SWR2 Tandem

SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Tandem
aktualisierte Fassung vom:
1.4.14
AutorIn:
RedakteurIn:
Regie:
Saskia Nitsche
Katrin Zipse
Judith Lorentz
Bitten an Karl
(Hörspiel)
Studiobelegung:
Sendung am:
30.6.-3.7.2014 DLR Studio 6, 9.30-17.00 Uhr
31.05.16, Wiederholung vom 22.7.14; 19.20 Uhr; SWR2 Tandem
Sprecher/Rollen: Das Mädchen Elise (fast 19) deutsch
Karl (20) Sohn eines russischen
Arbeiters. Freund des Mädchens
Hanno (23) Sohn einer polnischen
Arbeiterfamilie. Befreundet mit Elise,
vormals auch mit Karl.
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des Urhebers.
© by the author
Ort: Das an die soeben geschlossene Fabrik angrenzende Schlafsilo, eine
Trabantenstadt, die nach der Fabrikschließung dem Abriss zum Opfer fällt.
1.
1HANNO+MÄDCHEN
Hätten wir was geahnt, dass wir die letzten gemeinsamen Tage,
dass bald alles anders, wir ihn für immer verlieren würden, diesen
OrtWir haben nichts geahnt. Bis zuletzt.
2MÄDCHEN
Zuhause wurde Vater stiller. Auch Karl hat was gesagt, dass sein
Vater unruhig-
3HANNO+MÄDCHEN
Aber die Jahre in unserem Rücken sind alle gleich gewesen.
Monotone Jahre in krummen, aber geregelten Bahnen. Fünf Uhr
dreißig fährt der Zug, den unsere Väter nehmen. Wir treffen uns am
Bahnhof. Wir begleiten die Väter zum Zug. Den Tag verbringen wir
auf der Straße. Große Blocks in grau mit Zahlen auf Häusern in
immer gleichen Straßen. Am Mittag kommen Kinder aus Schulen, die
klein zwischen Häusertürmen Fenster absuchen nach ihrem
Zuhause. Bis der Zug die geliebten Väter zurück, die am Abend in
großen Gruppen auf Ziffern zusteuern, um die Nacht bis zum
nächsten MorgenBis der Zug erneut und alles von vornBesprochen, dass wir bald gemeinsam raus aus dem Silo in die
Stadt, dass wir unser Leben außerhalb von Beton und Fabriken-
Dann eines Morgens, die Fabrik geschlossen, fährt der Zug nicht
mehr.
4MÄDCHEN
Mein Vater tobt. Ich verlasse die Wohnung.
5HANNO+MÄDCHEN
Irgendwo ein Schuss.
6MÄDCHEN
Als ich später bei Karl klingle, öffnet niemand.
Auf dem Weg flutet das Blut durch meine Adern, ich beginne zu
laufen. Als ich später bei Karl klingle, öffnet niemand.
3
2.
7KARL
mit einem Gewehr über der Schulter.
Auf dem Weg in den Wald beginne ich zu laufen.
Der Staub fliegt in die Augen,
aber es hilft das Laufen, gegen das Bild.
Das Bild, das mir der Kubrich überbracht, das ich nie gesehen,
das seitdem aber in meinem Kopf.
Schlägt sich wie ein Dunst auf alles.
Graue Wände bemalen sich mit leeren Augen, aufgerissene KehlenDas war er, Kubrich, der Fette aus der 311,
der mir das Bild, ein letztes Andenken überbracht.
Der Mund meines Vaters, der Schuss, das ZitternMit dem letzten Atemzug das Fallen, der Gaumen klappt nach
hintenMit seinen zwei dicken Fingern meinem Vater ins Gesicht.
Kubrich, der meinem Vater mit seinen zwei dicken übriggebliebenen
Fingern ins Gesicht.
Ihm die Augen geschlossen und dabei ‚Hättest du es groß! ein
Zeichen gesetzt!’
gedacht, wie er mir das später.
4
3.
Das Zimmer des MÄDCHENs. Ein karger Raum. Der Betonboden grau, die Wände
weiß gekalkt. Ein eisernes Waschbecken. Das einzige Möbelstück eine Kommode
aus altem Holz. Auf dem Boden eine fleckige Matratze. HANNO steht mit dem
Rücken zum Mädchen. Er sieht aus dem staubbedeckten Fenster. Lärm dringt
herein.
8HANNO
Ich lasse dich nicht hier.
Ich kann dich nicht hier lassen.
9MÄDCHEN
Lass mich nur.
10HANNO
Begreifst du nicht?
11MÄDCHEN
Ich muss warten.
Ich kann noch nicht gehen.
