GRÜNE DAUMENGRÜSSE NR 66 Da ist was los. Es ist Gartenjahr 2016. Die nationale Kampagne will mit vielen Veranstaltungen auf die Bedeutung von Freiräumen aufmerksam machen. Zu einem guten Leben gehört immer mehr auch Natur dazu. Zeitgeist ist Gärtnern. Urban Gardening holt das Grün in die Städte. In wilden Dachgärten, Balkon oasen, offenen Gemeinschaftsgärten versuchen Gärtner innen und Gärtner der Natur mehr Spielraum zu geben. Was mal mit ein paar erdgefüllten Kisten, Säcken, Eimern auf leerstehenden Parkplätzen begann, spriesst heute auf öffentlichen Plätzen und findet immer mehr Begeisterte. Und: Es darf gepflückt wer den. An allen möglichen und unmöglichen Orten wird gebuddelt, gepflanzt und geerntet. Im Dschungel des Betons dienen Gärten ökologisch gesehen der Verwertung organischer Abfälle in den Städten. Sie reichern die Luft mit Feuchtigkeit an, fan gen Regenwasser auf, auch Insekten und andere Stadt bewohner haben etwas davon. Aus sozial-politischer Sicht beleben sie den öffentlichen Raum und schaffen neue Orte der Begegnung und des Austauschs. Im besten Fall wachsen mit den Blumen und Pflanzen die Gemeinschaften und damit zivilgesellschaftliches Engagement, zudem aktive Auseinandersetzung und Einmischung in die Gestaltung der Stadt. Niemand will hier mehr Agrarfabriken. Wenn es um Landwirtschaft geht, wünschen wir uns mehr Rück sicht auf Tiere, Landschaft, Böden und Grundwasser: alles Anzeichen auf eine leise Agrarwende. Auf Crowd fundingplattformen gibt es denn immer mehr Projekte im Landwirtschaftsbereich, die unterstützt werden können, kürzlich das Projekt «Permakultur Vision Birchhof» für eine neue Nachhaltigkeit in Oberwil-Lieli. Statt klassischer Monokultur werden hier heimisches Wildgemüse, Obst wie auch seltene Kultursorten angebaut. Wir wollen gesund bleiben, Wurzeln schlagen, wissen, was wir essen. Wir brauchen Freiräume, Orte, die grünen, zum Verweilen. Wir engagieren uns in Gemeinschaftsgärten auf Brachflächen, in Landwirt schaftsprojekten. Dass diese neue Pflanzkultur Zukunft hat, sozial wie auch unternehmerisch, zeigen heute schon viele Projekte. HEKS betreibt schweizweit inter kulturelle Gärten, die geflüchteten Frauen Boden unter den Füssen geben. Und wir gehen gern nach Zürich und setzen uns in «Frau Gerolds Garten» am Fuss des Prime Towers, wo etwas geschützt vom G eschehen des Restaurantareals Kräuter, Salate, Gemüse und Früchte in mehr als 80 Hochbeeten wachsen und vor Ort verkocht wird. Auch wenn das nicht ganz reicht, aber immerhin. – Die wahren Naturschützer sind nun mal die Stadt- und Agglohocker. WO NEUES WÄCHST Über interkulturelle Gärten und Gartentandems im Aargau von HEKS. von Jeannine Hangartner Seite 20 –21 STICHWORT HEALTHISM Im Bestreben nach Gesundheit und Wohlbefinden mit mehr Gemüse und mehr Entspannung gegen Lebensschieflagen und Befindlichkeitsstörungen. von Tobias R. Pingler Seite 24 LOST IN PARADISE Das Geld verspricht viel, aber hält das Gegenteil. von Christoph Pfluger Seite 29 EXIL LOG FEDERLESEN Aus New York Melina Roshard und Matthias Brück über Crowdfunding von Lukas Gloor und Isabelle Schmied Seite 22–23 KLEINER BILDSCHIRM Marta Riniker-Radich Seite 25 BILDSCHIRM Gestalterischer Vorkurs an der Schule für Gestaltung Aargau Seite 26 –28 aufgezeichnet von Jacqueline Beck Seite 30 – 31 Sprachtrapez Bezklassen 1a und 1b aus Obersiggenthal Seite 32 www.gartenjahr2016.ch Madeleine Rey, Redaktion RADAR Da, wo etwas los ist von Madeleine Rey Seite 33 19 Wo Neues wächst überwachsen werden soll, es gibt neu eine Waschstelle, wo nach dem gemeinsamen Znüni das Geschirr ge waschen werden kann, und Steinhaufen zur Förderung der ökologischen Kleinstrukturen. Auch das Projekt selbst schlägt neue Richtungen ein. So betreut die Gartenfachfrau Brigitte Denk heute auch ein neues Pilotprojekt: Eine Schwierigkeit in den HEKS Gärten ist die Limitierung der Kursplätze auf zwei Jahre. Damit wird zwar ermöglicht, dass jährlich neue Frauen einen Gartenplatz erhalten, allerdings ist es bei den langen Wartezeiten für Schrebergärten und den oft wechselnden Wohnsitzen der Frauen meist schwierig, eine Nachfolgelösung zu finden. Daher gibt es seit diesem Frühjahr erstmals zwei Gartentandems. Die Idee ist bestechend und einfach: Es gibt einerseits viele Personen, die zwar einen Garten, aber keine Zeit oder nicht genügend Kraft haben, um darin selber Hand anzulegen. Andererseits möchten Migrantinnen gern weiterhin in einem Garten arbeiten und die Früchte ihrer Arbeit ernten. Das Tandem bringt sie zusammen: Privatpersonen können ihren Garten, oder einen Teil davon, einer Migrantin zur Verfügung stellen. Mindestens einmal in der Woche wird diese darin arbeiten und dabei anfangs regelmässig von Brigitte Denk begleitet und unterstützt. Hier geht die Integration über den geschützten Rahmen der Neuen Gärten hinaus, da die Begegnung zwischen zwei Einzelnen stattfindet und – hoffentlich auch da – zu einer Verbun denheit wächst. Ein ehemaliger Gärtner, der seinen Garten nicht mehr allein bestellen kann und zur Verfügung gestellt hat, sei spätestens in der Pause auch in seinem Garten und setze sich auf einen Kaffee dazu. Dieses Miteinander im eigenen Garten brauche eine sorgfältige Begleitung, meint Brigitte Denk, die als Ansprechperson für beide Seiten da ist, damit Fragen oder Unsicherheiten sofort angesprochen und geklärt werden können. Regula