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GRÜNE
DAUMENGRÜSSE
NR
66
Da ist was los. Es ist Gartenjahr 2016. Die nationale
Kampagne will mit vielen Veranstaltungen auf die
Bedeutung von Freiräumen aufmerksam machen. Zu
einem guten Leben gehört immer mehr auch Natur
dazu. Zeitgeist ist Gärtnern. Urban Gardening holt das
Grün in die Städte. In wilden Dachgärten, Balkon­
oasen, offenen Gemeinschaftsgärten versuchen Gärtner­
innen und Gärtner der Natur mehr Spielraum zu
geben. Was mal mit ein paar erdgefüllten Kisten,
­Säcken, Eimern auf leerstehenden Parkplätzen begann,
spriesst heute auf öffentlichen Plätzen und findet
immer mehr Begeisterte. Und: Es darf gepflückt wer­
den. An allen möglichen und unmöglichen Orten wird
gebuddelt, gepflanzt und geerntet.
Im Dschungel des Betons dienen Gärten ökologisch
gesehen der Verwertung organischer Abfälle in den
Städten. Sie reichern die Luft mit Feuchtigkeit an, fan­
gen Regenwasser auf, auch Insekten und andere Stadt­
bewohner haben etwas davon. Aus sozial-politischer
Sicht beleben sie den öffentlichen Raum und schaffen
neue Orte der Begegnung und des Austauschs. Im
besten Fall wachsen mit den Blumen und Pflanzen
die Gemeinschaften und damit zivilgesellschaftliches
Engagement, zudem aktive Auseinandersetzung und
Einmischung in die Gestaltung der Stadt.
Niemand will hier mehr Agrarfabriken. Wenn es
um Landwirtschaft geht, wünschen wir uns mehr Rück­
sicht auf Tiere, Landschaft, Böden und Grundwasser:
alles Anzeichen auf eine leise Agrarwende. Auf Crowd­
fundingplattformen gibt es denn immer mehr Projekte
im Landwirtschaftsbereich, die unterstützt werden
können, kürzlich das Projekt «Permakultur Vision Birchhof» für eine neue Nachhaltigkeit in Oberwil-Lieli.
Statt klassischer Monokultur werden hier heimisches
Wildgemüse, Obst wie auch seltene Kultursorten
angebaut.
Wir wollen gesund bleiben, Wurzeln schlagen,
wissen, was wir essen. Wir brauchen Freiräume, Orte,
die grünen, zum Verweilen. Wir engagieren uns in
Gemeinschaftsgärten auf Brachflächen, in Landwirt­
schaftsprojekten. Dass diese neue Pflanzkultur Zukunft
hat, sozial wie auch unternehmerisch, zeigen heute
schon viele Projekte. HEKS betreibt schweizweit inter­
kulturelle Gärten, die geflüchteten Frauen Boden unter
den Füssen geben. Und wir gehen gern nach Zürich
und setzen uns in «Frau Gerolds Garten» am Fuss
des Prime Towers, wo etwas geschützt vom ­G eschehen
des Restaurantareals Kräuter, Salate, Gemüse und
Früchte in mehr als 80 Hochbeeten wachsen und vor
Ort verkocht wird. Auch wenn das nicht ganz reicht,
aber immerhin. – Die wahren Naturschützer sind nun
mal die Stadt- und Agglohocker.
WO NEUES WÄCHST
Über interkulturelle Gärten und Gartentandems
im Aargau von HEKS.
von Jeannine Hangartner
Seite 20 –21
STICHWORT
HEALTHISM
Im Bestreben nach Gesundheit und Wohlbefinden mit
mehr Gemüse und mehr Entspannung gegen
Lebensschieflagen und Befindlichkeitsstörungen.
von Tobias R. Pingler
Seite 24
LOST IN PARADISE
Das Geld verspricht viel, aber hält das Gegenteil.
von Christoph Pfluger
Seite 29
EXIL LOG
FEDERLESEN
Aus New York
Melina Roshard und
Matthias Brück
über Crowdfunding
von Lukas Gloor und
Isabelle Schmied
Seite 22–23
KLEINER BILDSCHIRM
Marta Riniker-Radich
Seite 25
BILDSCHIRM
Gestalterischer Vorkurs
an der Schule
für Gestaltung Aargau
Seite 26 –28
aufgezeichnet von
Jacqueline Beck
Seite 30 – 31
Sprachtrapez
Bezklassen 1a und 1b
aus Obersiggenthal
Seite 32
www.gartenjahr2016.ch
Madeleine Rey, Redaktion
RADAR
Da, wo etwas los ist
von Madeleine Rey
Seite 33
19
Wo Neues
wächst
überwachsen werden soll, es gibt neu eine Waschstelle,
wo nach dem gemeinsamen Znüni das Geschirr ge­
waschen werden kann, und Steinhaufen zur Förderung
der ökologischen Kleinstrukturen.
Auch das Projekt selbst schlägt neue Richtungen
ein. So betreut die Gartenfachfrau Brigitte Denk heute
auch ein neues Pilotprojekt: Eine Schwierigkeit in den
HEKS Gärten ist die Limitierung der Kursplätze auf
zwei Jahre. Damit wird zwar ermöglicht, dass jährlich
neue Frauen einen Gartenplatz erhalten, allerdings
ist es bei den langen Wartezeiten für Schrebergärten
und den oft wechselnden Wohnsitzen der Frauen meist
schwierig, eine Nachfolgelösung zu finden. Daher gibt
es seit diesem Frühjahr erstmals zwei Gartentandems.
Die Idee ist bestechend und einfach: Es gibt einerseits
viele Personen, die zwar einen Garten, aber keine
Zeit oder nicht genügend Kraft haben, um darin selber
Hand anzulegen. Andererseits möchten Migrantinnen
gern weiterhin in einem Garten arbeiten und die
Früchte ihrer Arbeit ernten. Das Tandem bringt sie zusammen: Privatpersonen können ihren Garten, oder
einen Teil davon, einer Migrantin zur Verfügung stellen.
Mindestens einmal in der Woche wird diese darin
arbeiten und dabei anfangs regelmässig von Brigitte
Denk begleitet und unterstützt. Hier geht die Integration
über den geschützten Rahmen der Neuen Gärten
hinaus, da die Begegnung zwischen zwei Einzelnen
stattfindet und – hoffentlich auch da – zu einer Verbun­
denheit wächst. Ein ehemaliger Gärtner, der seinen
Garten nicht mehr allein bestellen kann und zur Verfügung gestellt hat, sei spätestens in der Pause auch
in seinem Garten und setze sich auf einen Kaffee dazu.