12HANNO
Heute Morgen Elise, da habe ich eine Frau gesehen.
Eine alte Frau, dieabgemagert, nur mit dünner Kleidung,
die Adern drückten sich durch ihre Haut,
in der Straße stand.
Neben ihr notdürftig geschnürt ein Bündel.
Heute ist der Tag, an dem sie ihren Turm-
13MÄDCHEN
Er kommt wieder.
Das hat er gesagt.
Ich komme gleich wieder.
14HANNO
Das war vor siebzehn Tagen.
5
15MÄDCHEN
Ich komme gleich wieder.
16HANNO
Vor siebzehn Tagen ist dein Vater auf die Straße gegangen,
während du schliefst-
17MÄDCHEN
Ich lag wach im Dunkeln, er stand in meiner Tür und ich konnte
hören wie er sagte-
18HANNO
Ich komme gleich wieder, ja.
19MÄDCHEN
Ich komme gleich wieder.
20HANNO
Aber seit siebzehn Tagen ist er nicht zurück.
Seit siebzehn Tagen wartest du, aber-
21MÄDCHEN
Er wird kommen.
Er wird an meinem Bett sitzen am Abend wie er das früherWie er jeden Abend aus der Fabrik kam,
und er wird mir Geschichten erzählen vom Tag.
Schweigen.
22HANNO
Wir gehen in die Stadt.
Wir gehen in die Stadt und suchen ein Zimmer.
23MÄDCHEN
Ich kann noch nicht gehen.
24HANNO
Elise, die reißen dir das Haus unter dem Arsch weg.
25MÄDCHEN
In elf Tagen ist mein Geburtstag.
Dann wird Vater kommen.
6
26HANNO
In elf Tagen da ist es zu spät.
Siehst du nicht?
Die Marken an den Häusern,
die Maschinen. Hörst du ihn nicht? Den Lärm.
27MÄDCHEN
Ich habe keine Angst.
28HANNO
Dein Vater, der wird dich finden.
Wenn du nicht hier bist, dann in der Druckerei.
29MÄDCHEN
Und Karl, was ist mit Karl?
Kein Wort sagst du von ihm.
30HANNO
Wie ein streunender Hund läuft er durch das Silo.
Mit dem Gewehr durch den Wald.
31MÄDCHEN
Seit sein Vater totGestorben, da geht’s ihm nicht gut.
32HANNO
Es wird nicht besser, wenn er weiter mit dem Gewehr seines Vaters
durch den Wald läuft, sich um nichts kümmert, zu feige der
Wirklichkeit in die Augen zu sehen -
33MÄDCHEN
- wie du sprichst.
Er ist dein Freund.
34HANNO
Der hat die Schwäche von seinem Alten geerbt.
35MÄDCHEN
Jeden Morgen ist er mit dem Vater ins Abteil gestiegen.
Im Winter noch dunkel draußen, das mochte er gern.
Ist der Zug durch die Nacht gerast. Das fehlt ihm.
7
36HANNO
Allen fehlt was.
37MÄDCHEN
Es war dir nur recht, dass sein Vater-
38HANNO
Was?
39MÄDCHEN
Sich erschossen.
Dass sein Vater sich erschossen hat.
40HANNO
Was sagst du?
41MÄDCHEN
Seit Karl in den Wald läuft, versuchst du auf seinen PlatzAber ich gehe nicht mit.
Mit dir in die Stadt, gehe ich nicht.
Ich werde warten.
Auf Vater und auf Karl.
8
4.
42HANNO
in seiner Wohnung. Er packt und findet eine Fotografie von Jadzia.
Jadzia. Du fehlst.
Hätte ich damals was gesagt, dass ich in ein paar Wochen im Zug
über die GrenzeDu wärst niemals mit mir, gesagt was soll ich mit einem, der geht.
Also geschwiegen und gedacht die verbleibende Zeit teilen, aber die
Gefühle schön im GriffNicht wie geplant verlaufen. Am Ende Nächte lang geheult. Am
Morgen noch zu dir kommen wollen, in zwei Stunden steig ich in den
Zug. Mich der Mut verlassen.
Ich hätte was sagen sollen, mich verabschieden, Jadzia, ich weiß.
Du hast nichts ahnen können, hab dir meine Geschichte nie erzählt.
Die Eltern Hoffnung in das fremde Land Deutschland gesteckt.
Uns, zwei und vier Jahre, zurückgelassen.
Ihnen dann eingefallen, dass sie ja zwei Kinder und der Sohn
inzwischen alt genug sein dürfte, um die Arbeit in Deutschland zu
unterstützen. Uns angerufen.