Rickenbacher ist Programmverantwortliche für die Neuen Gärten Aargau/Solothurn beim HEKS. Sie erzählt begeistert von einer anderen Wachstums richtung des Angebots. Da in den Gärten mit Freiwilli gen zusammen gearbeitet wird, unterscheidet sich die Qualität der Kinderbetreuung von Garten zu Garten, je nach Hintergrund der Freiwilligen, die sich um die Kinder kümmern, während die Mütter im Garten arbeiten. Dank eines glücklichen Zufalls kam eine Kinderfachfrau als Freiwillige in den Buchser Garten. Aus ihrem Engagement entstand die erste Garten spielgruppe, die auch Kindern aus der Umgebung offen steht. Während eines Jahrs wird diese nun getestet. Der grosse Zuspruch in den ersten Wochen lässt bereits auf eine Fortsetzung hoffen. HEKS, das Hilfswerk der evangelischen Kirchen Schweiz, pachtet Gartenparzellen an verschiedenen Standorten im Aargau und bewirtschaftet sie mit Flüchtlings frauen und Freiwilligen. Neu als Pilotpro jekt sind Tandems in privaten Gärten. von Jeannine Hangartner, Text und Fotografien In strömendem Regen haben drei Frauen aus Eritrea und ich im März vor einem Jahr Pflanzlöcher in die Wiese gehackt: Die Bäumchen für den Aarauer Gemein schaftsgarten sind mit nackten Wurzeln angeliefert worden und mussten noch an diesem Tag gesetzt wer den. Egal, was das Wetter machte. Wie ich nun als Gast in den Garten zurückkehre, blüht der Birnbaum, und daneben ist im letzten Jahr ein Sandkasten ent standen, in dem die Kinder bereits am Spielen sind. Sie haben Gänseblümchen gesammelt und zu Linien ausgelegt und nutzen leere Setzlingstöpfe zum Bau von Sandhügeln – die normalen Sandkastenspiele eben. Für die Kinder hier, wie für ihre Mütter und Gross mütter, bietet der Aarauer Garten von «HEKS Neue Gärten» jedoch einen besonderen Freiraum: Gestal tungsfreiraum – im Sandkasten oder dem eigenen Gartenbeet; Atemraum für beide, wenn die Kinder frei herumtollen und auch mal laut sein dürfen, ohne dass man sich um sie sorgen muss; ein Treffpunkt, um unter Frauen zu sein und sich unter seinesgleichen austau schen zu können. All dies ist in den Asylunterkünften, wo die meisten der Familien leben, nicht einfach gegeben. Die Frauen sind dankbar für den Garten: Zwei junge Eritreerinnen arbeiten nun im zweiten Jahr mit. Sie freuen sich bereits auf den Sommer, wenn sie abends wieder mit der Familie und Freunden in den Garten kommen werden, Feuer machen und hier Abendessen. Jeweils am Freitagnachmittag ist der Garten für die Frauen und Kinder reserviert, die anfallende Garten arbeit wird gemeinsam erledigt. Durch die Durchmi schung von Frauen aus verschiedenen Ländern und Freiwilligen aus der Schweiz wird sichergestellt, dass die Hauptverständigungssprache an diesem Tag Deutsch ist. Nebst grundlegenden Sprachkenntnissen wird auch Gartenwissen vermittelt (gegärtnert wird ausschliesslich biologisch), und die Kursstrukturen geben Gelegenheit, sich an die Schweizer Erwartungen an Pünktlichkeit und Verbindlichkeit zu gewöhnen. Solche informelle Lernsituationen bereiten die Kurs teilnehmerinnen auf spätere Verpflichtungen vor. Der Garten hat sich in diesem Jahr, in dem ich nicht mehr als freiwillige Mitarbeiterin dabei war, aufs Schönste weiterentwickelt: Nebst dem Sandkas ten wurde auch ein Rankgerüst gebaut, das von Kiwi Jeannine Hangartner ist freischaffende Kunstvermittlerin und hat 2014 im Aarauer Garten mitgearbeitet. Fotografien: Hacken, jäten, beobachten, was wächst im Aarauer Garten. 20 HEKS Neue Gärten gibt es in Aarau, Buchs, Rheinfelden, Rütihof und Windisch. Aktuell werden freiwillige Mitarbeiterinnen für die Gärten in Aarau (Freitagnachmittag) und Buchs (Freitagmorgen) gesucht. Interessierte melden sich bei: [email protected] 21 22 exil / log Aus New York Wie aus Samenbomben gemeinschaftliche Farmen wurden von Lukas Gloor und Isabelle Schmied Die gesamte Schweizer Bevölkerung auf knapp der Flä che des Kantons Jura – wo soll es da Platz für Gärten haben? Man denkt an den Central Park. Inmitten von Manhattan eine riesige Gartenanlage, wo man sich wun derbar erholen kann. Dann gibt es weitere kleinere und grössere Parks, verteilt auf die ganze Stadt. Aber auch Grünflächen, die man mit Google Maps nicht sieht. Zum Beispiel die Rooftop Farms in Brooklyn, die auch hierzulande zu einiger Berühmtheit gelangt sind. Jamie Oliver, der britische Fernsehkochstar, liess sich auf ei ner ablichten. Die New York Times und The Guardian haben darüber geschrieben. Auf den Dächern werden Yogakurse angeboten, Hochzeitsbankette veranstaltet und Touristen herumgeführt. Es sind hochprofessionell geführte Unternehmen, deren Homepages daherkommen wie diejenigen von Grafikbüros. Weniger glänzend, aber für die New Yorkerinnen und New Yorker viel wichtiger ist etwas anderes. Spaziert man durch die Quartiere, sieht man auf vielen freien Flecken mehr oder weniger unscheinbare Gärten. Über 600 solcher Community Gardens gibt es in der Stadt. Dazu kommen über 550 Schulgärten, eine Zahl, die ra sant ansteigt. Mit zu verdanken ist dies Green Thumb – dem Grünen Daumen der Stadtverwaltung, die den Auf bau solcher Gärten unterstützt. William LoSasso, der Direktor von Green Thumb, ist begeistert: «Community gardens bring the people together!» Er erzählt vom jüngsten Erfolg seiner Abtei lung. Die 34 neu in Community Gardens verwandelten Parzellen seien das grösste Wachstum in einem Jahr zehnt. Über 20 000 