Übersetzung, über O-T und Musik)
In ihrem Schmerz ruft sie: „Namu Amida-Buddha“! Das ist so ähnlich wie wenn
Christen „Amen“ beten. „Namu Amida-Buddha! Ich danke Dir. Auch wenn mein Kind
tot ist, danke, für Deine Gnade, dass du mich zu seinem Grab geführt hast!“
O-T. 30 Anno (über Musik): ca. 02:54 – ca. 03:27 frei stehend
Sprecherin 2 (Übersetzung, über O-T und Musik)
Doch die Stimme versagt ihr. Ihre Stimme dringt nicht durch zur Seele des Kindes,
das im Grab liegt. Und so bittet sie den Fährmann, die Wasservögel und sogar die
Wellen, die der Wind auf dem Fluss schlägt: ich bitte euch betet mit mir! Ich alleine
schaffe es nicht!“
O-T. 30 Anno (über Musik): ca. 04-24 – ca. 04:39 frei stehend
Sprecherin 2 (Übersetzung, über O-T und Musik)
Das ist Kokoro, die Seele von uns Japanern. Und für mich ist es das Nô-Theater, das
uns diese Seele überliefert.
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O-T. 30 Anno (über Musik): ca. 04:50 – O-T-Ende frei stehend
Musik stehen lassen und ausblenden
Autorin:
Um 23:30 Uhr kommt der Anruf von Ôkura-sans Assistentin. Ich soll zum Interview in
die Lobby seines Hotels kommen.
Akzent
Sprecherin 1:
Heita: die Maske des Kriegers. Sonnengegerbte Haut und buschige Brauen. Ein
Ausdruck von Mut und Männlichkeit
O-T. 31 Ôkura: ca. 30 Sek. frei stehend
Sprecher 3 (overvoice):
Mit 18 bekam ich Zweifel. Ich wollte unabhängig sein und ich hatte Angst, dass sich
in meiner Generation einfach nicht mehr genug junge Menschen für diese
traditionelle Arbeit, die mein Vater machte, interessieren. Ich habe also die Nô-Welt
verlassen und mich stattdessen mit Landwirtschaft beschäftigt – und dadurch einen
ganz neuen Blick auf das Nô-Theater entwickelt. Schließlich geht es auch im Alltag
der Bauern um Familientraditionen, Traditionen, die von Eltern zu Kindern bis hin zu
den Urenkeln weitergegeben werden. Ich lernte auch viele neue Freunde kennen,
deren Väter Zimmermänner oder Steinmetze waren. Alle diese Freunde hatten die
gleichen Zweifel, sie alle fragten sich, ob sie die Tradition ihrer Väter weiter führen
sollten. Und alle haben sich letztlich dagegen entschieden. Ich als außenstehender,
Betrachter fand es sehr schade, dass diese ererbten Traditionen einfach so
weggeworfen wurden. Und gleichzeitig wurde mir klar: ich war ja nicht anders!
Autorin:
Auf der Bühne trug Ôkura Shônosuke einen Kimono. Jetzt sitzt er vor mir in
schwarzer Lederjacke und schwarzen Cowboystiefel. Vor Aufregung stöpsle ich
zunächst das Mikrofonkabel falsch in den Aufnahmerekorder.
O-T 32 Ôkura: ca. 20 Sek. frei stehend
28
Sprecher 3 (overvoice):
Wir alle besitzen eine Seele, einen Geist. Normalerweise leben wir unseren Alltag,
ohne uns unserer eigenen Seele, unseres eigenen Geistes wirklich bewusst zu sein.
Wir denken, wir steuern uns selbst durch unseren Verstand, unser Gehirn, aber in
Wahrheit ist es unsere Seele. Doch wir sind in der Lage unser Leben zu führen und
unsere Seele dabei zu ignorieren. Durch das Nô-Theater begegnen wir unserer
eigenen Seele unserem eigenen Selbst. Das ist wie wenn man nachts im Dunkeln
meint, einen Geist zu sehen. Deshalb empfinden wir es als unheimlich.
(O-T 33 Ôkura gekürzt)
Nô-Trommelmusik
Sprecher 3 (Übersetzung)
Bei Theaterstücken ist es normalerweise so: alle Zuschauer lachen an denselben
Stellen. Sie weinen alle an denselben Stellen, sind an denselben Stellen gespannt
oder erleichtert. Beim Nô ist das anders. Nehmen wir die Geschichte eines Kriegers,
der in der Schlacht gesiegt hat. Er feiert seinen Triumph und kann sich freuen, doch
im Hintergrund hört man das Weinen derer, die verloren haben.
O-T 34 Ôkura: ca. 44 Sek frei stehend
Sprecher 1 (overvoice)
Der Schmerz der Verlierer, wird durch die klagenden Rufe der Trommelspieler
ausgedrückt. Das Nô-Theater eröffnet dem Zuschauer viele Sichtweisen auf eine
Geschichte. Eine traurige Geschichte ist niemals nur traurig, sie hat auch ihre
hoffnungsvollen Seiten. Und wenn ein Stück eine glückliche Wendung nimmt, ist
diese niemals für alle Beteiligten glücklich zu nennen, sondern es gibt auch hier
immer eine dunkle Seite.
Musik stehen lassen und aus
Autorin:
Wieder zurück in meinem winzigen Hotelzimmer in Tôkyô, Minamisenju.
Meine Reise ist zu Ende. In ein paar Tagen fliege ich nach Deutschland.
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Auf dem kleinen niedrigen Tisch steht mein Abendessen: eine Plastiktüte mit ein
paar gefüllten Reisbällchen aus dem 24-Stunden Convenience-Shop. Draußen ist es
dunkel. In der kleinen Eckkneipe gegenüber haben sich einige alte Männer
zusammengefunden, um sich für ihr letztes Geld ein Fläschchen Sake zu gönnen.
Ich schalte meinen Lap-top ein und höre mir noch einmal das letzte Interview an, das
ich nach dem Konzert von Ôkura Shônosuke mit Anno-san geführt habe.
O-T. 35 Anno: 14 Sek. frei stehend
Sprecherin 2 Übersetzung
Als ich das erste Mal das Trommelspiel von Ôkura Shonosuke erlebte, war ich 35
Jahre alt. Das ist ein Alter, in dem sich schon viele Erfahrungen, Erinnerungen und
Emotionen im eigenen Inneren angehäuft haben. Ich hatte das Gefühl, dass sich all
diese angestauten Emotionen durch den Klang der Trommel von mir lösen. Mit dem
Klang der Trommel in den Himmel fort fliegen.
Der Buddhismus lehrt uns, dass alle Dinge dieser Welt eines Tages vergehen. Alles
was jetzt eine Form besitzt wird irgendwann dahin schwinden. Nichts währt ewig. Ich
glaube, das ist wahr.
Im Klang der Nô-Trommel habe ich gespürt, dass alles vergeht – doch von allem
bleibt ein Nachklang.
O-T 35 Anno: 01:39 – O-T Ende frei stehend
-
Stop -
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