Gut, der Großvater in Deutschland immer Vorbild gewesen.
Die Schwester und ich also nach Deutschland.
In Deutschland angekommen, nie raus aus dem Silo, Jadzia.
Der Vater vielleicht.
Mit dem Zug zur Fabrik, die Nacht im Beton.
9
Aber die Mutter, die Schwester immer zu Hause.
Gesagt, dass das reicht.
Ein gutes Leben.
Ach so ist das, so.
Hier innen sicher, aber sobald du raus aus den TürmenIn die Stadt. Gehörst du nicht hin.
Versucht zu arbeiten, das Einkommen der Familie verbessern.
Irgendwann eine Wohnung für die Familie, in der Stadt.
Aber in der Fabrik kein Platz.
Als die Fabrik, man den VaterDie Fabrik dann zugemachtHat die Familie beschlossen zurück.
Großes Drama, dass ich nicht mit, mich geweigert zurückPlötzlich gesagt, was ich hier in Deutschland, was ich hier will?
Wo ich keine ArbeitAußerdem man ja auch überhaupt kein Geld machen kann und
sowieso niemand mit einem in Kontakt.
Ich trotzdem dran geglaubt, dass ich hier richtigAn den Großvater gedacht.
Das Versagen nicht zugeben wollen.
In Rzeszów keine Perspektiven gesehen.
Er zögert.
In die Stadt, Arbeit finden, kein Problem.
Vielleicht auch bisschen Trotz gewesen.
Und Elise kennengelernt.
10
Er zögert.
Nie wieder nach Rzeszów. Nie wieder.
Gesagt, ich bin deutsch.
Der Tag, an dem ich mich Hanno getauft habe, ein Drama.
Radoslaw. Der erste deutsche Junge, den ich in der Bahn nach der
Grenze getroffen,
hat Hanno geheißen. Niemand darf Radoslaw heißen, wenn er sich
deutsch fühlen will.
Jedenfalls die Familie dann ohne michmit mir gebrochen. Keinen Kontakt mehr!
Haben sie gesagt, brauchst nicht wieder zurück.
11
5.
Das Zimmer des Mädchens. KARL ist gekommen. Über der Schulter trägt er das
Gewehr. Es ist Herbst, aus dem Wald hat er frisches Laub hineingetragen. Mit dem
Rücken zu Karl steht DAS MÄDCHEN am Fenster.
43MÄDCHEN
Du bist da.
44KARL
Ja.
45MÄDCHEN
Jetzt bist du da.
Schweigen.
Woher?
46KARL
Ich habe dir was-
47MÄDCHEN
lauter
Woher?
48KARL
Was mitgebracht.
49MÄDCHEN
Karl, woher kommst du?
Ich kann hinüber blicken.
Seit ein paar Tagen ist es dunkel.
50KARL
Draußen vor der Tür-
51MÄDCHEN
Hast du uns ein Zimmer?
Warst du in der Stadt?
Karl schweigt.
12
52MÄDCHEN
Wo bist du?
Wo bist du, während ich auf dich warte?
Raus kann ich nicht, in der Druckerei war ich seit Tagen nicht.
Der Staub beißt in den Augen.
Ich warte auf dich.
Wo also bist du?
KARL schweigt.
53KARL
Ich hole ihn hinein, den toten Fuchs. Ihre Augen auf dem Tier. Eine
dünne Spur rotes Blut. Sie will sie wegwaschen die Spuren des
Todes, der jetzt in ihrem Zimmer liegt, aber der Wasserhahn-
54MÄDCHEN
Karl!
Das Mädchen dreht und dreht, aber aus dem WasserhahnSie haben das WasserDas Wasser abgedreht.
55KARL
Ich muss losMuss weiter.
56MÄDCHEN
Karl!
13
6.
57KARL
Früher war Vater Jäger. Ein Jäger, der nachts die Füchse
erschossen, die am Morgen auf dem Abstreifer vor unserer Haustür
mit großen Augen, wenn ich die Zeitung von Hermes, das war unser
Zeitungsbote. Als Kind, er hat mir jeden Morgen die Zeitung und
Schokolade in die Hand. Dafür haben wir ihm Schwänze von den
Füchsen, für seine Töchter. Manchmal Pfoten. Und das Fell für die
Reichen in die großen Fabriken. Das war zu Hause. Zuhause das ist
Kursk. Kursk in Russland.
Auch wenn die alle sagen, dass er ein schlechterEin verdammter FabrikarbeiterWar er nicht, war ein verdammt guter Vater und einer, der am Abend
nach Öl roch.