Community Gardeners gibt es in New York. In Anbetracht der Gesamtzahl der Bewohner bloss ein Tropfen auf den heissen Stein? Bill LoSasso winkt ab und betont die Bedeutung der Gemeinschafts gärten. Frisches gesundes Gemüse, das – im Gegensatz zum überteuerten aus dem Supermarkt – auch günstig ist, die Arbeit im Freien, vor allem aber das Soziale sind wichtig. «It’s an intergenerational exchange. People with totally different backgrounds work with each other.» Die Vielfalt der Gärten ist beeindruckend. Von kleinen Blu mengärten bis zu Hektaren grossen Gemüsefarmen, von basisdemokratischer Organisation bis zu Präsidialmo dellen findet sich alles. Die Idee hinter den Community Gardens reicht in die 1970er-Jahre zurück, als im Zuge der Wirtschafts krise viele Parzellen verlassen wurden und verwilderten. Die Umweltaktivisten der Green Guerilla um Liz Christy warfen Samenbomben auf ungenutzte Flächen, legten Blumenbeete an und bepflanzten erste Gärten. Wofür Liz Christy und ihre Mitstreiter gekämpft haben und sich noch immer engagieren – eine grünere, ökologi schere und sozialere Stadt –, ist heute mindestens so wichtig. Ein Beispiel, das diese Anliegen umsetzt, ist die Redhook Community Farm in Brooklyn. Direkt neben der IKEA, heruntergekommenen Industriebauten und dem alten Hafen liegt sie auf einem ehemaligen Baseballfeld. Als wir bei der Farm ankommen, haben wir eine ein einhalbstündige, anstrengende Reise in der Subway und einen Spaziergang durch eine raue Gegend hinter uns. Die Farm wirkt unscheinbar, trotz ihrer Ausmasse. Wir betre ten das Areal durch das offene Tor. Etwa 20 Personen, meist Jüngere, sind am Arbeiten. Auf den zwei grossen Fel dern spriessen erste Salate. Weiter hinten ist eine Gruppe von Leuten mit mehreren Komposthaufen beschäftigt. Corey Blant, Education and Market Manager der Farm, ein junger Mann, führt uns herum. Rasch kommt er auf das Youth-Empowerment-Programm zu sprechen. Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren arbeiten wäh rend der Highschool auf der Farm und profitieren von einem Bildungsangebot. «One of the most important things is empowerment», sagt Corey, der die Jugendli chen nach den Arbeitseinsätzen nachmittags unterrich tet. Eine Teilnehmerin dieses Programms ist Becky. «I love this work!», schwärmt sie. Die junge Frau mit Pier cing ist bereits im vierten und letzten Jahr des Pro gramms und würde gerne in diesem Bereich weiterar beiten. Das Ziel von Corey ist es, den Jugendlichen durch die Arbeit auf der Farm kritisches Denken und das Ge fühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln, Fähigkeiten, die für das Erwachsenenleben essenziell sind. Auf der gut eine Hektare umfassenden Fläche werden von den Freiwilligen und den Angestellten aus dem Youth-Programm gegen 10 Tonnen Gemüse jährlich pro duziert. Abnehmer sind Gemüseabonnenten, Restau rants und Besucher des wöchentlichen Marktes. Hier ist Community das Zauberwort. Das sagen auch die Frei willigen Eri und Kevin, die seit einem und zwei Jahren jeden Samstagmorgen auf der Farm arbeiten. Beide be tonen, wie wichtig die Arbeit mit den Händen und im Freien als Ausgleich zum täglichen Büro ist. Wie zentral die Freiwilligen sind, betont Corey Blant ebenso enthusiastisch wie Bill LoSasso: «They are the heart of the community gardens.» Sie holen sich das Grün in ihre Stadt zurück. Profitieren davon tun alle. Lukas Gloor, Mitherausgeber von Narr, und Isabelle Schmied aus Olten arbeiten, studieren und leben ein halbes Jahr in New York. Foto: Isabelle Schmied, Redhook Community Farm in Brooklyn 23 Stichwort HEALTHISM verantwortlich zu fühlen. Die Ursache für Befindlich keitsstörungen jeglicher Art und für ausbleibende Heilung schreiben sie sich dann – nach dem Motto: Nicht genügend bemüht, nicht entspannt genug, nicht ausreichend vom Richtigen gegessen – zwangsläufig selbst zu. Und als Fazit bleibt dann: Du genügst nicht. Als Folge dieser Entwicklung wird ein zwischenzeitli ches Gefühl des Wohlbefindens dann als höchst fragil empfunden. Dadurch verstärkt sich die Gefahr, sich schon bei kleinen Abweichungen für vermeintliches Fehlverhalten zu kasteien. Und das ist dann alles andere als gesund. Hätte der Schreiber dieser Zeilen geahnt, wie viel man beim Versuch, alles noch ein wenig richtiger machen zu wollen, falsch machen kann, er hätte wo möglich darauf verzichtet. Einmal losgelegt allerdings, macht dein Körper Stress, wenn du mal zwei Tage kein Yoga machst. Und du fängst sofort an, dich einzu psychen, wenn du mal einen Tag keinen Green- Matcha-Ingwer-Grünkohl-Birne-Spinat-Banane-ApfelSmoothie oder Ananas-Grünkohl-Spargel-PetersilieStaudensellerie-Sprossen-Nama Shoyu-Mix getrunken hast. Dass man dann allerdings auch mit täglicher Praxis und Power-Food nicht vor Krisen gefeit ist, sollte sich schmerzlichst zeigen, als mir eine Bekannte ein Buch eines Rohkost-Gurus in die Hand drückte, dessen Inhalt in folgender Quintessenz gipfelte: Dass nämlich selbst das gesündeste Leben und die gesündeste Er nährung ohne regelmässige Darmspülung komplett für den Arsch sei. Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich, restlos überzeugt, nun das letzte Puzzlestück auf dem Weg absoluter, allumfassender Gesundheit gefunden zu haben, mein Quinoa-Chia-HanfsamenMüsli stehen lassend, direkt von der Yoga-Matte in die Apotheke. Wieder zu Hause, begab ich mich mitsamt der heilsversprechenden Apparatur sogleich ins Badezimmer, machte mich untenrum frei, nahm die Vierfüssler-Position ein, und begann schön langsam warmes Wasser in meinen Allerwertesten laufen zu lassen. Gar nicht mal so unangenehm. In ein paar Wochen würde ich Bäume ausreissen können, dachte ich. Nach zwei Wochen war mir das ganze dann aber zu doof, und somit befinde ich mich am Ende wieder am Anfang, beim Heidegger-Bonmot nämlich, und sage: Ich verzichte darauf, mich wegen nicht durchge führter Darmspülungen sinnlos einzupsychen, wann immer es mir mal nicht so gut gehen sollte (was vorkommt), nehme also in Kauf, mich deswegen total selbstverschuldet nie restlos gesund zu fühlen, und behaupte feierlich, dass mir das am Arsch vorbeigeht. Der Verzicht nimmt nicht, er gibt. (M. Heidegger) von Tobias R. Pingler Nichts gibt es, was es in unserer superevaluierten, allerbestens durchgescannten, beschreibungs- wie erklä rungsverrückten, auf jede Frage mit mindestens drei Antworten aufwartenden Supermarktwelt nicht gibt. Es gibt beispielsweise mehr Statistiken als Menschen. Passendste Ratgeber für jede Lebensschieflage. Pass genaueste Behandlungen jedes Wehwechens oder periphären Unwohlseins. Treffsicherste Bonmots für jede Situation. Und natürlich für jeden Hunger das richtige Futter. In den Weltmägen findet eine Revolu tion statt, die Gesellschaft ist, was sie isst, und sie ist längst nicht mehr das, was sie mal war. Laut einer Analyse der Credit Suisse haben die 25 grössten ame rikanischen Lebensmittelkonzerne seit 2009 aufgrund des Bio-Booms umgerechnet 18 Milliarden Dollar an Marktanteilen verloren. Die grössten SchnellmampfKetten wollen ihre Unternehmen deswegen mit dem grünen Veggie-Gold Grünkohl neu ausrichten. Der grösste Dosensuppenhersteller verpackt seinen Inhalt neuerdings in wie eben erst abgepackt rüberkommen den transparenten Tüten. Aber so richtig crazy legt sich Cola, bis eben noch die wertvollste Marke der Welt, auf die alles überspülende Gesundheitswelle: Fairlife, so der Name des Produktes, soll die neue laktosefreie, mit 50 Prozent mehr Protein und Kalzium angerei cherte, komplett von Fett und Zucker gereinigte Pre mium-Milch sein. Soviel zu Amerika. Von wo früher oder später alles nach Europa rüberschwappt. Zum Beispiel nach Berlin, in die Hauptstadt der Feierwütigen und Gammler, der Hundescheisse und des Mülls, der Kreativen und der Fressbuden. Gleichsam entwickelt sich die Stadt aber auch zu einem stetig wachsenden Mekka für Veganer und Yogis. Und immer mehr wollen nicht nur gesund und gut leben, sondern im stetigen Bestreben nach Gesundheit und Wohlbefinden auch möglichst alles richtig machen. Zufrieden sind die wenigsten, zu verbessern (mehr Sport, mehr Gemüse, mehr Entspannung) gibt es schliesslich immer was. Bei vielen ist zudem die Erwartungshaltung gestiegen, Herr über ihr Leben und damit auch über ihre Leiden zu werden. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass immer mehr Menschen den Druck verspüren, ihre Gesund heit unter Kontrolle zu haben und sich komplett dafür Tobias R. Pingler arbeitet aktuell an einem Hörspiel für SR 2, hat eine alte Website mit aktuellem Inhalt (www.tobias-pingler.net) und praktiziert eine neue Art von Yoga (www.bowspringberlin.com), die auf altem Wissen b eruht und sich ständig weiterentwickelt. 24 kleiner Bildschirm Latent unwohl amerikanischen Arztes John Harvey Kellogg beschäftigt, der einst ein Sanatorium in den Wäldern von Michigan in Battle Creek leitete. In der Ernährung und der Sexu alität sah er die Grundlage für die Pathologie der moder nen Kultur und für eine Zivilisation, die er im Niedergang wähnte. Spezialisiert auf Gesundheits- und Reinheits fragen, lehrte er den radikalen Triebverzicht und verord nete stattdessen langwieriges Kauen und Einläufe mit Joghurt. Ihm ging es um den Darm. Sein Versprechen passte damals durchaus zu einer sich rasant entwickeln den Hygiene. – Beeindruckend leicht gelingt Marta Rini ker-Radich Historisches in neue visuelle Konzepte um zuwandeln. Madeleine Rey Es geschieht vor unseren Augen. Wir sehen den Händen der Künstlerin Marta Riniker-Radich zu, wie sie Haut zonen und die darunterliegenden Muskelschichten, Bin degewebe und Gelenke bearbeitet. Nach Massageanlei tungen von Dr. John Harvey Kellogg, allen bekannt als Erfinder von Cornflakes und Erdnussbutter, wird ent krampft, enthärtet, gelockert, besser durchblutet. Am Bauch, am Arm, am Knie, am Auge – verschiedene Kör perstellen gelangen ins Blickfeld und werden zu Objekt flächen und zum Gegenstand der Formung. Massagen mit Techniken wie Streichen, Reiben, Kneten, Klopfen, Kreisen und Ziehen um den Augapfel, am Augenlid, im Augenbogen, verbessern die Blicke, die, dann wiederum den Händen folgend, den fremden, fügsamen Körper zu kontrollieren und disziplinieren vermögen. Das Auge will trainiert sein und der Körper – als würde er von Teppich klopfern ausgeklopft und ausgestaubt – entschlackt, ent giftet, getrimmt auf Gesundheit und Leibesertüchtigung. Der Sichtbarkeit unterworfen und im Wissen um die ständige Möglichkeit der Beobachtung zeigt die Künst lerin unser ambivalentes Verhältnis zum Körper zwi schen Zuneigung und Gewalt und legt den Mechanismus zur Verinnerlichung von Normen und zur Selbstdiszip linierung offen. Ermattete und Ermüdete, die für einen gesunden Kör per zu leiden bereit waren, pilgerten schon Anfang des 20. Jahrhunderts in die hygienischen Zuchthäuser. Marta Riniker-Radich hat sich eingehend mit den Schriften des Marta Riniker-Radich (*1982), Bürgerin von Schinznach-Dorf, ist Trägerin des Manor Kunstpreises Aarau 2016, der alle zwei Jahre zur Förderung junger Schweizer Kunst vergeben wird. Die Auszeichnung bietet Anlass für die Einzelausstellung im Aargauer Kunsthaus, die bis zum 7. August zu sehen ist. Videostill: Marta Riniker-Radich, The nails should be trimmed close, 2016, HD video 25 Bildschirm Vom Säen und Ernten 25 Jahre Gestalterischer Vorkurs im Kanton Aargau Die Schule für Gestaltung Aargau (SfGA) feiert im Jubi läumsjahr 2016 das 25-jährige Bestehen der gestalteri schen Vorbildung im Kanton Aargau. 