Dieses Miteinander im eigenen Garten brauche eine
sorgfältige Begleitung, meint Brigitte Denk, die als
Ansprechperson für beide Seiten da ist, damit Fragen
oder Unsicherheiten sofort angesprochen und geklärt
werden können.
Regula Rickenbacher ist Programmverantwortliche
für die Neuen Gärten Aargau/Solothurn beim HEKS.
Sie erzählt begeistert von einer anderen Wachstums­
richtung des Angebots. Da in den Gärten mit Freiwilli­
gen zusammen gearbeitet wird, unterscheidet sich
die Qualität der Kinderbetreuung von Garten zu Garten,
je nach Hintergrund der Freiwilligen, die sich um
die Kinder kümmern, während die Mütter im Garten
arbeiten. Dank eines glücklichen Zufalls kam eine
Kinderfachfrau als Freiwillige in den Buchser Garten.
Aus ihrem Engagement entstand die erste Garten­
spielgruppe, die auch Kindern aus der Umgebung offen­
steht. Während eines Jahrs wird diese nun getestet.
Der grosse Zuspruch in den ersten Wochen lässt bereits
auf eine Fortsetzung hoffen.
HEKS, das Hilfswerk der evangelischen
Kirchen Schweiz, pachtet Gartenparzellen
an verschiedenen Standorten im Aargau
und bewirtschaftet sie mit Flüchtlings­
frauen und Freiwilligen. Neu als Pilotpro­
jekt sind Tandems in privaten Gärten.
von Jeannine Hangartner, Text und Fotografien
In strömendem Regen haben drei Frauen aus Eritrea
und ich im März vor einem Jahr Pflanzlöcher in die
Wiese gehackt: Die Bäumchen für den Aarauer Gemein­
schaftsgarten sind mit nackten Wurzeln angeliefert
worden und mussten noch an diesem Tag gesetzt wer­
den. Egal, was das Wetter machte. Wie ich nun als
Gast in den Garten zurückkehre, blüht der Birnbaum,
und daneben ist im letzten Jahr ein Sandkasten ent­
standen, in dem die Kinder bereits am Spielen sind.
Sie haben Gänseblümchen gesammelt und zu Linien
ausgelegt und nutzen leere Setzlingstöpfe zum Bau
von Sandhügeln – die normalen Sandkastenspiele eben.
Für die Kinder hier, wie für ihre Mütter und Gross­
mütter, bietet der Aarauer Garten von «HEKS Neue
Gärten» jedoch einen besonderen Freiraum: Gestal­
tungsfreiraum – im Sandkasten oder dem eigenen
Gartenbeet; Atemraum für beide, wenn die Kinder frei
herumtollen und auch mal laut sein dürfen, ohne dass
man sich um sie sorgen muss; ein Treffpunkt, um unter
Frauen zu sein und sich unter seinesgleichen austau­
schen zu können. All dies ist in den Asylunterkünften,
wo die meisten der Familien leben, nicht einfach
gegeben.
Die Frauen sind dankbar für den Garten: Zwei junge
Eritreerinnen arbeiten nun im zweiten Jahr mit. Sie
freuen sich bereits auf den Sommer, wenn sie abends
wieder mit der Familie und Freunden in den Garten
kommen werden, Feuer machen und hier Abendessen.
Jeweils am Freitagnachmittag ist der Garten für die
Frauen und Kinder reserviert, die anfallende Garten­
arbeit wird gemeinsam erledigt. Durch die Durchmi­
schung von Frauen aus verschiedenen Ländern
und Freiwilligen aus der Schweiz wird sichergestellt,
dass die Hauptverständigungssprache an diesem Tag
Deutsch ist. Nebst grundlegenden Sprachkenntnissen
wird auch Gartenwissen vermittelt (gegärtnert wird
ausschliesslich biologisch), und die Kursstrukturen
geben Gelegenheit, sich an die Schweizer Erwartungen
an Pünktlichkeit und Verbindlichkeit zu gewöhnen.
Solche informelle Lernsituationen bereiten die Kurs­
teilnehmerinnen auf spätere Verpflichtungen vor.
Der Garten hat sich in diesem Jahr, in dem ich
nicht mehr als freiwillige Mitarbeiterin dabei war,
aufs Schönste weiterentwickelt: Nebst dem Sandkas­
ten wurde auch ein Rankgerüst gebaut, das von Kiwi
Jeannine Hangartner ist freischaffende Kunst­vermittlerin
und hat 2014 im Aarauer Garten mitgearbeitet.
Fotografien: Hacken, jäten, beobachten, was wächst im
­Aarauer Garten.
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HEKS Neue Gärten gibt es in Aarau,
Buchs, Rheinfelden, Rütihof und
­Windisch. Aktuell werden freiwillige
Mitarbeiterinnen für die Gärten
in Aarau (Freitagnachmittag) und
Buchs (Freitagmorgen) gesucht.
Interessierte melden sich bei:
[email protected]
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22
exil / log
Aus New York
Wie aus Samenbomben
gemeinschaftliche Farmen wurden
von Lukas Gloor und Isabelle Schmied
Die gesamte Schweizer Bevölkerung auf knapp der Flä­
che des Kantons Jura – wo soll es da Platz für Gärten
haben? Man denkt an den Central Park. Inmitten von
Manhattan eine riesige Gartenanlage, wo man sich wun­
derbar erholen kann. Dann gibt es weitere kleinere und
grössere Parks, verteilt auf die ganze Stadt. Aber auch
Grünflächen, die man mit Google Maps nicht sieht.
Zum Beispiel die Rooftop Farms in Brooklyn, die auch
hierzulande zu einiger Berühmtheit gelangt sind. Jamie
Oliver, der britische Fernsehkochstar, liess sich auf ei­
ner ablichten. Die New York Times und The Guardian
haben darüber geschrieben. Auf den Dächern werden
Yogakurse angeboten, Hochzeitsbankette veranstaltet
und Touristen herumgeführt. Es sind hochprofessionell
geführte Unternehmen, deren Homepages daherkommen
wie diejenigen von Grafikbüros.
Weniger glänzend, aber für die New Yorkerinnen und
New Yorker viel wichtiger ist etwas anderes. Spaziert
man durch die Quartiere, sieht man auf vielen freien
Flecken mehr oder weniger unscheinbare Gärten. Über
600 solcher Community Gardens gibt es in der Stadt.
Dazu kommen über 550 Schulgärten, eine Zahl, die ra­
sant ansteigt. Mit zu verdanken ist dies Green Thumb –
dem Grünen Daumen der Stadtverwaltung, die den Auf­
bau solcher Gärten unterstützt.