Als die Fabrik geschlossen wurde, da hat es alle getroffen. Der eine
verpisst sich, der andere erschießt sich gleich. Meiner hat
geschossen. Erst auf die Füchse, die dann vor unserer Haustür, und
dann auf sich.
14
7.
Im Zimmer des Mädchens. Noch immer liegt der Fuchs auf dem grauen Beton.
HANNO betrachtet ihn schweigend. Auf seiner Kleidung Staub. Er hat einen Eimer
Wasser gebracht. DAS MÄDCHEN wäscht darin ihre Hände.
58MÄDCHEN
Nimm ihn mit.
Bring ihn weg.
HANNO schweigt.
59MÄDCHEN
Kannst du ihn mitnehmen?
Nimmst du ihn mit?
60HANNO
Wohin?
61MÄDCHEN
Ich kann nicht bleiben mit dem Tier.
62HANNO
Karl soll ihn holen.
63MÄDCHEN
Karl ist nicht hier.
Sie halten inne. Fast küssen sie sich.
64HANNO
Ja, Karl ist im Wald.
Du musst raus, Elise.
Raus aus dem Silo, in die Stadt.
Kaum einer lebt mehr hier.
Ab und zu kommt mal ein Dieb vorbei.
Es ist gefährlich geworden.
Ich will nicht, wenn du zur Druckerei, dass du da draußenSitzt in der Kälte, dir fehlt das Wasser15
Kurzes Schweigen.
Ich hab’ heuteWas gesehen.
Ein alter Mann sich geweigertGesagt, ich geh’ nicht raus aus meinem Turm.
Ich hab’ hier keinen, kann nirgends hin.
Die haben ihn gepackt, nackt wie er war auf die Straße gezogenEiner der hat ihnDer ist liegen geblieben, der ist nicht mehr aufgestanden.
Kurzes Schweigen.
Aber Karl, der läuft in den Wald mit seinem Gewehr
und bringt dir einen, einen Fuchs!
Trägt einen Fuchs durch den Staub in deinen Turm,
zehn Stockwerke nach oben.
65MÄDCHEN
Er spricht davon, dass er zurück muss.
Nach Russland zurück.
66HANNO
Seit ich bei euchSprecht ihr von Flucht.
Flucht aus dem Beton.
67MÄDCHEN
Nach Kursk.
68HANNO
Kursk. Es sind Jahre vergangen.
Es wird niemand mehr da sein, den er kennt.
Was will er dort?
16
Komm mit.
Ich will nicht, dass du länger da draußenAm Morgen in der Dunkelheit zur Druckerei.
69MÄDCHEN
Der Morgen ist sicher, niemand in den Straßen,
die Maschinen stehen still.
Ich trete nach ihnen.
Dann schließe ich die Augen und renne durch den Staub.
Ich habe ein Messer dabei, den Griff in der Jackentasche fest
umklammert,
du brauchst keine AngstNur die letzten Meter bis zur Straße muss ich schneller,
jeden Morgen steht er am Fenster, Kubrich der Fette aus der 311.
Fünf Uhr dreißig und er spuckt nach den herrenlosen Katzen, die auf
der Straße balgen.
Aber ich drücke mich an der Hauswand entlang ins Licht der
Laternen.
70HANNO
Bald gibt es hier nur noch Katzen. Hast du gehört. 374, einer aus
dem Fenster gesprungen, achter Stock. Der Kater hinterher. Der
hat’s überlebt, ums Herrchen geschlichen, die Pfoten ins Blut
getaucht. Der sitzt immer noch unterm Fenster, der wird’s nicht
verstehen, wartet treu, kennst ihn, leckt sich die roten Flecken im
Fell.
71MÄDCHEN
Warst du in der Stadt?
17
72HANNO
Ich war draußen, Elise.
Ich habe ein Zimmer gesucht.
Aber die geben mir nichts.
Ich habe keine Arbeit.
Die geben mir nichts.
DAS MÄDCHEN schweigt.
73HANNO
Du könntest mir helfen.
Du bist die Einzige, die ich kenne mit einem Job.
74MÄDCHEN
Ich muss auf Vater warten.
Ich kann noch nicht gehen.
75HANNO
Dein Vater!
Dann unterdrückt er seine Wut.
Das Schrankfach ist leer.
Die Wäsche hat er eingepackt.
Sogar sein Andachtsbild fehlt.
76DAS
MÄDCHEN schweigt
77HANNO
Elise, hilf mir. Bitte.
78MÄDCHEN
überlegt.
Karl hat ihn gesehen.
Draußen! Er sucht was für uns.
79HANNO
Wenn ich nichts findeDen Spott zurück nach Rzeszów ertrag ich nicht.