1991 starteten 18 junge Lernende den ersten Vorkurs an der damaligen Grafischen Fachschule Aarau – der Vorgängerinstitution der SfGA. Über 700 Lernende haben seitdem den Ge stalterischen Vorkurs oder das Gestalterische Propädeu tikum besucht und damit die Basis für ihre gestalte risch-künstlerische Laufbahn gelegt. Heute sind die Ab gängerinnen und Abgänger der Schule in der ganzen Welt aktiv und arbeiten etwa als Filmemacherin, Indus triedesigner, Modegestalterin, visueller Künstler, Foto grafin oder Illustrator. Was vor 25 Jahren als zartes Pflänzchen in der Aar auer Telli gesetzt wurde, konnte trotz – oder vielleicht wegen – der wechselvollen Geschichte zu einem einzig artigen und unverzichtbaren Bildungsangebot heran wachsen und gedeihen. Nach der Aufbauphase an der Grafischen Fachschule wurde der Vorkurs an die dama lige Fachhochschule Aargau überführt. Einige Jahre später, mit der Gründung der Fachhochschule Nord westschweiz, wurde die Abteilung wieder der Fach schule angegliedert – was nebenbei auch den Anlass zur Namensänderung in Schule für Gestaltung Aargau gab. Inzwischen sind der Gestalterische Vorkurs und das G estalterische Propädeutikum in der Aargauer Bil dungslandschaft fest verwurzelt und etabliert. Doch was jede Bäuerin und jeder Gärtner weiss, es braucht stete Pflege und genügend Nährstoffe, wenn man immer wieder von Neuem ernten will. Das Jubiläum ist daher ein idealer Anlass, sich bewusst zu werden, wel che wunderbaren Blüten, erstaunlichen Triebe und reichhaltigen Früchte sich in all den Jahren entwickeln konnten – und was es weiterhin zu bewahren und för dern gilt. Dazu wird ein öffentliches Fest veranstaltet und es erscheint eine Jubiläumspublikation. Die hier gezeigte Bildauswahl, die als Postkarten herausgege ben wird, zeigt Arbeiten von Lernenden aus den vergangenen Jahren. Die komplette Kartenserie können Leserinnen und Leser des JULI Kulturmagazins per Mail mit Angabe einer Postadresse kostenfrei bestellen. [email protected] SfGA, Weihermattstrasse 94, Aarau MO 27. Juni, 17 Uhr Jubiläumsfeier mit Vernissage, Festrede und Apéro Mit Prof. FH Dr. Gabriele Stemmer Obrist, Schulvorstandspräsidentin, Dr. Michael Umbricht, Generalsekretär BKS, Kanton Aargau, und Simon Santschi, Rektor 19–23 Uhr Festbetrieb mit Bars, Essen und Musik An der Jubiläumsfeier ist die Publikation «25 Jahre Gestalterischer Vorkurs im Kanton Aargau» kostenfrei erhältlich, später kann sie via www.sfgaargau.ch gegen eine Schutzgebühr und zzgl. Portokosten bestellt werden. Öffnungszeiten der Ausstellung MO 27. Juni, 17–23 Uhr DI 28. Juni, 12–21 Uhr MI 29. Juni, 8–17 Uhr 28 Lost in Paradise Ressourcen gezwungen, Japan mit 245 Prozent dagegen nicht. Spanien mit 102 Prozent muss sich retten lassen und scharfen Bedingungen unterstellen, die USA mit 106 Prozent dürfen weiterhin grosse Staatsdefizite schreiben. Das Geld verspricht viel, aber hält das Gegenteil Bringt der Abbau von Schulden die erhoffte Wirkung? Im Fall von Griechenland zeigt sich: Während es seine Schulden von 175 auf 171 Prozent seines Brutto inlandprodukts reduzieren konnte, schwächte es seine Wirtschaftskraft erheblich; der weitere Abbau wird noch schwerer werden. John Maynard Keynes, für viele der grösste Ökonom des vergangenen Jahrhunderts, bezeichnete diesen Umstand als «Schuldenparadox»: Je mehr Schulden bezahlt werden, desto schwieriger wird es, weitere Schulden abzutragen. Der dahinter stehende Mechanismus ist leicht zu verstehen. Geld, mit dem Bankkredite zurückbezahlt werden, ver schwindet aus dem Wirtschaftskreislauf und tritt erst wieder ein, wenn jemand einen Kredit aufnimmt – was die Schulden logischerweise erhöht. von Christoph Pfluger Man kann besser stehlen, wenn man etwas gibt. Nach diesem einfachen Prinzip funktioniert auch unser Geldsystem. Die Banken schöpfen Geld aus dem Nichts, verlangen aber wesentlich mehr zurück, als sie gege ben haben. Als Folge entsteht zunächst der Eindruck von Fülle, aber dann entwickelt die Schuldenspirale eine verhängnisvolle Dynamik. Tatsächlich sind heute fast alle Staaten hoch verschuldet, dazu die meisten Firmen und viele Individuen. Die Situation wird verständlich, wenn man den Geldschöpfungsvorgang betrachtet. Neues Geld entsteht, wenn eine Bank einen Kredit verleiht. Die Banken verleihen ja nicht das Geld der Sparer – diese behalten es nämlich –, sondern schreiben dem Kreditnehmer einfach die entsprechende Summe ins Konto und brau chen dazu (in der Schweiz) bloss eine Mindestreserve von 2,5 Prozent an echtem Geld, d.h. gesetzlichem Zahlungsmittel. Dabei entsteht eine gleichbleibende Menge Geld, die in Zirkulation geht und