William LoSasso, der Direktor von Green Thumb, ist
begeistert: «Community gardens bring the people
­together!» Er erzählt vom jüngsten Erfolg seiner Abtei­
lung. Die 34 neu in Community Gardens verwandelten
Parzellen seien das grösste Wachstum in einem Jahr­
zehnt. Über 20 000 Community Gardeners gibt es in
New York. In Anbetracht der Gesamtzahl der Bewohner
bloss ein Tropfen auf den heissen Stein? Bill LoSasso
winkt ab und betont die Bedeutung der Gemeinschafts­
gärten. Frisches gesundes Gemüse, das – im Gegensatz
zum überteuerten aus dem Supermarkt – auch günstig
ist, die Arbeit im Freien, vor allem aber das Soziale sind
wichtig. «It’s an intergenerational exchange. People with
totally different backgrounds work with each other.» Die
Vielfalt der Gärten ist beeindruckend. Von kleinen Blu­
mengärten bis zu Hektaren grossen Gemüsefarmen, von
basisdemokratischer Organisation bis zu Präsidialmo­
dellen findet sich alles.
Die Idee hinter den Community Gardens reicht in
die 1970er-Jahre zurück, als im Zuge der Wirtschafts­
krise viele Parzellen verlassen wurden und verwilderten.
Die Umweltaktivisten der Green Guerilla um Liz Christy
warfen Samenbomben auf ungenutzte Flächen, legten
Blumenbeete an und bepflanzten erste Gärten.
Wofür Liz Christy und ihre Mitstreiter gekämpft haben
und sich noch immer engagieren – eine grünere, ökologi­
schere und sozialere Stadt –, ist heute mindestens so
wichtig. Ein Beispiel, das diese Anliegen umsetzt, ist die
Redhook Community Farm in Brooklyn. Direkt neben der
IKEA, heruntergekommenen Industriebauten und dem
alten Hafen liegt sie auf einem ehemaligen Baseballfeld.
Als wir bei der Farm ankommen, haben wir eine ein­
einhalbstündige, anstrengende Reise in der Subway und
einen Spaziergang durch eine raue Gegend hinter uns. Die
Farm wirkt unscheinbar, trotz ihrer Ausmasse. Wir betre­
ten das Areal durch das offene Tor. Etwa 20 Personen,
meist Jüngere, sind am Arbeiten. Auf den zwei grossen Fel­
dern spriessen erste Salate. Weiter hinten ist eine Gruppe
von Leuten mit mehreren Komposthaufen beschäftigt.
Corey Blant, Education and Market Manager der
Farm, ein junger Mann, führt uns herum. Rasch kommt
er auf das Youth-Empowerment-Programm zu sprechen.
Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren arbeiten wäh­
rend der Highschool auf der Farm und profitieren von
einem Bildungsangebot. «One of the most important
things is empowerment», sagt Corey, der die Jugendli­
chen nach den Arbeitseinsätzen nachmittags unterrich­
tet. Eine Teilnehmerin dieses Programms ist Becky. «I
love this work!», schwärmt sie. Die junge Frau mit Pier­
cing ist bereits im vierten und letzten Jahr des Pro­
gramms und würde gerne in diesem Bereich weiterar­
beiten. Das Ziel von Corey ist es, den Jugendlichen durch
die Arbeit auf der Farm kritisches Denken und das Ge­
fühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln, Fähigkeiten,
die für das Erwachsenenleben essenziell sind.
Auf der gut eine Hektare umfassenden Fläche werden
von den Freiwilligen und den Angestellten aus dem
Youth-Programm gegen 10 Tonnen Gemüse jährlich pro­
duziert. Abnehmer sind Gemüseabonnenten, Restau­
rants und Besucher des wöchentlichen Marktes. Hier ist
Community das Zauberwort. Das sagen auch die Frei­
willigen Eri und Kevin, die seit einem und zwei Jahren
jeden Samstagmorgen auf der Farm arbeiten. Beide be­
tonen, wie wichtig die Arbeit mit den Händen und im
Freien als Ausgleich zum täglichen Büro ist.
Wie zentral die Freiwilligen sind, betont Corey Blant
ebenso enthusiastisch wie Bill LoSasso: «They are the
heart of the community gardens.» Sie holen sich das
Grün in ihre Stadt zurück. Profitieren davon tun alle.
Lukas Gloor, Mitherausgeber von Narr, und Isabelle Schmied
aus Olten arbeiten, studieren und leben ein halbes Jahr
in New York. Foto: Isabelle Schmied, Redhook Community
Farm in Brooklyn
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Stichwort
HEALTHISM
verantwortlich zu fühlen. Die Ursache für Befindlich­
keitsstörungen jeglicher Art und für ausbleibende
Heilung schreiben sie sich dann – nach dem Motto:
Nicht genügend bemüht, nicht entspannt genug, nicht
ausreichend vom Richtigen gegessen – zwangsläufig
selbst zu. Und als Fazit bleibt dann: Du genügst nicht.
Als Folge dieser Entwicklung wird ein zwischenzeitli­
ches Gefühl des Wohlbefindens dann als höchst fragil
empfunden. Dadurch verstärkt sich die Gefahr, sich
schon bei kleinen Abweichungen für vermeintliches
Fehlverhalten zu kasteien. Und das ist dann alles
andere als gesund.
Hätte der Schreiber dieser Zeilen geahnt, wie viel
man beim Versuch, alles noch ein wenig richtiger
machen zu wollen, falsch machen kann, er hätte wo­
möglich darauf verzichtet. Einmal losgelegt allerdings,
macht dein Körper Stress, wenn du mal zwei Tage
kein Yoga machst. Und du fängst sofort an, dich einzu­
psychen, wenn du mal einen Tag keinen Green-­
Matcha-Ingwer-Grünkohl-Birne-Spinat-Banane-ApfelSmoothie oder Ananas-Grünkohl-Spargel-PetersilieStaudensellerie-Sprossen-Nama Shoyu-Mix getrunken
hast. Dass man dann allerdings auch mit täglicher
Praxis und Power-Food nicht vor Krisen gefeit ist, sollte
sich schmerzlichst zeigen, als mir eine Bekannte ein
Buch eines Rohkost-Gurus in die Hand drückte, dessen
Inhalt in folgender Quintessenz gipfelte: Dass nämlich
selbst das gesündeste Leben und die gesündeste Er­
nährung ohne regelmässige Darmspülung komplett für
den Arsch sei. Wie von der Tarantel gestochen, sprang
ich, restlos überzeugt, nun das letzte Puzzlestück
auf dem Weg absoluter, allumfassender Gesundheit
gefunden zu haben, mein Quinoa-Chia-HanfsamenMüsli stehen lassend, direkt von der Yoga-Matte in die
­Apotheke. Wieder zu Hause, begab ich mich mit­samt
der heilsversprechenden Apparatur sogleich ins
­Badezimmer, machte mich untenrum frei, nahm die
­Vierfüssler-Position ein, und begann schön langsam
warmes Wasser in meinen Allerwertesten laufen
zu lassen. Gar nicht mal so unangenehm. In ein paar
Wochen würde ich Bäume ausreissen können, dachte
ich. Nach zwei Wochen war mir das ganze dann aber
zu doof, und somit befinde ich mich am Ende wieder
am Anfang, beim Heidegger-Bonmot nämlich, und
sage: Ich verzichte darauf, mich wegen nicht durchge­
führter Darmspülungen sinnlos einzupsychen, wann
immer es mir mal nicht so gut gehen sollte (was
­vorkommt), nehme also in Kauf, mich deswegen total
selbstverschuldet nie restlos gesund zu fühlen, und
behaupte feierlich, dass mir das am Arsch vorbeigeht.