18
Kurzes Schweigen.
Dein Vater, der80MÄDCHEN
unterbricht ihn.
Nein.
Kurzes Schweigen.
Ich helf’ dir, ich geb’ dir meinen Nachweis, dass ich Arbeit in der
Druckerei.
Ich bürg’ für dich.
81HANNO
Ich finde was.
Er küsst das Mädchen auf die Wange.
‚Komm her Radoslaw, der Großvater hat’s auch geschafft.’
Von dem haben sie erzählt, die Sprache nicht gekonntAber tüchtig gewesen, ehrenhaft und nach ein paar Monaten
raus aus dem Betriebswohnheim.
Ich finde uns was.
Er will gehen.
82MÄDCHEN
flüstert.
Nimm’ ihn mit.
83HANNO
(hebt den Fuchs auf)
Ich fasse das Tier nicht an.
Er trägt den Fuchs hinaus.
19
8.
DAS MÄDCHEN hat sich durch das Silo gekämpft, ist KARL in den Wald gefolgt.
Im Moos ein geschossener Fuchs. Er hält die Augen geschlossen.
84KARL
Manche der Füchse, die mein Vater, hatten die Augen geschlossen.
Andere lagen da mit offenen Augen. Als Kind, ich hab mich immer
gefragt, ob das eine Frage des Temperaments. Der Furchtlose reißt
im Schreck die Augen auf, der Ängstliche träumt sich mit
geschlossenen Augen an einen anderen Ort, während es ihm die
Pfoten unter dem Leib weg-
85MÄDCHEN
Hast du sie berührt,
am Morgen vor der Haustür?
Hast du sie berührt,
um zu spüren, ob das Fell noch warm?
86KARL
Ich bin aufgewacht, jede Nacht um fünf, wenn mein Vater nach
Hause und sich das Gesicht im Badezimmer nebenan, sich den Tod
aus dem Gesicht spülte. Ich lag da und ich hörte den Tod vor unserer
Türe atmen, und es trieb mich auf, die Füchse schauen.
87MÄDCHEN
Hast du sie berührt?
88KARL
Die Hände tief hinein.
89MÄDCHEN
Warst du dabei manchmal,
mit deinem Vater in der Nacht?
20
90KARL
Der Tod liegt in der Luft bevor die Kugel trifft.
Seidenweich das Fell.
Du kannst deine Hand tief hinein,
es muss ein Luxus sein in Pelz gehülltDavon träumen wir, was?
91MÄDCHEN
Gehst du raus mit mir, Karl?
In die Stadt?
92KARL
Ich schieß dir einen Fuchs, Elise.
Du kannst dein Gesicht ins Fell drücken.
Einmal am Morgen als ich besonders früh aufDie Füchse dünsteten ihre Wärme in die kalte Luft,
ich konnte nicht anders,
nicht widerstehen.
Ich hab mein ganzes Gesicht in das Fell des Fuchses.
Seidenweich, Elise.
93MÄDCHEN
Wir müssen raus, Karl. In die Stadt.
Siehst du nicht?
Von Weitem ist ein Einschlag zu hören, irgendwo ein stummer Schrei. Vorsichtig
betastet das Mädchen das Fell. Für einen Moment sieht es aus, als wolle sie ihr
Gesicht in das Fell des Fuchses drücken.
94KARL
Eines Nachts bin ich wieder vor die Tür. Kaum dass der Vater
nebenan sich schlafen gelegt, bin ich aufgestanden, vor die Tür
geschlichen. Drei tote Tiere liegen da. Haben was Heiliges die toten
Füchse. Die Augen geschlossen, liegen da zwei. Aber der Dritte sieht
21
mich an, von unten herauf. Flehend, scheint mir geradewegs in die
Augen zu sehen. Über dem Rücken des Fuchses zuckt das Fell.
Blass, stehe ich, steif, schiebe mich rückwärts in die Tür. Aber kann
nicht weg, das Tier nicht liegen lassen, das mich anfleht, ihm zu
helfen. Strecke vorsichtig meine Hand aus, ziehe sie zurück. Kann
nichts tun, das Tier nicht anfassen. Will zu meinem Vater, aber ich
weiß, dass er sofort das Gewehr- Ich sitze auf dem Stein vor unserer
Haustür in der Kälte und Tränen- Ich kann ihn nicht wegnehmen den
Tod von diesem schönen Tier und ich kann den Vater nicht holen,
dass er ihm das Leben nimmt.
Als es schon hell ist, wache ich auf. Ich sitze noch immer auf dem
Stein. Vor mir der Fuchs. Das Fell liegt still, aber die Augen, starr wie
sie sind, sehen mich an, vorwurfsvoll. Hab ich nie einem erzählt, aber
von da an bin ich lange nicht mehr vor die Tür.