eine Forderung, die mit der Zeit wächst. Der Vorgang ist unbestritten und wird mittlerweile von den massgebenden Zentral banken bestätigt. Die Frage stellt sich: Können Schulden überhaupt auf breiter Front abbezahlt werden? Die Welt trägt gemäss McKinsey eine Schuldenlast von 200 Bio. Dollar. Die globale Geldmenge liegt bei rund 65 Bio. Dollar (M2). Wenn wir die Schulden in der Realwirtschaft unterein ander hätten, würde ein dreimaliger Umlauf theore tisch zur Tilgung reichen. Aber die Hälfte des Geldes liegt bereits beim reichsten Prozent der Weltbevölke rung, die es nicht mehr ausgibt, sondern nur noch investiert. Für den Schuldenabbau steht also nur noch die Hälfte zur Verfügung, d.h. gut 30 Bio. Diese müss ten zur Schuldentilgung jetzt bereits mehr als sechsmal umlaufen, wenn wir in der Realwirtschaft gegenseitig verschuldet wären. Aber die meisten Forderungen stellen das Finanzsystem, die Hedgefonds, die Banken und die Zentralbanken als Besitzer der meisten Staats anleihen und als Kreditgeber von Staaten, Firmen und Privaten. Und jede Schuldentilgung an die Akteure des Finanzsystems bedeutet eine Reduktion der Geld menge. Wenn wir also die Hälfte des Geldes, rund 15 Bio., für die Schuldenrückzahlung einsetzen, fliessen rund 10 Bio. in das Finanzsystem. Die Schulden re duzieren sich dadurch auf 185 Bio., aber uns verbleiben nur noch 20 Bio. und der weitere Abbau wird noch schwieriger. Aber die Konsequenzen werden verschleiert. Damit das Kartenhaus der wachsenden Schulden nicht zusam menstürzt, werden immer weitere Kredite verliehen – die Hauptursache für den Wachstumszwang. Weil in der Realwirtschaft schon seit einiger Zeit kaum noch rentable Vorhaben finanziert werden können, verlagert sich die Kreditgeldschöpfung immer mehr in die Finanz wirtschaft. Rund 75 Prozent des neuen Geldes fliesst direkt in die Finanzwirtschaft und sorgt dort für Preis steigerung bei den Vermögenswerten, d.h. Immobilien und Wertpapieren. Das Nachsehen hat die Realwirt schaft, die mit diesen Renditevorgaben nicht mithalten kann. Auslagerung in Billiglohnländer, Arbeitsplatz abbau und sinkende Löhne sind die Folge. Fazit: Es ist unmöglich, die Schulden insgesamt zurück zubezahlen und das einzig rechtmässige Vorgehen wäre ein globales Konkursverfahren. Um das zu verhin dern, wird weitergewurstelt, werden immer mehr Staaten in die Zwangsvollstreckung geführt und ihr Volksvermögen beschlagnahmt. Wenn wir nicht handeln, verwandelt sich das Paradies des Geldes schon bald in ein Fegefeuer. Mindestens. Das kann natürlich nicht ewig weitergehen. Deshalb müssen jetzt die Staatsausgaben auf breiter Front gebremst werden – ein grosses Problem für das Finanz system, das auf ständiges Wachstum ausgelegt ist. Aber nicht nur das: Staaten, welche die Schulden obergrenze erreicht haben, die noch als nachhaltig gilt, müssen Schulden abbauen. Dabei gelten keine einheit lichen Standards: Griechenland mit einer Staatsver schuldung von 171 Prozent des Bruttoinlandprodukts wird zum Abbau der Schulden und Ausverkauf seiner Von Christoph Pfluger ist vor kurzem erschienen: «Das nächste Geld – die zehn Fallgruben des Geldsystems und wie wir sie überwinden», edition Zeitpunkt, 2. rev. Aufl. 2016. www.edition.zeitpunkt.ch/das-naechste-geld 29 FEDERLESEN Melina Roshard und Matthias Brück über Herz und Geld im Crowdfunding Nachgefragt und aufgezeichnet von Jacqueline Beck Matthias Brück, für das Projekt Permakultur auf dem Birchhof in Oberwil-Lieli hast du vor einem Jahr bei Wemakeit 30 000 Franken gesammelt. Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Crowdfunding zu lancieren? Ich beschäftige mich seit mehreren Jahren mit alternati ven Geldsystemen, dem Begriff Wert schätzung und der Frage, wie man für ein gutes Projekt Menschen gewinnen kann, die dieses finanziell ermögli chen wollen. Mit der Idee des Crowd fundings hatte ich mich schon vor langer Zeit angefreundet, sie jedoch wieder beiseitegelegt aufgrund von anderen Verpflichtungen. Im Novem ber 2014 hatte ich gerade eine Arbeit beendet, stand mit etwas erspartem Geld da und fragte mich: Wie geht’s weiter? Mein Herzblut galt bereits dem Projekt «Permakultur Vision Birchhof», das wir im Sommer 2014 gestartet hatten. Permakultur steht für den Übergang von der Monokul tur zu einer naturnahen und zugleich ertragreichen Landwirtschaft mit nachhaltigem Anbau – und für eine Haltung. Im Zug nach Bern traf ich eine Bekannte, berichtete ihr von meinen Plänen, und davon, dass ich nicht wusste, wie ich mein Projekt r ealisieren konnte. F abienne Mathier hatte auf Wemakeit gerade erfolgreich die Postproduktion ihres Films «Winna» finanziert und sagte: «Du, Matthias, ich helf dir.» Ist «Permakultur Vision Birchhof» ein typisches Crowdfunding-Projekt? Matthias Brück Das typische Crowd funding-Projekt gibt es nicht, nur des sen Form: Man hat eine Idee, und für die Umsetzung sucht man innerhalb eines bestimmten Zeitraums einen ge wissen Betrag. Wer das Projekt unter stützt, beteiligt sich an der Vision und erhält dafür eine Gegenleistung. Crowdfunding ging in Amerika aus dem Musikbereich hervor, als illegale Downloads die Einnahmen vernich teten. Inzwischen reichen viele Pro jekte über die Kulturproduktion im engeren Sinn hinaus. Bei Wemakeit haben wir bewusst die Öffnung hin zu gesellschaftlichen und politischen Themen gesucht. Gerade Fragen rund um Nachhaltigkeit