Der Verzicht
nimmt nicht,
er gibt.
(M. Heidegger)
von Tobias R. Pingler
Nichts gibt es, was es in unserer superevaluierten, allerbestens durchgescannten, beschreibungs- wie erklä­
rungsverrückten, auf jede Frage mit mindestens drei
Antworten aufwartenden Supermarktwelt nicht gibt.
Es gibt beispielsweise mehr Statistiken als Menschen.
Passendste Ratgeber für jede Lebensschieflage. Pass­
genaueste Behandlungen jedes Wehwechens oder
periphären Unwohlseins. Treffsicherste Bonmots für
jede Situation. Und natürlich für jeden Hunger das
richtige Futter. In den Weltmägen findet eine Revolu­
tion statt, die Gesellschaft ist, was sie isst, und sie
ist längst nicht mehr das, was sie mal war. Laut einer
Analyse der Credit Suisse haben die 25 grössten ame­
rikanischen Lebensmittelkonzerne seit 2009 aufgrund
des Bio-Booms umgerechnet 18 Milliarden Dollar an
Marktanteilen verloren. Die grössten SchnellmampfKetten wollen ihre Unternehmen deswegen mit dem
grünen Veggie-Gold Grünkohl neu ausrichten. Der
grösste Dosensuppenhersteller verpackt seinen Inhalt
neuerdings in wie eben erst abgepackt rüberkommen­
den transparenten Tüten. Aber so richtig crazy legt
sich Cola, bis eben noch die wertvollste Marke der Welt,
auf die alles überspülende Gesundheitswelle: Fairlife,
so der Name des Produktes, soll die neue laktosefreie,
mit 50 Prozent mehr Protein und Kalzium angerei­
cherte, komplett von Fett und Zucker gereinigte Pre­
mium-Milch sein.
Soviel zu Amerika. Von wo früher oder später alles
nach Europa rüberschwappt. Zum Beispiel nach Berlin,
in die Hauptstadt der Feierwütigen und Gammler,
der Hundescheisse und des Mülls, der Kreativen und
der Fressbuden. Gleichsam entwickelt sich die Stadt
aber auch zu einem stetig wachsenden Mekka für
Veganer und Yogis. Und immer mehr wollen nicht nur
gesund und gut leben, sondern im stetigen Bestreben nach Gesundheit und Wohlbefinden auch möglichst
alles richtig machen. Zufrieden sind die wenigsten,
zu verbessern (mehr Sport, mehr Gemüse, mehr Entspannung) gibt es schliesslich immer was. Bei vielen
ist zudem die Erwartungshaltung gestiegen, Herr über
ihr Leben und damit auch über ihre Leiden zu werden.
Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass immer
mehr Menschen den Druck verspüren, ihre Gesund­
heit unter Kontrolle zu haben und sich komplett dafür
Tobias R. Pingler arbeitet aktuell an einem Hörspiel
für SR 2, hat eine alte Website mit aktuellem Inhalt
(www.tobias-­pingler.net) und praktiziert eine neue
Art von Yoga (www.bowspringberlin.com), die auf altem
Wissen b
­ eruht und sich ständig weiterentwickelt.
24
kleiner Bildschirm
Latent unwohl
amerikanischen Arztes John Harvey Kellogg beschäftigt,
der einst ein Sanatorium in den Wäldern von Michigan
in Battle Creek leitete. In der Ernährung und der Sexu­
alität sah er die Grundlage für die Pathologie der moder­
nen Kultur und für eine Zivilisation, die er im Niedergang
wähnte. Spezialisiert auf Gesundheits- und Reinheits­
fragen, lehrte er den radikalen Triebverzicht und verord­
nete stattdessen langwieriges Kauen und Einläufe mit
Joghurt. Ihm ging es um den Darm. Sein Versprechen
passte damals durchaus zu einer sich rasant entwickeln­
den Hygiene. – Beeindruckend leicht gelingt Marta Rini­
ker-Radich Historisches in neue visuelle Konzepte um­
zuwandeln. Madeleine Rey
Es geschieht vor unseren Augen. Wir sehen den Händen
der Künstlerin Marta Riniker-Radich zu, wie sie Haut­
zonen und die darunterliegenden Muskelschichten, Bin­
degewebe und Gelenke bearbeitet. Nach Massageanlei­
tungen von Dr. John Harvey Kellogg, allen bekannt als
Erfinder von Cornflakes und Erdnussbutter, wird ent­
krampft, enthärtet, gelockert, besser durchblutet. Am
Bauch, am Arm, am Knie, am Auge – verschiedene Kör­
perstellen gelangen ins Blickfeld und werden zu Objekt­
flächen und zum Gegenstand der Formung. Massagen
mit Techniken wie Streichen, Reiben, Kneten, Klopfen,
Kreisen und Ziehen um den Augapfel, am Augenlid, im
Augenbogen, verbessern die Blicke, die, dann wiederum
den Händen folgend, den fremden, fügsamen Körper zu
kontrollieren und disziplinieren vermögen. Das Auge will
trainiert sein und der Körper – als würde er von Teppich­
klopfern ausgeklopft und ausgestaubt – entschlackt, ent­
giftet, getrimmt auf Gesundheit und Leibesertüchtigung.
Der Sichtbarkeit unterworfen und im Wissen um die
ständige Möglichkeit der Beobachtung zeigt die Künst­
lerin unser ambivalentes Verhältnis zum Körper zwi­
schen Zuneigung und Gewalt und legt den Mechanismus
zur Verinnerlichung von Normen und zur Selbstdiszip­
linierung offen.