Jetzt schieße ich den Füchsen, sicher ist sicher, zweimal ins Fell.
22
9.
Das Zimmer des MÄDCHENs. HANNO ist aus der Stadt gekommen. Er hat Wasser
gebracht.
Die Hose des Mädchens ist vom Wald durchnässt. Sie hat blaue Lippen, fröstelt.
95HANNO
Raus aus dem Betriebswohnheim, rein in die Stadt.
In Rzeszów haben sie noch am Bahnhof gestanden,
da ist der Großvater in Deutschland schon lange nicht mehr zu den
Gleisen geschlichen.
Stattdessen einen Laden aufgemacht, für Eisenwaren. In der Stadt.
Das Zimmer hat nur kleine Fenster, aber das macht nichts.
96MÄDCHEN
Wir werden auch was Kleines nehmen müssen.
97HANNO
Deine Hosen sind nass.
98MÄDCHEN
Auf dem Heimweg von der Druckerei im Regen-
99HANNO
Elise, es hat nicht geregnet.
100MÄDCHEN
Ich habe Hunger.
101HANNO
Es hat nicht geregnet.
102MÄDCHEN
Bald gehen wir raus.
103HANNO
zögert. Ja Elise, es geht weiter.
104MÄDCHEN
Den Vater nehm’ ich mit zur Druckerei.
105HANNO
In Rzeszów werden sie staunen.
‚Komm her Radoslaw, der Großvater hat’s auch geschafft!’
23
106MÄDCHEN
Am Morgen gehen wir gemeinsam los.
Und seine Augen werden besser.
Nie mehr das Gift in der Fabrik,
das Eitern hört auf.
24
10.
107KARL
Zwei frische Füchse über der Schulter, stehe ich in der Tür.
Durch Fenster und Türen dringt Laub herein. DAS MÄDCHEN schon deutlich
schwächer. Es ist kalt. Von draußen ist Lärm zu hören.
108MÄDCHEN
Karl?
Er legt die Füchse ab. Laub und Blut auf dem grauen Beton.
Ich habe Hunger, Karl.
Das Mädchen hat ihm das Wasser aufgehoben. Er trinkt hastig, lässt an ein Tier
denken.
Mit den Händen fährt er durch das Fell der Füchse.
109KARL
Der schwarze Strich über die Wirbel gespannt. Zarter FlaumBiljana hat mir einen genäht, einen Pelzmantel als ich sieben. Viel zu
groß, dass ich ihn lange tragen kann, hat sie gesagt. Bin ich jeden
Morgen mit dem Pelz in die Schule.
110MÄDCHEN
Ich möchte gehen.
111KARL
Ich hab ihn mir selbst ausgesucht den Pelz für den Mantel. Warm
und weich und ein Schutz gegen die anderen Jungen, die mir
hinterher gebrüllt, was ihnen die Alten geflüstert. Dass ich keine
Mutter undIch hab mir das Fell über die Ohren gezogen, dass ich nicht hören
musste, was die Väter ihren Söhnen geflüstert-
112MÄDCHEN
Hast du den Vater gesehen?
25
113KARL
Und wenn ich durchgefroren wieder zu Hause angekommen, hat mir
mein Vater den Pelz abgenommen und ihn über den OfenEs war immer warm in der Stube, war nicht mehr als eine Stube,
aber immer warm.
Irgendwann bin ich los mit einem Sack und habe Pfoten verteilt an
die Jungen, bis sie meine Freunde waren.
114MÄDCHEN
halluziniert.
Ich habe Hunger, Karl.
Wenn wir bei deinem Vater sind, dann gibt es was.
Ich hab so Hunger, Karl.
Dann gibt es was.
Karl geht. Sein Gewehr bleibt, an die Wand gelehnt, vergessen.
26
11.
Im Zimmer des Mädchens. Von der Decke hängen gehäutete Füchse. Blut tropft zu
Boden. Für einen Moment ist es still im Silo, man kann das Aufplatzen der Tropfen
hören. Eine rote Lache auf grauem Beton. DAS MÄDCHEN sieht zu. In den Armen
hält sie Karls Gewehr. Sie streichelt es vorsichtig, beinahe zärtlich, zupft Laub vom
Lauf.
Als HANNO kommt115HANNO
er spricht langsam mit Pausen, anfangs unterdrückt er seine Wut.
Heute meine Sachen in die Stadt getragen.
Angekommen, geklingelt.
Keiner aufgemacht. Nochmal geklingelt.
Dass du dich her!