und Ernährung be schäftigen die Menschen weltweit: Wo her kommt mein Essen, und wer pro duziert es? Ist es möglich, dass wir wieder lokaler, selbstversorgender konsumieren? Das Projekt «Perma kultur Vision Birchhof» hat diesbezüg lich einen Zeitgeist getroffen. Melina Roshard 30 Weshalb passen Ökologie und Crowdfunding gut zusammen? Matthias Brück Ich glaube, Crowdfun ding kann eine Brücke schlagen zwi schen den Menschen, ihrer Umwelt und dem aktuellen Wirtschaftssys tem. Letzteres basiert auf dem Zwang zum Wachstum und der Anonymität des Tauschmittels Geld. Crowfunding greift die zwischenmenschlichen Ver bindungselemente auf, die durch un ser Geldsystem geschwächt werden: die Gemeinschaftlichkeit und den emotionalen Bezug zu einem Thema oder Produkt. Das macht das Kreieren von zuvor brachliegenden Ressourcen möglich. Die Involvierung der Community ist ein wichtiger Punkt. In einer Welt, die immer globalisier ter und grösser wird, haben die Men schen zunehmend das Bedürfnis, et was zu kaufen oder ein Projekt zu begleiten, das sie kennen und hinter dem sie stehen. Es zeigt sich, dass die Menschen nach wie vor bereit sind, Geld auszugeben für kreative Prozesse. Natürlich gibt es auch Plattformen, bei denen Crowdfun ding als Markttest dient: Bei Kick starter etwa gibt es eine internatio nale Community im Bereich Gameund Industriedesign, die ein cooles Melina Roshard FEDERLESEN neues P rodukt als erste kaufen will. Aber grundsätzlich ist Crowdfunding mehr als Finanzierung: Durch die Beteiligung entsteht ein Wert, der über das Produkt hinausgeht. Matthias, wie hat die Beteiligung der Community konkret in deinem Fall ausgesehen? Eine Studie der Hochschule Luzern betont die starke lokale und vor allem urbane Verankerung von Crowdfunding-Kampagnen. Warum funktioniert es auch mit einem Projekt wie der Permakultur, das im ländlichen Raum angesiedelt ist? Man sollte aufhören, die Menschen in Stadt und Land zu un terteilen. Wir sind schon Generationen weiter, viele Menschen, die heute auf dem Land leben, sind in der Stadt auf gewachsen und umgekehrt. In einem Dorf ist man heute nicht mehr abge schieden von der Welt, das Internet verbindet. Viele Menschen, die eine nachhaltige Lebensform suchen, zie hen zurück aufs Land. Sie haben das Bedürfnis, Wurzeln zu schlagen – als Tief- und weniger als Flachwurzler. Matthias Brück Zunächst musste ich über meinen eigenen Schatten sprin gen, auf Leute zugehen und sie fra gen, ob sie das Projekt finanziell un terstützen möchten. Der Gedanke, dass ich der Gesellschaft etwas zu rückgeben möchte, das über die Be lohnung im Crowdfunding hinaus geht, hat mir dabei geholfen. Und auch der Ansatz von John Crofts «Em powered Fundraising»: Es geht nicht um das Geld an sich, sondern um Be ziehungen. Ein Nein des Angefragten hat genauso viel Wert wie ein Ja. Wer ein Projekt ideell unterstützt, trägt es weiter in sein Netzwerk. Am Ende meiner Kampagne gab es neben der monetären Unterstützung viele Men schen, die sich emotional angespro chen fühlten und für das Projekt en gagieren wollten. Zu elft haben wir schliesslich den Verein «Permakul tur-Landwirtschaft» gegründet. Mit klassischen Marketing-Strategien kann man so etwas, glaube ich, nicht erreichen. Matthias Brück Auch Crowdfunding funktioniert aber nicht ohne Marketing. Was ist das Geheimnis einer erfolgreichen Kampagne? Wenn du ein Produkt oder eine Vision unter die Leute brin gen willst, musst du früher oder spä ter Marketing betreiben dafür. Beim Crowdfunding machst du es bereits während der Kampagne: Du holst die Leute persönlich ab. Die Aufmerk samkeit für ein Projekt wächst je weils von einem inneren zu einem äusseren Kreis von Unterstützern. Den inneren Kreis ansprechen muss diejenige Person, die das Projekt um setzen will. Das kann keine Agentur übernehmen. Melina Roshard Der Gedanke des Crowdfunding ist nicht neu, und er ist auch nicht nur städtisch. Früher hat man einen Kuchenverkauf organisiert, um mit den Einnahmen das Dorffest zu finanzieren. Heute hat sich das Ganze auf die digitale Plattform ver lagert. Sicher sind manche Bewohner in ländlichen Gebieten noch weniger Internet-affin und bezahlen seltener online. Aber das wird sich in den nächsten Jahren ändern. Die Zahlen der Studie stammen aus dem Jahr 2014. Was den digitalen Wandel an geht, passiert in zwei Jahren unglaub lich viel. Ermutigung und Verpflichtung zur Umsetzung, und für Geldgeber ein wichtiges Entscheidungskriterium. Früher musste man einen grossen In vestor von der eigenen Idee überzeu gen. Heute verteilt sich dies auf viele kleine Partizipatoren. Das stärkt die Idee. Diese Erfahrung mache ich gerade mit dem Projekt «Perma kultur – der Film». Die Vision Birch hof soll von einem professionellen Filmteam begleitet werden, dafür tre ten wir nun an Stiftungen heran. Die insgesamt 177 Unterstützer sind ein starkes Argument. Es könnte etwas Grosses, nie Gedachtes entstehen. Die Filmemacherin kommt aus Kuba, wo die Anwendung von Permakultur half, den Verbrauch von fossilen Energien zu drosseln, als Russland die Zuliefe rung kappte. Matthias Brück M e lin a Rosh a rd Welches Potential hat Crowdfunding mit Blick in die Zukunft? Es wird weiter wach sen. Viele dachten, Crowdfunding sei ein vorübergehender Trend, ein Hype, der in zwei Jahren vorbei sei. Doch Crowdfunding ist nichts Neues, son dern eine digitale Form der