Ermattete und Ermüdete, die für einen gesunden Kör­
per zu leiden bereit waren, pilgerten schon Anfang des
20. Jahrhunderts in die hygienischen Zuchthäuser. Marta
Riniker-Radich hat sich eingehend mit den ­Schriften des
Marta Riniker-Radich (*1982), Bürgerin von Schinznach-Dorf,
ist Trägerin des Manor Kunstpreises Aarau 2016, der alle zwei
Jahre zur Förderung junger Schweizer Kunst vergeben wird.
Die Auszeichnung bietet Anlass für die Einzelausstellung im
Aargauer Kunsthaus, die bis zum 7. August zu sehen ist.
Videostill: Marta Riniker-Radich, The nails should be trimmed
close, 2016, HD video
25
Bildschirm
Vom Säen und Ernten
25 Jahre Gestalterischer Vorkurs im Kanton Aargau
Die Schule für Gestaltung Aargau (SfGA) feiert im Jubi­
läumsjahr 2016 das 25-jährige Bestehen der gestalteri­
schen Vorbildung im Kanton Aargau. 1991 starteten 18
junge Lernende den ersten Vorkurs an der damaligen
Grafischen Fachschule Aarau – der Vorgängerinstitution
der SfGA. Über 700 Lernende haben seitdem den Ge­
stalterischen Vorkurs oder das Gestalterische Propädeu­
tikum besucht und damit die Basis für ihre gestalte­
risch-künstlerische Laufbahn gelegt. Heute sind die Ab­
gängerinnen und Abgänger der Schule in der ganzen
Welt aktiv und arbeiten etwa als Filmemacherin, Indus­
triedesigner, Modegestalterin, visueller Künstler, Foto­
grafin oder Illustrator.
Was vor 25 Jahren als zartes Pflänzchen in der Aar­
auer Telli gesetzt wurde, konnte trotz – oder vielleicht
wegen – der wechselvollen Geschichte zu einem einzig­
artigen und unverzichtbaren Bildungsangebot heran­
wachsen und gedeihen. Nach der Aufbauphase an der
Grafischen Fachschule wurde der Vorkurs an die dama­
lige Fachhochschule Aargau überführt. Einige Jahre
später, mit der Gründung der Fachhochschule Nord­
westschweiz, wurde die Abteilung wieder der Fach­
schule angegliedert – was nebenbei auch den Anlass zur
Namensänderung in Schule für Gestaltung Aargau gab.
Inzwischen sind der Gestalterische Vorkurs und das
­G estalterische Propädeutikum in der Aargauer Bil­
dungslandschaft fest verwurzelt und etabliert.
Doch was jede Bäuerin und jeder Gärtner weiss, es
braucht stete Pflege und genügend Nährstoffe, wenn man
immer wieder von Neuem ernten will. Das Jubiläum ist
daher ein idealer Anlass, sich bewusst zu werden, wel­
che wunderbaren Blüten, erstaunlichen Triebe und
reichhaltigen Früchte sich in all den Jahren entwickeln
konnten – und was es weiterhin zu bewahren und för­
dern gilt. Dazu wird ein öffentliches Fest veranstaltet
und es erscheint eine Jubiläumspublikation.
Die hier gezeigte Bildauswahl, die als Postkarten herausgege­
ben wird, zeigt Arbeiten von Lernenden aus den vergangenen Jahren. Die komplette Kartenserie können Leserinnen
und Leser des JULI Kulturmagazins per Mail mit Angabe
­einer Postadresse kostenfrei bestellen. [email protected]
SfGA, Weihermattstrasse 94, Aarau
MO 27. Juni, 17 Uhr
Jubiläumsfeier mit Vernissage, Festrede und Apéro
Mit Prof. FH Dr. Gabriele Stemmer Obrist, Schulvorstandspräsidentin, Dr. Michael Umbricht, Generalsekretär BKS,
Kanton Aargau, und Simon Santschi, Rektor
19–23 Uhr
Festbetrieb mit Bars, Essen und Musik
An der Jubiläumsfeier ist die Publikation «25 Jahre ­Gestalterischer Vorkurs im Kanton Aargau» kostenfrei ­erhältlich,
später kann sie via www.sfgaargau.ch gegen eine Schutzgebühr und zzgl. Portokosten bestellt werden.
Öffnungszeiten der Ausstellung
MO 27. Juni, 17–23 Uhr
DI 28. Juni, 12–21 Uhr
MI 29. Juni, 8–17 Uhr
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Lost in Paradise
Ressourcen gezwungen, Japan mit 245 Prozent dagegen
nicht. Spanien mit 102 Prozent muss sich retten ­lassen
und scharfen Bedingungen unterstellen, die USA
mit 106 Prozent dürfen weiterhin grosse Staatsdefizite
schreiben.
Das Geld
verspricht viel,
aber hält
das Gegenteil
Bringt der Abbau von Schulden die erhoffte Wirkung?
Im Fall von Griechenland zeigt sich: Während es
seine Schulden von 175 auf 171 Prozent seines Brutto­
inlandprodukts reduzieren konnte, schwächte es seine
Wirtschaftskraft erheblich; der weitere Abbau wird
noch schwerer werden. John Maynard Keynes, für viele
der grösste Ökonom des vergangenen Jahrhunderts,
bezeichnete diesen Umstand als «Schuldenparadox»:
Je mehr Schulden bezahlt werden, desto schwieriger
wird es, weitere Schulden abzutragen. Der dahinter
stehende Mechanismus ist leicht zu verstehen. Geld,
mit dem Bankkredite zurückbezahlt werden, ver­
schwindet aus dem Wirtschaftskreislauf und tritt erst
wieder ein, wenn jemand einen Kredit aufnimmt –
was die Schulden logischerweise erhöht.
von Christoph Pfluger
Man kann besser stehlen, wenn man etwas gibt. Nach
diesem einfachen Prinzip funktioniert auch unser
Geldsystem. Die Banken schöpfen Geld aus dem Nichts,
verlangen aber wesentlich mehr zurück, als sie gege­
ben haben. Als Folge entsteht zunächst der Eindruck
von Fülle, aber dann entwickelt die Schuldenspirale
eine verhängnisvolle Dynamik. Tatsächlich sind heute
fast alle Staaten hoch verschuldet, dazu die meisten
Firmen und viele Individuen.