Pack, Gesindel von draußen!
Geantwortet, dass ich nicht versteheSchau dass du fort!
Kannst du dir was denken?
Sag! Kannst du dir denken, warum ich meine ganzen Sachen wieder
hab zurücktragen müssen?
DAS MÄDCHEN rührt sich nicht.
116HANNO
Angerufen und nachgefragt.
Die hat in der Druckerei angerufen und nachgefragt.
Du arbeitest da nicht, die Alte gesagt du arbeitest da nicht mehr.
Seit Wochen nicht dagewesen.
Die haben dir gekündigt.
27
117MÄDCHEN
Die Munition in den Lauf. Laufverschluss mittels Verschlusshebel
öffnen, Läufe hinunterkippen. Patrone in das Patronenfach schieben,
bis der Patronenboden sich in den Patronenauszieher fügt. Gewehr
zusammenklappen, Verschluss schließen, schussbereit.
118HANNO
Elise, was-
Hanno versucht sich zu nähern, aber das Mädchen erhebt das Gewehr gegen ihn.
119HANNO
Leg das weg.
120MÄDCHEN
Ich wollte üben.
121HANNO
Du sitzt im Blut.
122MÄDCHEN
Einen Schuss abgeben.
123HANNO
Was hast du mit den Füchsen gemacht?
124MÄDCHEN
Einen Schuss abgeben, dass er mich hört.
Antwortet, dass er mir antwortet.
Wenn ich einen Schuss abgebe,
dass er vielleicht heute schon wieder zurück-
125HANNO
Und wenn du falsch zielst?
126MÄDCHEN
Den Schuss wird er hören.
Hanno nimmt dem Mädchen das Gewehr aus der Hand.
28
12.
Im Zimmer des Mädchens.
127MÄDCHEN
schwach
Karl.
KARL sieht den Schatten des Mädchens in der blutigen Pfütze sitzen.
128KARL
Was hast du gemacht?
Schweigen.
Wir gehen raus.
Weg.
In die Stadt.
Ich komme wieder. Ich organisiere uns was.
Ich komme wieder.
Er geht.
29
13.
Vor dem Turm des Mädchens trifft KARL auf HANNO, der das Gewehr mit sich trägt.
129HANNO
kalt.
Karl.
Vor einer zerklüfteten Landschaft aus Ruinen, stehen sie sich gegenüber.
130HANNO
Was hast du getan?
Pack die Waffe ein und geh’ gottverdammt nochmal mit ihr in die
Stadt.
Mit mir geht sie nicht. Wir müssen raus.
Also nimm’ du sie mit.
KARL schweigt.
131HANNO
zunächst leise, bevor seine Stimme immer bedrohlicher wird.
Karl.
Die FüchseDas ist ein schönes Bild.
Das weiche Fell und dieserDunst in die Luft
Die kalte Luft
Letzter Atem des Todes. Wunderbar.
Und die aufgerissenen Augen, weit.
Und dann das Blut, das aus dem Maul läuft.
Aus der Schusswunde aus dem Fell.
Und die Krähen, Habichte und Bussarde30
132KARL
Maul.
133HANNO
- die kommen. Die sich auf den Fuchs setzen und ganz langsam
beginnen ihm das Fell auszurupfen mit ihren Schnäbeln-
KARL schweigt.
134HANNO
Ihm das Fell ausrupfen bis auf die Haut. Haar um Haar bis da nichts
mehr ist als blasse Haut, durch die sich weiße Knochen schieben.
Karl: Ein erster Schlag.
135MÄDCHEN
Im Traum sehe ich sie vor mir. Karl und daneben Hanno. Sie
kämpfen. Hanno drückt Karls Gesicht in das Fell.
136HANNO
Das Blut quillt. Die letzten Knochen werden von reißenden Fluten rot
umspült.
Karl tritt aus dem Haus. Nachts um fünf, wenn der Vater im
Badezimmer nebenan sich den Tod aus dem Gesicht spült, flutet vor
der Haustüre das Blut des Fuchses. Und er, Karl, tritt heraus, ein
reißender Strom umspült ihn, aber er bleibt stehen, hält inne, der
Kopf sieht noch heraus aus dem wogenden Rot. Karl steht da, sieht
sein romantisches Bild, das er sich zurechtgelegt und fühlt warmes
Fell-
137MÄDCHEN
Ich will dazwischen. Sie taumeln, stürzen. Dann ein Schuss und Karl,
der stürzt-
31
14.
Im Zimmer des Mädchens. Noch immer tropft Blut auf den grauen Beton.
Unentwegt strömt Laub herein.
MÄDCHEN
kauert in einer Ecke des Raums.