gemein samen Umsetzung von Projekten. Es wird deshalb nicht einfach wieder verschwinden. Künftig wollen wir noch mehr Synergien schaffen, etwa mit Hochschulen und Stiftungen. Wenn die Crowd hinter einem Projekt steht, ist das für die Initianten eine Melina Roshard 31 Die Permakultur auf dem Birchhof wird zum Prototypen einer Vision, die sich an ganz vielen Orten niederschlagen könnte. Ja, und der Prototyp steht für das Vertrauen vieler Men schen in diese Vision. Matthias Brück Die Kulturstiftung Pro Helvetia und das Bundesamt für Kultur organisieren am 2. Juni 2016 im Stadtmuseum Aarau ein Symposium zum Thema Crowdfunding in der Kultur. Programm auf www.prohelvetia.ch Melina Roshard ist Geschäftsführerin von Wemakeit, der grössten Crowd funding-Plattform der Schweiz. Matthias Brück ist Partizipationstrainer, Landschaftsarchitekt und Permakultur- Designer in Ausbildung. Jacqueline Beck ist freie Kulturjourna listin. sprachtrapez Am Sprachtrapez sind die Schülerinnen und Schüler der Bezklassen 1a und 1b aus Obersiggenthal und ihre Rebusse, die im Bildnerischen Gestalten bei Helen Fricker entstanden und gegenwärtig in der Dorfbibliothek Nussbaumen ausgestellt sind. Übrigens gibt es da beim Schulhaus Unterboden neben den Veloständern auch einen kleinen Schulgarten. Fotos: Andrey Fedorchenko Radar Da, wo etwas los ist von Madeleine Rey Der Schweizer Feuilletondienst veröffentlicht in loser Folge zu verschiedenen Kulturthemen Porträts und Re portagen, die im Limmatverlag in Buchform erscheinen. Im neusten Band sind 15 aussergewöhnliche Kulturorte aus allen Sprachregionen der Schweiz unter dem Titel «Da, wo etwas los ist» versammelt. Darunter befinden sich mit «Musig im Pflegidach» in Muri und dem Kan tonsspital Aarau gleich zwei Aargauer Kulturinstitutio nen. Insgesamt wird eine bunte, schön gestaltete Aus wahl präsentiert, wobei jeder Text – zehn Autorinnen und Autoren zeichnen dafür verantwortlich – in einer anderen Farbe, die farblich mit der dazugehörigen Foto grafie korrespondiert, gedruckt ist. Vielleicht noch mehr als die Orte selber stehen die Leiterinnen und Leiter, oft auch die Initiantinnen und Initianten, im Mittelpunkt der Beiträge. Sie sind die Seele und machen mit ihrer Persönlichkeit und Leidenschaft den Kulturort auch aus. Auf den Fotografien eingerückt, stehen sie im richtigen Licht an Ort und Stelle, wo sie wirken. Was wäre «Musig im Pflegidach» in Muri ohne Ste phan Diethelm? Einer mit Flair fürs Managen, Organi sieren und Bewirten, der die Champions League, die Stars der amerikanischen Jazzszene, die am Sonntag abend im Pflegidach auftreten, vor dem Gig bei sich im Haus mit Käse, dampfender Pasta bekocht und Muri zur Traumdestination bei US-Jazzern avancieren lässt. A lles ehrenamtlich – die Begegnungen mit den Bands entschä digen ihn für den Aufwand. That’s it! Sadhyo Niederberger kuratiert Ausstellungen im Kantonsspital Aarau (KSA), an einem Ort, der nicht pri mär für die Kunst bestimmt ist und wohin die Leute auch nicht primär für die Kunst kommen. Wer hier ar beitet oder als Patient oder Besucherin im Spital Zeit verbringt, wird von der Kunst sozusagen überrascht. Kunst findet sich an vielen Stellen im riesigen Spital komplex, dessen Fläche derjenigen der Aarauer Altstadt entspricht und 30 Gebäude umfasst, in Treppenhäusern, Hallen, Eingangsbereichen und an Orten, die verborgen liegen, in unterirdischen Korridoren. Kunst für alle (auch für die Verstorbenen) und Kunst von allen: bei spielsweise mit den wiederkehrenden Ausstellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des KSA, doppelt zu gehörig als Akteurin/Akteur und als Publikum. Oder mit der aktuellen Ausstellung von Vukasin Gajic, der 1966 aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz kam und in den letzten Jahren viel Zeit im Spital verbringen musste, ist auch ein ehemaliger Patient als Künstler ver treten. Und manchmal werden aus Patienten später Vernissagebesucher. Im Vorwort schreibt Isabelle Chassot, die Direktorin des Bundesamts für Kultur, von offenen Türen und Fens tern, der Teilhabe am kulturellen Leben und der Mög lichkeit selbst mitzumachen. – Eine Einladung, viel leicht auch mal anderswohin zu gehen? Ans Festival Antigel in Genf oder ins Gschichtuhüs in Agarn, Teatro Paravento in Locarno, die Loge in Luzern, Progr, Bosch bar, Nairs in Scuol … «Da, wo etwas los ist: 15 Kulturorte in der Schweiz» Mit Texten u.a. zum Kantonsspital Aarau, M usig im Pflegidach Muri. Herausgegeben vom Schweizer F euilletondienst (SFD). Limmat Verlag 2016 www.limmatverlag.ch 33 ANzeigen Musikfestwoche Meiringen 1.– 9. Juli 2016 Künstlerischer Leiter: Patrick Demenga Konzerte Grosse Werke der Kammermusik, selten Gehörtes und Rares, interpretiert von grossartigen Musikern der internationalen Szene . Der Goldene Bogen Der renommierte Schweizer Bratschist Christoph Schiller wird ausgezeichnet. Geigenbauschule Brienz Offenes Atelier und Vorträge: Vier Bratschen entstehen nach dem Modell Gasparo da Salò. Vorverkauf: kulturticket.ch, Telefon 0900 585 887 haslital.ch, Telefon 033 972 50 50 www.musikfestwoche-meiringen.ch AARAU, 15. – 18. JULI Schachen WETTINGEN, 19. – 20. JULI Margeläcker Effingerhof AG Storchengasse 15 5201 Brugg Telefon 056 460 77 77 Fax 056 460 77 70 info@effingerhof.ch www.effingerhof.ch Geballte Medienkompetenz.
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