Die Situation wird verständlich, wenn man den
Geldschöpfungsvorgang betrachtet. Neues Geld entsteht,
wenn eine Bank einen Kredit verleiht. Die Banken
verleihen ja nicht das Geld der Sparer – diese behalten
es nämlich –, sondern schreiben dem Kreditnehmer
einfach die entsprechende Summe ins Konto und brau­
chen dazu (in der Schweiz) bloss eine Mindestreserve
von 2,5 Prozent an echtem Geld, d.h. gesetzlichem
Zahlungsmittel. Dabei entsteht eine gleichbleibende
Menge Geld, die in Zirkulation geht und eine Forderung,
die mit der Zeit wächst. Der Vorgang ist unbestritten
und wird mittlerweile von den massgebenden Zentral­
banken bestätigt.
Die Frage stellt sich: Können Schulden überhaupt auf
breiter Front abbezahlt werden? Die Welt trägt gemäss
McKinsey eine Schuldenlast von 200 Bio. Dollar. Die
globale Geldmenge liegt bei rund 65 Bio. Dollar (M2).
Wenn wir die Schulden in der Realwirtschaft unterein­
ander hätten, würde ein dreimaliger Umlauf theore­
tisch zur Tilgung reichen. Aber die Hälfte des Geldes
liegt bereits beim reichsten Prozent der Weltbevölke­
rung, die es nicht mehr ausgibt, sondern nur noch
investiert. Für den Schuldenabbau steht also nur noch
die Hälfte zur Verfügung, d.h. gut 30 Bio. Diese müss­
ten zur Schuldentilgung jetzt bereits mehr als sechsmal
umlaufen, wenn wir in der Realwirtschaft gegenseitig
verschuldet wären. Aber die meisten Forderungen
stellen das Finanzsystem, die Hedgefonds, die Banken
und die Zentralbanken als Besitzer der meisten Staats­
anleihen und als Kreditgeber von Staaten, Firmen
und Privaten. Und jede Schuldentilgung an die Akteure
des Finanzsystems bedeutet eine Reduktion der Geld­
menge. Wenn wir also die Hälfte des Geldes, rund
15 Bio., für die Schuldenrückzahlung einsetzen, fliessen
rund 10 Bio. in das Finanzsystem. Die Schulden re­
duzieren sich dadurch auf 185 Bio., aber uns verbleiben
nur noch 20 Bio. und der weitere Abbau wird noch
schwieriger.
Aber die Konsequenzen werden verschleiert. Damit
das Kartenhaus der wachsenden Schulden nicht zusam­
menstürzt, werden immer weitere Kredite verliehen
– die Hauptursache für den Wachstumszwang. Weil in
der Realwirtschaft schon seit einiger Zeit kaum noch
rentable Vorhaben finanziert werden können, verlagert
sich die Kreditgeldschöpfung immer mehr in die Finanz­
wirtschaft. Rund 75 Prozent des neuen Geldes fliesst
direkt in die Finanzwirtschaft und sorgt dort für Preis­
steigerung bei den Vermögenswerten, d.h. Immobilien
und Wertpapieren. Das Nachsehen hat die Realwirt­
schaft, die mit diesen Renditevorgaben nicht mithalten
kann. Auslagerung in Billiglohnländer, Arbeitsplatz­
abbau und sinkende Löhne sind die Folge.
Fazit: Es ist unmöglich, die Schulden insgesamt zurück­
zubezahlen und das einzig rechtmässige Vorgehen
wäre ein globales Konkursverfahren. Um das zu verhin­
dern, wird weitergewurstelt, werden immer mehr
Staaten in die Zwangsvollstreckung geführt und ihr
Volksvermögen beschlagnahmt. Wenn wir nicht handeln, verwandelt sich das Paradies des Geldes schon
bald in ein Fegefeuer. Mindestens.
Das kann natürlich nicht ewig weitergehen. Deshalb
müssen jetzt die Staatsausgaben auf breiter Front
gebremst werden – ein grosses Problem für das Finanz­
system, das auf ständiges Wachstum ausgelegt ist.
Aber nicht nur das: Staaten, welche die Schulden­
obergrenze erreicht haben, die noch als nachhaltig gilt,
müssen Schulden abbauen. Dabei gelten keine einheit­
lichen Standards: Griechenland mit einer Staatsver­
schuldung von 171 Prozent des Bruttoinlandprodukts
wird zum Abbau der Schulden und Ausverkauf seiner
Von Christoph Pfluger ist vor kurzem erschienen:
«Das nächste Geld – die zehn Fallgruben des Geldsystems und
wie wir sie überwinden», edition Zeitpunkt, 2. rev. Aufl. 2016.
www.edition.zeitpunkt.ch/das-naechste-geld
29
FEDERLESEN
Melina Roshard
und Matthias
Brück über Herz
und Geld im
Crowdfunding
Nachgefragt und aufgezeichnet
von Jacqueline Beck
Matthias Brück, für das Projekt
Permakultur auf dem Birchhof in Oberwil-Lieli hast du
vor einem Jahr bei Wemakeit
30 000 Franken gesammelt.
Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Crowdfunding zu
lancieren?
Ich beschäftige mich
seit mehreren Jahren mit alternati­
ven Geldsystemen, dem Begriff Wert­
schätzung und der Frage, wie man für
ein gutes Projekt Menschen gewinnen
kann, die dieses finanziell ermögli­
chen wollen. Mit der Idee des Crowd­
fundings hatte ich mich schon vor
langer Zeit angefreundet, sie jedoch
wieder beiseitegelegt aufgrund von
anderen Verpflichtungen. Im Novem­
ber 2014 hatte ich gerade eine Arbeit
beendet, stand mit etwas erspartem
Geld da und fragte mich: Wie geht’s
weiter? Mein Herzblut galt bereits
dem Projekt «Permakultur Vision
Birchhof», das wir im Sommer 2014
gestartet hatten. Permakultur steht
für den Übergang von der Monokul­
tur zu einer naturnahen und zugleich
ertragreichen Landwirtschaft mit
nachhaltigem Anbau – und für eine
Haltung. Im Zug nach Bern traf ich
eine Bekannte, berichtete ihr von
meinen Plänen, und davon, dass ich
nicht wusste, wie ich mein Projekt
r­ ealisieren konnte. F
­ abienne Mathier
hatte auf Wemakeit gerade erfolgreich
die Postproduktion ihres Films
«Winna» finanziert und sagte: «Du,
Matthias, ich helf dir.»
Ist «Permakultur Vision
­Birchhof» ein typisches Crowdfunding-Projekt?
Matthias Brück Das typische Crowd­
funding-Projekt gibt es nicht, nur des­
sen Form: Man hat eine Idee, und für
die Umsetzung sucht man innerhalb
eines bestimmten Zeitraums einen ge­
wissen Betrag. Wer das Projekt unter­
stützt, beteiligt sich an der Vision und
erhält dafür eine Gegenleistung.