Karl?
- zur Tür hinaus, sie will ihn finden.
Karl?
Im Dreck sitzt er, den Kopf gesenkt, das Kinn auf die Brust geklappt,
sieht mich an aus toten Augen, durch die ein letzter Schatten zieht.
Fahle Haut um die Knochen gespannt. Auf die weißen Arme fallen
Tropfen von Blut. Ich stehe steif, vor meinen Augen verwandelt sich
die nackte Haut in samtenes Fell. Der Boden zittert. Irgendwas in mir
eiskalt. Ich traue mich nicht zu ihm, strecke meine Hand aus, will ihn
zu Leben erwecken, aber darf ihn nicht berühren. Vor mir liegt der
Fuchs, der mit letzter Kraft um sein Leben fleht. Aber ich kann ihn
nicht wegnehmen den Tod von diesem schönen Tier-
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15.
138MÄDCHEN
139liegt
Karl
im Staub, es versucht aufzustehen, aber es gelingt ihm nicht.
Heute ist mein Geburtstag. Wir gehen in die Stadt. Mein Vater hat
uns eine Wohnung, komm mit.
Wo bist du? Alles Gute-
Das Mädchen bleibt liegen, entkräftet.
Laub treibt durch die Felsen aus Beton.
Letzte Türme fallen.
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16.
Trümmer. Ab und zu streicht eine magere Gestalt durch die zerklüftete Landschaft
und sieht aus dunklen Augenhöhlen herüber. Irgendwo liegt einsam eine
Trainingsjacke.
140HANNO
Drei Wochen sind vergangen. Vielleicht vier.
Vom Rumlaufen da draußen hab ich das Gefühl für die Zeit verloren.
Dafür neue, nie da gewesene Instinkte entwickelt.
Brauch’ ich für den Job.
Ich hab noch ein paar Versuche unternommen, Jadzia.
Ein Mädchen kennengelernt. Aus der Stadt.
Die Flucht aus dem Silo im Kopf, nicht ganz ehrlich gewesen.
Gesagt, mich verliebt.
Aufgepasst, Mädchen. Die nächsten Tage wenig Zeit, paar
Vorstellungstermine organisiert bezüglich Arbeit.
Lew getroffen.
Die Türme sind weg, aber vor der Mauer drücken sie sich rum.
Mir ’nen Job angeboten, gesagt Nippes vertreiben und paar andere
Dinge.
Ich hab angenommen, Jadzia.
Das Mädchen ist auf und davon.
Hanno zögert, dann holt er ein Telefon aus seiner Hosentasche. Er setzt sich in den
Staub und wählt eine lange Nummer. Wortfetzen dringen aus den Steinen.
Jadzia, du fehlst.
Was machen die Eltern?
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Nach einer Weile lässt er das Telefon sinken.
Schweigen.
Er beginnt zu sich bzw. als Erzähler zu sprechen.
Hast du gewusst, sagt sieHast du gewusst, dass dein Großvater nie in Deutschland gewesen?
Ich, was? Mein Großvater soll nie in DeutschlandJa, sagt sie. Das kann nicht, unmöglich.
Doch, doch. Ich hab hier sogar sein Grab gesehen.
Und dann legt sie auf.
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Und als schon niemand mehr zu sehen, es ist still geworden, ist HANNO noch immer
unterwegs in den Trümmern. Mal richtet er einen Napf mit Essen, mal bringt er
Wasser in Eimern. Manchmal schlüpft fast unsichtbar der schmale Schatten des
MÄDCHENs aus den Steinen, lässt an ein Gespenst denken, huscht vorbei.
141MÄDCHEN:
Karl?
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18.
142HANNO
Sie kommen am Morgen, fünf Uhr dreißig.
Am leeren Bahnhof drücken sie sich rum. Haltestelle für Gespenster.
Nur da draußen ganz am Ende der Gleise ein Reisender.
Ich gehe am Bahnsteig entlang. Hier haben sie gestanden, jeden
Morgen, bevor sie über die Eisenstiege in den Zug geklettert sind.
Der Reisende am Ende der Gleise, eine alte Ledertasche in der
Hand. Ich komme näher.
Wo will er hin? Dick, im Arbeitsanzug unterm Mantel. Wo wollen Sie
hin?
Hinter seinem Kragen versteckt er das Gesicht. Hier fährt kein Zug
mehr, wo wollen Sie hin? Ach so, hier fährt nichts mehr, sagt er. Jetzt
sehe ich sein Gesicht, Kubrich. Kein Zug mehr, sagt er, nichts? Nein,
sage ich. Nichts.
Ach so.
ENDE
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