Crowdfunding ging in Amerika aus
dem Musikbereich hervor, als illegale
Downloads die Einnahmen vernich­
teten. Inzwischen reichen viele Pro­
jekte über die Kulturproduktion im
engeren Sinn hinaus. Bei Wemakeit
haben wir bewusst die Öffnung hin
zu gesellschaftlichen und politischen
Themen gesucht. Gerade Fragen rund
um Nachhaltigkeit und Ernährung be­
schäftigen die Menschen weltweit: Wo­
her kommt mein Essen, und wer pro­
duziert es? Ist es möglich, dass wir
wieder lokaler, selbstversorgender
konsumieren? Das Projekt «Perma­
kultur Vision Birchhof» hat diesbezüg­
lich einen Zeitgeist getroffen.
Melina Roshard 30
Weshalb passen Ökologie und
Crowdfunding gut zusammen?
Matthias Brück Ich glaube, Crowdfun­
ding kann eine Brücke schlagen zwi­
schen den Menschen, ihrer Umwelt
und dem aktuellen Wirtschaftssys­
tem. Letzteres basiert auf dem Zwang
zum Wachstum und der Anonymität
des Tauschmittels Geld. Crowfunding
greift die zwischenmenschlichen Ver­
bindungselemente auf, die durch un­
ser Geldsystem geschwächt werden:
die Gemeinschaftlichkeit und den
emotionalen Bezug zu einem Thema
oder Produkt. Das macht das Kreieren
von zuvor brachliegenden Ressourcen
möglich.
Die Involvierung der
Community ist ein wichtiger Punkt.
In einer Welt, die immer globalisier­
ter und grösser wird, haben die Men­
schen zunehmend das Bedürfnis, et­
was zu kaufen oder ein Projekt zu
begleiten, das sie kennen und hinter
dem sie stehen. Es zeigt sich, dass
die Menschen nach wie vor bereit
sind, Geld auszugeben für kreative
Prozesse. Natürlich gibt es auch
Plattformen, bei denen Crowdfun­
ding als Markttest dient: Bei Kick­
starter etwa gibt es eine internatio­
nale Community im Bereich Gameund Industriedesign, die ein cooles
Melina Roshard FEDERLESEN
neues P
­ rodukt als erste kaufen will.
Aber grundsätzlich ist Crowdfunding
mehr als Finanzierung: Durch die
Beteiligung entsteht ein Wert, der
über das Produkt hinausgeht.
Matthias, wie hat die Beteiligung der Community konkret
in deinem Fall ausgesehen?
Eine Studie der Hochschule
Luzern betont die starke lokale
und vor allem urbane Verankerung von Crowdfunding-Kampagnen. Warum funktioniert es
auch mit einem Projekt wie
der Permakultur, das im ländlichen Raum angesiedelt ist?
Man sollte aufhören, die
Menschen in Stadt und Land zu un­
terteilen. Wir sind schon Generationen
weiter, viele Menschen, die heute auf
dem Land leben, sind in der Stadt auf­
gewachsen und umgekehrt. In einem
Dorf ist man heute nicht mehr abge­
schieden von der Welt, das Internet
verbindet. Viele Menschen, die eine
nachhaltige Lebensform suchen, zie­
hen zurück aufs Land. Sie haben das
Bedürfnis, Wurzeln zu schlagen – als
Tief- und weniger als Flachwurzler.
Matthias Brück Zunächst musste ich
über meinen eigenen Schatten sprin­
gen, auf Leute zugehen und sie fra­
gen, ob sie das Projekt finanziell un­
terstützen möchten. Der Gedanke,
dass ich der Gesellschaft etwas zu­
rückgeben möchte, das über die Be­
lohnung im Crowdfunding hinaus­
geht, hat mir dabei geholfen. Und
auch der Ansatz von John Crofts «Em­
powered Fundraising»: Es geht nicht
um das Geld an sich, sondern um Be­
ziehungen. Ein Nein des Angefragten
hat genauso viel Wert wie ein Ja. Wer
ein Projekt ideell unterstützt, trägt es
weiter in sein Netzwerk. Am Ende
meiner Kampagne gab es neben der
monetären Unterstützung viele Men­
schen, die sich emotional angespro­
chen fühlten und für das Projekt en­
gagieren wollten. Zu elft haben wir
schliesslich den Verein «Permakul­
tur-Landwirtschaft» gegründet. Mit
klassischen Marketing-Strategien
kann man so etwas, glaube ich, nicht
erreichen.
Matthias Brück Auch Crowdfunding funktioniert aber nicht ohne Marketing. Was ist das Geheimnis
einer erfolgreichen Kampagne?
Wenn du ein Produkt
oder eine Vision unter die Leute brin­
gen willst, musst du früher oder spä­
ter Marketing betreiben dafür. Beim
Crowdfunding machst du es bereits
während der Kampagne: Du holst die
Leute persönlich ab. Die Aufmerk­
samkeit für ein Projekt wächst je­
weils von einem inneren zu einem
äusseren Kreis von Unterstützern.
Den inneren Kreis ansprechen muss
diejenige Person, die das Projekt um­
setzen will. Das kann keine Agentur
übernehmen.
Melina Roshard Der Gedanke des
Crowdfunding ist nicht neu, und er ist
auch nicht nur städtisch. Früher hat
man einen Kuchenverkauf organisiert,
um mit den Einnahmen das Dorffest
zu finanzieren. Heute hat sich das
Ganze auf die digitale Plattform ver­
lagert. Sicher sind manche Bewohner
in ländlichen Gebieten noch weniger
Internet-affin und bezahlen seltener
online. Aber das wird sich in den
nächsten Jahren ändern. Die Zahlen
der Studie stammen aus dem Jahr
2014. Was den digitalen Wandel an­
geht, passiert in zwei Jahren unglaub­
lich viel.
Ermutigung und Verpflichtung zur
Umsetzung, und für Geldgeber ein
wichtiges Entscheidungskriterium.
Früher musste man einen grossen In­
vestor von der eigenen Idee überzeu­
gen. Heute verteilt sich dies auf viele
kleine Partizipatoren. Das stärkt die
Idee.
Diese Erfahrung mache
ich gerade mit dem Projekt «Perma­
kultur – der Film». Die Vision Birch­
hof soll von einem professionellen
Filmteam begleitet werden, dafür tre­
ten wir nun an Stiftungen heran. Die
insgesamt 177 Unterstützer sind ein
starkes Argument. Es könnte etwas
Grosses, nie Gedachtes entstehen. Die
Filmemacherin kommt aus Kuba, wo
die Anwendung von Permakultur half,
den Verbrauch von fossilen Energien
zu drosseln, als Russland die Zuliefe­
rung kappte.
Matthias Brück M e lin a Rosh a rd Welches Potential hat Crowdfunding mit Blick in die
Zukunft?
Es wird weiter wach­
sen. Viele dachten, Crowdfunding sei
ein vorübergehender Trend, ein Hype,
der in zwei Jahren vorbei sei. Doch
Crowdfunding ist nichts Neues, son­
dern eine digitale Form der gemein­
samen Umsetzung von Projekten. Es
wird deshalb nicht einfach wieder
verschwinden. Künftig wollen wir
noch mehr Synergien schaffen, etwa
mit Hochschulen und Stiftungen.
Wenn die Crowd hinter einem Projekt
steht, ist das für die Initianten eine
Melina Roshard 31
Die Permakultur auf dem
Birchhof wird zum Prototypen
einer Vision, die sich an ganz
vielen Orten niederschlagen
könnte.
Ja, und der Prototyp
steht für das Vertrauen vieler Men­
schen in diese Vision.
Matthias Brück Die Kulturstiftung Pro Helvetia und
das Bundesamt für Kultur organisieren
am 2. Juni 2016 im Stadtmuseum
Aarau ein Symposium zum Thema
Crowdfunding in der Kultur. Programm
auf www.prohelvetia.ch
Melina Roshard ist Geschäftsführerin
von Wemakeit, der grössten Crowd­
funding-Plattform der Schweiz.
Matthias Brück ist Partizipationstrainer,
Landschaftsarchitekt und Perma­kultur-­
Designer in Ausbildung.
Jacqueline Beck ist freie Kulturjourna­
listin.
sprachtrapez
Am Sprachtrapez sind die Schülerinnen und Schüler
der Bezklassen 1a und 1b aus Obersiggenthal und ihre
Rebusse, die im Bildnerischen Gestalten bei Helen
Fricker entstanden und gegenwärtig in der Dorfbibliothek Nussbaumen ausgestellt sind.
Übrigens gibt es da beim Schulhaus Unterboden neben
den Veloständern auch einen kleinen Schulgarten.
Fotos: Andrey Fedorchenko
Radar
Da, wo
etwas los ist
von Madeleine Rey
Der Schweizer Feuilletondienst veröffentlicht in loser
Folge zu verschiedenen Kulturthemen Porträts und Re­
portagen, die im Limmatverlag in Buchform erscheinen.
Im neusten Band sind 15 aussergewöhnliche Kulturorte
aus allen Sprachregionen der Schweiz unter dem Titel
«Da, wo etwas los ist» versammelt. Darunter befinden
sich mit «Musig im Pflegidach» in Muri und dem Kan­
tonsspital Aarau gleich zwei Aargauer Kulturinstitutio­
nen. Insgesamt wird eine bunte, schön gestaltete Aus­
wahl präsentiert, wobei jeder Text – zehn Autorinnen
und Autoren zeichnen dafür verantwortlich – in einer
anderen Farbe, die farblich mit der dazugehörigen Foto­
grafie korrespondiert, gedruckt ist. Vielleicht noch mehr
als die Orte selber stehen die Leiterinnen und Leiter, oft
auch die Initiantinnen und Initianten, im Mittelpunkt
der Beiträge. Sie sind die Seele und machen mit ihrer
Persönlichkeit und Leidenschaft den Kulturort auch aus.
Auf den Fotografien eingerückt, stehen sie im richtigen
Licht an Ort und Stelle, wo sie wirken.
Was wäre «Musig im Pflegidach» in Muri ohne Ste­
phan Diethelm? Einer mit Flair fürs Managen, Organi­
sieren und Bewirten, der die Champions League, die
Stars der amerikanischen Jazzszene, die am Sonntag­
abend im Pflegidach auftreten, vor dem Gig bei sich im
Haus mit Käse, dampfender Pasta bekocht und Muri zur
Traumdestination bei US-Jazzern avancieren lässt. ­A lles
ehrenamtlich – die Begegnungen mit den Bands entschä­
digen ihn für den Aufwand. That’s it!
Sadhyo Niederberger kuratiert Ausstellungen im
Kantonsspital Aarau (KSA), an einem Ort, der nicht pri­
mär für die Kunst bestimmt ist und wohin die Leute
auch nicht primär für die Kunst kommen. Wer hier ar­
beitet oder als Patient oder Besucherin im Spital Zeit
verbringt, wird von der Kunst sozusagen überrascht.
Kunst findet sich an vielen Stellen im riesigen Spital­
komplex, dessen Fläche derjenigen der Aarauer Altstadt
entspricht und 30 Gebäude umfasst, in Treppenhäusern,
Hallen, Eingangsbereichen und an Orten, die verborgen
liegen, in unterirdischen Korridoren. Kunst für alle
(auch für die Verstorbenen) und Kunst von allen: bei­
spielsweise mit den wiederkehrenden Ausstellungen der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des KSA, doppelt zu­
gehörig als Akteurin/Akteur und als Publikum. Oder mit
der aktuellen Ausstellung von Vukasin Gajic, der 1966
aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz kam
und in den letzten Jahren viel Zeit im Spital verbringen
musste, ist auch ein ehemaliger Patient als Künstler ver­
treten. Und manchmal werden aus Patienten später
Vernissagebesucher.
Im Vorwort schreibt Isabelle Chassot, die Direktorin des
Bundesamts für Kultur, von offenen Türen und Fens­
tern, der Teilhabe am kulturellen Leben und der Mög­
lichkeit selbst mitzumachen. – Eine Einladung, viel­
leicht auch mal anderswohin zu gehen? Ans Festival
Antigel in Genf oder ins Gschichtuhüs in Agarn, Teatro
Paravento in Locarno, die Loge in Luzern, Progr, Bosch­
bar, Nairs in Scuol …
«Da, wo etwas los ist:
15 Kulturorte in der Schweiz»
Mit Texten u.a. zum ­Kantonsspital Aarau, M
­ usig im ­Pflegidach
Muri. Herausgegeben vom
Schweizer F
­ euilletondienst (SFD).
Limmat Verlag 2016
www.limmatverlag.ch
33
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Musikfestwoche Meiringen
1.– 9. Juli 2016
Künstlerischer Leiter: Patrick Demenga
Konzerte
Grosse Werke der Kammermusik, selten Gehörtes
und Rares, interpretiert von grossartigen Musikern
der internationalen Szene .
Der Goldene Bogen
Der renommierte Schweizer Bratschist Christoph
Schiller wird ausgezeichnet.
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Offenes Atelier und Vorträge: Vier Bratschen
entstehen nach dem Modell Gasparo da Salò.
Vorverkauf:
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